Kommentar
kontertext: Lasst die Alten sterben!
Kaum ein Festivalbericht in den Medien – ob aus Locarno oder aus Solothurn, sei’s aus Theatern, Museen oder Konzertsälen – ohne die laute Klage über das rapide alternde Publikum. Fast könnte man meinen, altern sei ansteckend. Und ebenso mantraartig wird von den Schnell- und Kurzdiagnostikern die dramatische Absenz junger Leute im kulturellen Leben behauptet. Steht wegen all dieser Alten der Kultur-Exitus bevor? Manchmal denkt man ob dieser Kassandra-Rufe, man habe einen ganz anderen Anlass besucht. Warum diese Hysterie?
Hysteriker, entspannt euch!
Ja, man sieht viele ältere Besucherinnen und Besucher an Kulturveranstaltungen aller Sparten. Dafür gibt es auch gute Gründe. Und ja, ich bin selber Partei, da ich auch zu diesen Alten gehöre. Aber das bekümmert mich hier kein bisschen. Man darf die Tatsache vieler ergrauter Häupter im Kulturpublikum durchaus entspannt und optimistisch sehen. Ich beschränke mich hier als Beispiel auf die eben zu Ende gegangenen 53. Solothurner Filmtage, ein Highlight im kulturellen Jahreskalender, und werfe dazu zehn kurze Bemerkungen in den Ring:
-
1. Klar, die demographische Entwicklung lässt sich nicht leugnen. Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit sind jetzt in Rente – und meist noch überaus fit und neugierig. Wer wollte das beklagen! Oder plädiert jemand für einen Numerus clausus für kulturaktive Alte?
2. Aus der starken Präsenz der älteren Generation abzuleiten, ein Kulturanlass sei inhaltlich und/oder strukturell veraltet oder gar demenzgefährdet, ist ein böser, arroganter Fehlschluss.
3. Und: Wer die vielen jungen Leute in Solothurn nicht sieht, ist schlicht altersblind. Oder schaut die falschen Filme. Die Senioren sind nur deshalb so sichtlich in der Mehrzahl, weil sie sich eben die ganze Woche Zeit nehmen können. Die mittleren und jüngeren Jahrgänge sind während der Woche am Arbeiten und Studieren. Die schreibende Zunft kommt ja meist nur zur schnellen Stippvisite nach Soleure. Ob sie vielleicht auch etwas neidisch ist auf die so ungeniert filmgeniessenden Alten?
Zivilgesellschaftliches Ereignis erster Güte
-
4. Die Solothurner Filmtage sind ein zivilgesellschaftliches Ereignis erster Güte – mit hohem thematischen Anspruch. Sie sind wahrscheinlich einer der offensten und durchmischtesten Kulturanlässe der Schweiz überhaupt. Jährlich strömen hier in einer knappen Woche um die 65’000 cinéphile Besucher aus der ganzen Schweiz zusammen, auch aus der Romandie und dem Tessin, um sich aus gegen 200 Filmen ihr persönliches Programm auszusuchen. Wer diese Menschen aus allen Altersgruppen und Berufsrichtungen in ihrer Lust, Neugier und Ausdauer je erlebt hat, kann sie dafür nur beglückwünschen.
5. Hier hat sich über die Jahre und Jahrzehnte ein waches und anspruchsvolles Publikum herausgebildet, das generationenübergreifend die Auseinandersetzung sucht, das sich inhaltlich und ästhetisch herausfordern lässt in den Filmen und Gesprächen. Unmöglich in diesen Tagen in Solothurn zu sein und nicht in einer der vielen Beizen, Bars und Cafés in lebhafte kulturelle und gesellschaftliche Diskussionen verwickelt zu werden.
6. Ich habe in diesem Jahr zum Beispiel eine achtzigjährige Dame getroffen, die täglich von Zürich anreiste und mir in stupender Präsenz und Präzision ihre eindrücklichsten Filmerlebnisse schilderte. Es war das Verstörende und Unverständliche, das sie besonders interessierte.
Medien-Klischee: Nur politisch Korrektes
-
7. Selber habe ich dieses Jahr in Solothurn etwa 30 Filme gesehen innert 6 Tagen. Ein einziger war wirklich schlecht, hatte aber einen tollen Titel: «Lasst die Alten sterben». Kaum auszuhalten, auf welch anbiedernd plumpe Art dieser Film auf jung getrimmt war. Jung und Alt verliessen den Saal in Scharen. Auch dies ist ein unverbrüchliches Recht bei Kulturveranstaltungen mit kritischem Publikum.
8. Ein oft kolportiertes Medien-Klischee lautet, Solothurn zeige nichts Kantiges, nur wohlmeinend Eingemittetes und politisch Korrektes. Hier aus der Fülle nur drei Gegenbeispiele: Der ästhetisch höchst eigenwillige Digital-Dschungel-Film «Dene wos guet geit» von Cyril Schäublin, der verrückte und berührende Sterbediskurs in Gregor Freis «Das Leben vor dem Tod» und Ursula Meiers «Ondes de choc – Journal de ma tête». Unbedingt hingehen, wenn die im Kino laufen!
9. Belächelt wird in gewissen Medien oft auch die Grundidee des «Prix de Soleure». In der entsprechenden Satzung heisst es: «Der Wettbewerb ‹Prix de Soleure› ist thematisch ausgerichtet und stellt den Menschen und gesellschaftliche Fragen rund um das Zusammenleben in den Mittelpunkt. (…) Die selektionierten Dokumentar- und Spielfilme überzeugen durch ihren ausgeprägten Humanismus und stellen diesen eindrucksvoll filmisch dar.» Diese humanistische inhaltliche Ausrichtung wird – zumindest in bestimmten Kreisen – nicht selten als «Gutmenschentum» denunziert. Muss man sich jetzt schon für das Einstehen für die Grundwerte des Humanismus rechtfertigen?
Ein Labor für alle Sinne
-
10. Die Solothurner Filmtage sind ein grandioses Labor für alle Sinne, für Erinnerungs- und Zukunftsbilder, für lebendige Austauschfreude auf hohem Niveau. Publikum, Medien und Politik müssen zu diesem Labor Sorge tragen. Es ist, wie alles auf der Welt, verbesserbar. Und in seiner Art unersetzlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kulturfreunde, hört endlich auf mit diesem unbedarften Alten-Bashing. Kultur ist ein Nahrungsmittel für alle. Dass etwas nachwächst, ist nicht so sehr eine Frage des Marketings, der äusserlichen Trendigkeit, sondern vielmehr eine Frage der Haltung. Solothurn lebt – gerade durch seine Auseinandersetzungslust, auch mit dem Misslingenden. Lasst auch die Alten leben – und dann sterben, wenn’s Zeit ist. À la prochaine à Soleure!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die NZZ; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform RettetBasel!; lebt in Basel.
-
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
Dem sagt man „auf den Punkt gebracht“. Und weil das so gut tut, hier noch dies: Mit Koproduktionen (und infolgedessen auch Kofinanzierungen) sowie mit der Verbreitung von Filmen leistet die SRG eine wichtigen Beitrag an die Filmtage. Diesen Support sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Und jetzt?
Weiter denken – No Billag versenken?
Die Frage ist – altersunabhängig -, ob jemand wach ist oder nicht.