Kommentar

kontertext: Fragen aufwerfen

Beat Mazenauer © zvg

Johanna Lier/Beat Mazenauer /  Der Essay hat es im Buchbetrieb schwer. Eine Buchreihe nimmt sich dieser so wunderbaren wie anregenden literarischen Form an.

Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay, führt aktuelle Diskurse und spürt verborgene Themen auf. So stellt sich der kleine Verlag auf seiner Website vor.
Beat Mazenauer, Initiator der Reihe, äussert sich zur Rolle des Essays als literarische und politische Form im Gespräch mit Johanna Lier, die sich kürzlich aus dem Redaktionsteam der Edition verabschiedet hat.

Beat, warum der Essay?

Der Essay ist eine alte Vorliebe von mir. Die Idee war, zusammen mit Leuten aus der Programmierszene handliche, preiswerte Bücher zu publizieren, Arbeitsbücher, die man in die Hand nimmt, liest und gebraucht, die von einem offenen, intellektuellen Gestus geprägt sind, die in aktuelle Diskurse eingreifen, aber auch Fragen und Themen aufwerfen, die nicht modisch sein müssen oder eine breite Aufmerksamkeit bekommen und doch von grosser Relevanz sind.

Im Zentrum steht ja das Anliegen, das Literarische und das Politische zu verbinden…

Die Literatur ist kein weltabgewandtes Medium, sondern hat gesellschaftlich etwas zu sagen. Aus meiner Sicht ist das Beobachten, Wahrnehmen, Denken und Schreiben eine der schönsten Mischungen und bildet die Basis für gute Texte. Beim Essay verbinden sich hohe Erzählkunst mit der Fähigkeit zum Reflektieren. Die Schriftsteller:innen greifen eine Sache auf interessante Weise argumentativ auf, behalten den persönlichen, suchenden, mitunter auch spielerischen Gestus jedoch bei. Im besten Fall entstehen erhellende und überraschende Verknüpfungen in einer künstlerischen Form, die durch die Sprache auf der intellektuellen Ebene agiert.

Welche Bände von essais agités hast du diesbezüglich im Auge?

Ein Beispiel dafür ist der erste Band «Das bessere Leben», in dem es nicht nur um das gute, sondern um das bessere Leben geht. Vier Autor:innen setzten sich auf unterschiedliche Weise damit auseinander, brachten erste Entwürfe in die Runde, diskutierten sie, und schrieben danach weiter. Dieser offene Prozess spielte eine wichtige Rolle. Unter den Autor:innen sollte ebenfalls eine Diskussion über das Schreiben von Essays entstehen; ein Schweifen durch vielfältige Gebiete, aus denen sie ohne Antworten wieder heraustraten.

Ein anderer Band mit dem Titel «Fake News» hatte das Ziel, über den Mainstreamdiskurs hinauszugehen, um zu schauen, was in der herrschenden Diskussion aufgebauscht wird, das polemisch Rechthaberische zurückzunehmen und auf unaufgeregte und präzise Art die Sache zu ergründen und zu fragen, was wirklich stattfindet.

In der Reihe gibt es auch Lyrik- und Erzählbände…

Die Poesie öffnet die Sicht auf andere Aspekte des Essays und lotet ihn neu aus. Diese Ausweitung rückt die Frage nach dem jeweiligen, besonderen Kontext in den Vordergrund. Die schöne und bewegende Gedichtsammlung «Exophonien» der ukrainischen Autorin Halyna Petrosanyak brachten wir im Januar 2022 heraus. Nachdem der Krieg ein Monat später ausgebrochen war, wurde das Buch zum Anlass, um über die Ukraine auf einer anderen Ebene nachzudenken. Ein anderes Beispiel ist «Hüter der Tränen» des ägyptischen Autors Wagdy El Komy. Der surreale Touch in Kombination mit einer realistischen Wahrnehmung erlaubt einen einmaligen Blick auf den ägyptischen Alltag und gibt mir eine Anschauung davon, was einen so interessanten und auch fröhlichen Autor ins schweizerische Asylsystem treibt. Eine Entdeckungsreise in ein überraschendes Feld, die weit über das Literarische hinausgeht.

Neben den vier offiziellen Landessprachen gibt es die fünfte Landessprache – auch «andere Sprachen» genannt. Dazu zählen alle Sprachen von Personen mit einem Wohnsitz in der Schweiz. Wie sind sie bei essais agités vertreten?

Die Idee der Reihe mit Autor:innen, die einen migrantischen Hintergrund haben, wurde von aussen an uns herangetragen; sie lässt sich ebenfalls mit einem erweiterten Verständnis des Essays vereinbaren. Diese Schriftsteller:innen haben in Verlagen, die herkömmlich kalkulieren, kaum Publikationsmöglichkeiten. Und da es zu unserem Konzept gehört, kostengünstig und niederschwellig zu produzieren, passt das in unser Programm. Ich sehe es auch als ein Willkommensgeschenk. Und wenn sich für diese Autor:innen daraus etwas ergibt, ist das natürlich grossartig.

Die Stimmen dieser Autor:innen beeinflussen aber auch die lokale Literaturszene…

Ja, sicher. Mittlerweile gibt es mehrere Projekte, die im Bereich der fünften Landessprache aktiv sind, wie zum Beispiel Weltenliteratur des Vereins Alit, Vielsprachige Schweiz im Zürcher Literaturhaus, Weiter Schreiben Schweiz; und bei der Kulturstiftung Pro Helvetia können sich Autor:innen in allen Sprachen um einen Kreationsbeitrag bewerben. Diese Art der Berücksichtigung wird zunehmen, vor allem in den Bereichen der Anthologien, Festivals, Stipendien und Buchpreise. Das ergibt Kooperationen und Diskussionen, die in die hiesige Literaturszene eingreifen und sie in gewisser Weise infiltrieren.

In diesem Umfeld spielen Übersetzungen eine wesentliche Rolle…

Die Bände der Autor:innen, die in der fünften Landessprache schreiben, erscheinen mitunter zweisprachig. Damit der Austausch und die Durchmischung stattfinden, müssen diese Texte in einer offiziellen Landessprache gelesen und verstanden werden. Im Band «Die Zäsur» beispielsweise, in dem italienisch-, französisch- und deutschsprachige Autor:innen vertreten sind, haben wir uns jedoch für das Prinzip chacun à sa langue entschieden. So bleibt ein italienischer Text halt italienisch, auch wenn ihn gewisse Leser:innen weniger gut lesen können, aber damit müssen wir rechnen. Es handelt sich um eine Art Bestandsaufnahme zu Zeiten der Pandemie und deshalb liessen wir es so stehen.

Welche Rolle spielen digitale Publikationsformen?

Das technische Herz von essais agités ist das rokfor-Layoutprogramm. Das ist ein digitales Tool, mit dem man automatisch Bücher layouten kann. Nachdem Texte geordnet und in eine Datenbank gespeist worden sind, gibt man der Maschine den Befehl, ein Buch im Printformat oder als Webseite zu layouten. Theoretisch könnte man dieses Tool interessierten Autor:innen für kollaboratives Schreiben zur Verfügung stellen. Bisher fehlen jedoch noch zwingende Ideen, für die eine solche Kooperation sinnvoll wäre.

Wie finden die Bände von essais agités ihre Leser:innen?

Die umfangreicheren Bände befinden sich im Vertriebssystem vom Verlag Der gesunde Menschenversand und sind im Buchhandel erhältlich. «Exophonien» von Halyna Petrosanyak beispielsweise ist durch mediale Aufmerksamkeit und viele Lesungen zum Selbstläufer geworden und geniesst eine breite Resonanz. Andere, wie zum Beispiel «Ein paar junge Leute haben es satt zu warten auf das Ende der blossen Vermutung, dass es bessere Formen menschlicher Gemeinschaft gibt», ein literarischer Text über die Genossenschaftsbewegung von Rolf Niederhauser, tun sich eher schwer.

Welchen Band würdest du uns besonders ans Herz legen?

«Rätsel. Wendungen. Fallen.» von Sreten. Ein Buch mit erhellendem und philosophischem Witz, ein grosses intellektuelles Vergnügen. Sreten spielt unter anderem mit der Figur eines fiktiven Philosophen und geht der Frage nach, was zuoberst in der Glückshierarchie steht; eine Frage, die in der Philosophie selten abgehandelt wurde. Das Buch ist anspruchsvoll, man muss sich hineinlesen, und es handelt sich um Themen vom Balkan. Aber ich bin sehr froh, dass wir diesen Text in unserer Reihe haben.

Wie fällt das Redaktionsteam seine Entscheidungen? Und wie finanziert sich essais agités?

Nach einer Phase der chaotischen, rollenden Planung sind wir dabei, ein festes Redaktionsteam aufzubauen, das sich regelmässig trifft, um eingegangene Manuskripte oder eigene Themen und Ideen zu besprechen. Eine grosse Rolle spielt die Frage, wer Lust auf welches Projekt hat und das dann auch in die Hand nimmt. Aber durch die vielfältigen Vernetzungen und Kooperationen kommen auch Impulse von aussen. Die Finanzierung läuft – nebst Einnahmen aus dem Bücherverkauf – über den Verein Alit, Kulturstiftungen und die öffentliche Hand. Natürlich muss man sich immer wieder darum bemühen und Gesuche einreichen. Das Redaktionsteam arbeitet ehrenamtlich, die Autor:innen und Übersetzer:innen bekommen ein Honorar.

Welche Themen stehen an?

Ein Thema, das uns interessiert, könnte unter dem Titel Unser technischer Alltag zusammengefasst werden. Es geht darum, die Frage nach den technologischen Entwicklungen und Herausforderungen witzig und klug zu untersuchen. Der Klimawandel steht auch auf unserer Agenda, allerdings haben wir dafür noch keine sinnvolle Form gefunden. Die Diskussion um die Künstliche Intelligenz drängt sich ebenfalls auf. Wobei mich der Aspekt der Sprache beschäftigt. Heute haben alle ein Sprachtool in der Tasche und können damit eine grammatikalisch weitgehend korrekte, aber schrecklich langweilige Oberfläche erstellen. Interessant in diesem Zusammenhang ist der von Günther Anders geprägte Begriff der prometheischen Scham. Die Scham des Menschen vor der Perfektion, die er selber hergestellt hat. Wird es also sein, dass wir beim Schreiben eines Textes wegen der Scham vor unserer Unzulänglichkeit automatisch auf die KI zurückgreifen, weil wir überzeugt sind, dass sie es besser kann? Das führt zu einem von KI-Texten überfüllten Netz, das nur noch aus sich selbst heraus lernt und diese langweilige Korrektheit zur Norm erhebt. Da braucht es viel Mut, sich zu widersetzen und auf diese Perfektion zu verzichten. Wir würden uns in einem avantgardistischen Gestus wiederfinden, den die Mehrheit der Menschen nicht interessiert.

Welche Publikationen dürfen wir in nächster Zeit erwarten?

An erster Stelle steht eine Sammlung mit Texten über Ruth Schweikert, die dieses Frühjahr verstorben ist. Ruth war für zahlreiche Nachwuchs­schriftsteller:innen, aber auch für essais agités eine wichtige und prägende Impulsgeberin. Und ein Band von Marina Skalova ist in Planung. Ein interessanter, poetischer Versuch, der aus dem Motiv des Fluiden, Flüssigen, dem Flux, das Thema der Migration herausarbeitet und durch dieses Verfahren einen hochpolitischen Text kreiert.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Beat Mazenauer ist freier Autor, Literaturkritiker und Netzwerker und leitender Redaktor der Buchreihe «essais agités». Er lebt in Luzern und Zürich.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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