Kommentar

kontertext: Herbst, zeitlos – Ozon, Imbach, Godard

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Zwei neue Filme verblüffen mit ihrer Frage nach dem Herbst des Lebens – und des Kinos. Auf sehr unterschiedliche Weise.

Wenn François Ozon den Herbst in den Titel seines neuen Films setzt, stimmt er ein altes Lied an: jenes der Melancholie. Wenn Thomas Imbach seinen «God» Jean-Luc Godard trifft und verabschiedet, ist das Melancholie im fortgeschrittenen Sinn. «Quand vient l’automne» und «Say God Bye» sind wahre Herbstfilme. Während der erste allein durch seinen Titel wohl viele ins Kino zu locken vermag, werden es beim zweiten kleine Publika sein. Was nichts aussagt über die Grösse der Filme. Beide warten mit Bildern und Kompositionen auf, wie sie keine KI je wird liefern können. Beide setzen auf eine Wahrheit des Kinos, die nur ästhetisch zu haben ist.

Ein Märchen

Der Herbst ist einerseits die Zeit der Ernte, andererseits die Zeit der Neige und der Abschiede. Der Herbst des Lebens! Wir wissen instinktiv, wann er begonnen hat. Es geht einher mit dem Einzug ins Reich der Lebensbilanz über das Gelebte und Gepflegte. Und mit der Zeit der Pilze, damit auch ein wenig mit der Ambivalenz von Gift und Glück. Auf all dies setzt der neue Film von Ozon, der im Oktober in Frankreich angelaufen ist.

Man könnte das von Ozon gewählte Genre Märchen oder Krimi nennen, vielleicht ist es ein märchenhafter Krimi. In Kurzkritiken wird er dem Stil Simenons zugeschlagen, was nicht ganz falsch ist, geht es doch um einen Mord und die Frage, ob es immer gut ist, einen Mörder zu stellen. Der Film beginnt im wunderbaren burgundischen Herbstwald, wo zwei alte Frauen, Michelle und Valérie, beide Mütter mit je einem erwachsenen Problemkind, Pilze stechen. Michelle ist die Hauptfigur: Sie bereitet die Pilze liebevoll zu, richtet den Tisch in ihrem einfachen Landhaus und wartet freudig auf die Familie. Alles verspricht eine idyllische Familienszene.

Endlich kommen sie, die Tochter und der Enkel. Dieser soll bleiben für die Ferien, die Tochter lebt in Trennung, will gleich zurück nach Paris und hat für ihre Mutter nur Gehässigkeit übrig. Alles andere als ein Idyll. Als Einzige isst nun die gehässige Tochter vom Pilzgericht, etwas später muss sie ins Spital mit einer Vergiftung. Sie ist überzeugt, die Mutter wollte sie umbringen, sie reist mit dem Sohn ab und beschliesst, jeden Kontakt zur Mutter abzubrechen. Diese ist am Boden zerstört. Wir Zuschauenden wissen: es war ein Unfall und keine Absicht. Der Konflikt ist tiefer. Die Mutter war einst Prostituierte, ihre Tochter verabscheut sie dafür.

Mütter im Herbst des Lebens (pd)

Ein Mord

Die Schicksalsfäden werden weitergesponnen: Es kommt zu einem Mord an der bösen Tochter, der als Unfall getarnt ist. Der Mord ist keine Tragödie, sondern ein Glücksfall für alle: Der Ehemann ist die ungeliebte Frau los, der Enkel kann in der Idylle des Landhauses aufwachsen, die Wohnung in Paris geht zurück in den Besitz der Mutter. Der Mörder, ein junger Mann aus dem Dorf, wird von der Mutter unterstützt und erhält eine neue Lebenschance nach seinem Knastleben. Er wird eine Art Ziehsohn. Soweit die wunderliche Handlung. Der Ausgang sei hier nicht verraten, immerhin ist es ein Krimi, in welchem eine junge Kriminalbeamtin nach der Wahrheit sucht.

Wahrheit und Gerechtigkeit?

Märchen enden oft böse, aber immer befriedigen sie damit den Instinkt der Gerechtigkeit. Genau so auch im Krimi, wo die Frage der Gerechtigkeit gekoppelt ist mit dem Gesetz. Ozon wählt einen anderen Weg. Er stellt die Frage nach der Wahrheit so, wie das Kino sie stellen muss: als ästhetische. Diese hat nichts mit naiver Ästhetik zu tun, wie sie den Märchen nachgesagt wird. Ozon findet die Spannungen im Lebensgefüge der Protagonisten in kleinsten Mimiken und Gesten, in Stimmungen und dem Unausgesprochenen. Das heisst, er überlässt es dem Studium der Kamera, seine Figuren zu erleuchten oder zu verdunkeln, er moduliert das Gerechtig­­keits­­gefühl der Zuschauenden nicht mit sozialen «Lösungen», sondern mit hypnotisch schönen Bildern des Herbstwaldes, in welchem die Protagonistin friedlich stirbt. Sie hat die dunkle Wahrheit ihres Lebens längst erkannt, ohne Gericht.

Balanceakt am Gestade des Genfersees (pd)

Eine Pilgerreise

Auch «Say God Bye» von Thomas Imbach ist eine Reise durch den Herbst, sie führt von Zürich an den Genfersee im Jahr 2021, zum Wohnsitz von Jean-Luc Godard in Rolle. Und sie benutzt die Schweizer Landschaft wie Ozon die französische: malerisch. Eine Pilgerreise, kurz bevor dieser sterben wird, was Imbach nur ahnen konnte. Mit dem Film erfüllt er sich einen Jugendtraum, der ihn durch seine 40 Jahre Filmschaffen begleitet hat: dem «Dieu du cinéma» einmal zu begegnen und ihm zu danken für die lebenslängliche Inspiration.

Der Film ist also Erfüllung eines Traums und die Bilanz eines Kinolebens, das in enger Verbundenheit mit dem Œuvre Godards filmisch aufgerollt wird. Neben Bildern der Reise durch die herbstlichen Jurahöhen, täglichen Exerzitien, witzigen Begegnungen mit Tieren und Menschen, besteht er aus hunderten Fragmenten aus Imbachs und Godards Werk, auch aus frühen Experimenten des jungen Filme­machers aus den Achtzigerjahren. Der Untrennbarkeit von «Liebe Arbeit Kino» hat er sich von Anfang an verschrieben, hat Privates zum Material gemacht, was auch in diesem Film bedeutet, dass Dokumentation und Fiktion, der Film und sein Making-Of nie zu trennen sind, der Regisseur zum Akteur wird, der Film zum Subjekt.

Ein Traum

Ist man als Zuschauende bei Ozon dem Plot ausgeliefert, so taumelt man auf dieser Reise mit den Bildern mit. «Eine rêverie» nennt Imbach seine Obsession, der Welt mit der Kamera zu begegnen. «On est trop vieux, le cinéma va mourir bientôt, très jeune, sans avoir donné ce qui’il aurait pu donner …» schreibt Godard 1981 an Freddy Buache. Die Pilgerreise von Imbachs Team führt an der Cinémathèque suisse in Lausanne vorbei, wo Godards Werk und auch dieser Brief aufbewahrt werden.

Dass das Kino am Sterben war, als Imbach 20-jährig beschloss, ihm sein Leben zu widmen, ist nur eines der selbstreflexiven Momente von «Say God Bye», mit welchen das Ende seiner Filmreise vorbereitet wird. Imbach weiss, dass das grosse Versprechen des Kinos, wie es «JLG» verstanden hat, nie mehr eingelöst werden kann, auch nicht mit diesem seinem Film.

Was er aber an den Schluss setzt, ist von hypnotischer Schönheit und von grosser cineastischer Klugheit. Man sieht eine Begegnung mit dem Altmeister, die zugleich schon als Film gesehen wird, immer schon so konzipiert wurde, kein Gespräch, sondern eine Einstellung, ein Abschied in wenigen verlangsamten Sekunden. Godard auf der Türschwelle, leicht schwankend zwischen Bonjour und Adieu, wird in ein Licht getaucht, von dem man nicht weiss, woher es kommt.

Man mag an Heideggers Ausspruch erinnert sein, dass uns jetzt nur noch ein Gott retten kann. Eine Epiphanie, zu welcher im Film von Imbach keine anderen Worte passen als: Merci oder eben: God Bye. Mit dieser Schwellenbegegnung leistet der Schluss des Films mehr als die Reise verspricht; seine Destination ist, trotz aller Abgesänge: das KINO.

Der Film ist im Oktober/November in ausgewählten Studiokinos zu sehen. Auch Ozons Film läuft seit Oktober in Schweizer Kinos, eine schöne Koinzidenz.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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