Kommentar

kontertext: Neue Blicke auf den Kosmos von Adelheid Duvanel

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Die Schriftstellerin Adelheid Duvanel ist mehrmals verschwunden – und wieder aufgetaucht. Jetzt mit ihrem vielfältigen Nachlass.

Nach dem frühen und elenden Tod von Adelheid Duvanel im Wald bei Basel 1996 war es unter anderen der Literaturwissenschaftler Peter von Matt, der sie entdeckt und ihren posthum erschienenen Erzählungen ein eigenes Land zugewiesen hat: Das «Land Duvanel».

Seine Würdigung ihrer Prosa als «Kunst auf engstem Raum» ist eine gültige Grundlage geworden für die Edition und Rezeption ihrer Erzählungen (Der letzte Frühlingstag 1997). Dann war es lange wieder still um das «Land Duvanel». 2021 gab die Literaturwissenschaftlerin Elsbeth Dangl ihre sämtlichen Erzählungen unter dem Titel Fern von hier heraus, was den Grundstein für eine grössere (Wieder)entdeckung legte.

Die neuste Ausgabe der Zeitschrift Quarto, der Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, wagt nun den Blick in den Nachlass Adelheid Duvanels. Dabei zeigt sich, wie zwingend es geboten ist, Adelheid Duvanel als Schriftstellerin, Kolumnistin und insbesondere als Künstlerin ernst zu nehmen. Hierzu ein Auszug aus meinem Beitrag zur Frage, inwiefern ihre Zeichnungen mehr sind als Ausdruck von Schmerz und Krankheit.

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Abb. 1: Wo ist der Schrecken?, Filzstift auf Papier, 21cm x 29.6 cm (28. 10. 1983)

Zeichnungen lesen? Schrecken ohne Verben

Man «liest» eine Zeichnung grundsätzlich anders als einen Text, denn sie gliedert ihre Elemente nicht in Buchstaben und Worte, sondern zeigt: Designare, dessiner, zeichnen und be‑zeichnen konvergieren auf der Bildfläche als Form, Ereignis und Handlung. Wir sehen Formen und Figuren, bevor wir lesen. Zwar hat Duvanel viel symbolische Motive verwendet, oft auch aus der christlichen Ikonographie, und sie hat Bilder immer wieder beschriftet, um sie lesbar zu machen.

Doch das eigentliche ästhetische Gepräge ist erratisch und folgt formal der Erlaubnis des Surrealismus, die Motive frei der Assoziation zu überlassen. Dieser wurde in den 80er Jahren überall (wieder)entdeckt, gerade auch in Basel, und er führte die Bildkunst weg vom ikono­graphischen Denken zum Ausdruck eines eigenen Imaginären. Viele Zeichnungen Duvanels vermitteln nicht den Eindruck, dass sie gesucht und langsam gefertigt wurden, sie wirken eher wie eine écriture automatique in ihrer expressiven Farbigkeit und Assoziativität, die die Bilder in Unruhe versetzt. Viele bieten einer Szene Platz, die sofort fasziniert. Ein Faszinosum entstammt neben der Farbigkeit dem Gewaltsamen in den Bildern. Es gibt viele Szenen manifester Gewalt, eine Gewalt, die alle menschlichen Figuren aneinanderbindet.

Oft scheinen die Figuren zusammen­geschlossen in einem Kreislauf von Schmerzen und Blockaden, der von ihren Konstellationen, ihren Verbindungen untereinander ausgeht und von der Art, wie diese als Berührungen in der Zeichnung erscheinen. Entsprechend expressiv sind die Hände der Figuren: Sie packen zu und stechen, richten sich wie Messer und Dolche auf den Körper des andern, bohren sich mit spitzen Fingern in den Kopf. Ein Schrecken scheint überall zu lauern; nur die Tiere sind davon nicht betroffen.

Wo aber steckt der Schrecken? Es scheint nicht ganz zufällig, dass Duvanel einer ihrer Zeichnungen diese Frage wörtlich eingeschrieben hat (Abb.1). Die Frage nach dem Schrecken sticht heraus, weil sie selbstreflexiv auf das Problem der Darstellbarkeit in der Zeichnung verweist.

Interessant auch, dass gerade in dieser Zeichnung mit dem nächtlich schwarzen Dreieck im Fensterausschnitt alle Fluchtlinien aus dem Raum der Zeichnung herausführen. Liegt der Schrecken dort, ausserhalb des Bildraums, im Schwarzen? Auf jeden Fall kann die Frage auf die besondere Ästhetik der Zeichnung gerichtet werden – als ein Beispiel für das Erratische, das sich nicht in ein Repräsentationsschema überführen lässt. Sicher sucht man den Angst machenden Ausdruck zuerst in den Gesichtern und insbesondere in den Augen der Figuren. Der Schrecken lässt sich aber nicht so lokalisieren, wie eine andere typische Filzstiftzeichnung zeigt (Abb. 2).

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Abb. 2: o.T., Filzstift auf Papier, 21 x 29.6 cm (23.4. 1985)

Das Fremde der Verfremdung

Die expressive Figurenkonstellation in dieser Zeichnung ohne Titel erinnert sofort an Ikonen – doch an welche? In der Rätselhaftigkeit der Handlung und in den ortlos ornamentierten Farbflächen verweigern sie sich der Identifizierung.

Nichts scheint hier abgebildet oder imitiert. Vielmehr ereignet sich auf dem Papier etwas, was sich zeigt, aber nicht als Bildidee erzählen lässt. Spezifisch für diese Zeichnung heisst das: Etwas lenkt den Blick auf die Szene, etwas beunruhigt, aber da ist kein Zentrum für das Faszinosum.

Im Bild sind mehrere Augen, mehrere Blickwinkel, die den Ausschlag geben: Man blickt in die gekrümmten Körper der Frauen, man blickt auf den festgehaltenen Mann am Boden, der seinerseits auf den Boden blickt, man rutscht mit der roten Katze aus dem Bildraum heraus und fühlt sich fixiert von augenlos schwarzen Kobolden. Oder man bleibt hängen am unwahrscheinlichen Zusammentreffen einer spitzen Nase mit einer weiblichen Brust.

Wo also steckt der Schrecken? Als Affekt und Ausdruck kann er nicht eindeutig lokalisiert werden, erscheint jedoch als Spur, die auf etwas verweist, das sich nicht zeigt, im Sehen aber da ist. Als begriffslose ermöglicht diese Spur, das Befremdende überhaupt wahrzunehmen. Denn die Szene mit dem gekrümmten Mann in den Händen von zwei im Kampf verbundenen Frauen weckt vielleicht Assoziationen an Mänaden oder Amazonenspiele, führt aber an allen bekannten Ikonographien vorbei, einer eigenen Bildspur folgend, in die Fremde der Verfremdung.

Meist findet man in den Zeichnungen ein Wesen, das diese Verfremdung akzentuiert, weil es kaum Teil ist des gewaltsamen Zusammenhangs der Szene. Hier ist es die rote Katze, welche die Szene sogar ins Komische wendet. Dies als weitere Differenz und als Indikator, dass neben dem Schrecken eine Lust sitzt, die genauso schwer lokalisierbar ist und die dennoch unabweisbar im Bild ihr Wesen treibt.

Wirksam wird hier eine Lust, die auch in Duvanels Prosa steckt und den Figuren wildwüchsige Sprachbilder und Sätze entlockt. Man sollte die Texte Duvanels so langsam lesen, wie man ihre Bilder auf sich wirken lässt. Dann entfalten beide das Grundmuster einer ambivalenten Lust vor dem Schrecken, das grosser Kunst immer innewohnt. Insofern ist Duvanel keine Randerscheinung mehr – sie gehört ins Zentrum der Schweizer Literatur und sollte nicht mehr vergessen werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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