Kommentar

kontertext: Ein anderer Blick auf die Schweiz

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Der Romancier Martin R. Dean wirft einen postkolonialen Blick auf die Geschichte seiner Familie und unseres Landes.

«Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean ist zunächst ein Mutterbuch, denn der Autor erzählt die Geschichte seiner mutigen und sehnsuchtstarken Mutter. Heranwachsend in der Armut des aargauischen Stumpenlandes, pinnt sie mit dreizehn an die Wand ihres Mädchenzimmers ein Werbeplakat der Swissair, das tropische Palmen und einen goldenen Sandstrand zeigt. Als ihr trotz glänzender Schulnoten der Besuch des Gymnasiums verboten wird,  bricht sie als Au-pair nach London aus, verliebt sich dort in einen Inder aus Trinidad, wird schwanger und folgt ihm auf die Insel. Dort entpuppt sich der goldhäutige Lover als gewalttätiger Säufer. Als er brennende Zigaretten auf der Haut des Kindes ausdrücken will, flieht die Mutter mit dem Sohn. Sie schlägt sich tapfer durch, bis sie mit einem anderen Inder, einem Medizinstudenten, in ihr Wynentaler Dorf zurückkehrt.

Die zwei Gesichter der Mutter

Ein gescheiterter Befreiungsversuch, ein nichtweisser Mann, ein nichtweisses «Bankert» von einem anderen… Man kann sich vorstellen, was das Dorf in den 50er Jahren von der «Ausländerbraut» hielt. Doch der Mann wird ein angesehener, gutverdienender Arzt: geachtet, weil gebraucht, aber als fremder Mensch einsam und unglücklich. Die Frau realisiert ihre Träume vom besseren Leben, indem sie ganz auf Eleganz, Stil, Auftritt und Geldverdienen setzt. Die beiden bauen sich eine Betonvilla mit zehn Zimmern und integrierter Arztpraxis. Ein Bunker. Nach dem Tod des Arztes liiert sich die krebskranke Mutter noch mit Heiri, einem Rassisten und militanten Anhänger der «Schweizer Demokraten». Als janusköpfig empfindet der Erzähler seine Mutter: «Ich glaube, dass meine Mutter zwei Gesichter hatte: eines, mit dem sie mir als Komplizin zulächelte, und eines, mit dem sie mich verraten hat.»

Die Sprengung der Betonvilla

Die Vergangenheit auf Trinidad wird in der Schweizer Betonvilla im Laufe der Jahre verdrängt und tabuisiert. Auch das Kind rebelliert im Primarschulalter voller Scham gegen den Vaternamen Ramkeesoon, und die Mutter erreicht schliesslich «eine einseitige, nach dem hiesigen Gesetz ungültige Scheidung ohne das Einverständnis des Vaters». Der Roman unternimmt es, die erste Lebensphase von Martin und seiner Mutter auf Trinidad zu rekonstruieren, und dieses Unterfangen kommt der Sprengung der Betonvilla gleich. Das explosive Unternehmen beginnt mit dem Tod der Mutter. Der Erzähler wird aus der Erbengemeinschaft ausgeschlossen. «Sie sind wohl nie adoptiert worden», sagt der Willensvollstrecker kalt. Heimlich entwendet der Erzähler, dem man jedes Erinnerungsstück aus dem Erbe der Mutter verweigert, ein Fotoalbum, das ihm nun bestätigt: Es hat mich und meine Zeit im Dschungel von Trinidad wirklich gegeben, das sind nicht nur Bluffereien meiner Mutter. 

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Martin R. Dean: Tabak und Schokolade. Roman, Atlantis 2024

Dean reist schliesslich nach Trinidad – und plötzlich hat er als Vorfahren zwei Grossfamilien. Sie präsentieren sich ihm in grossen Versammlungen und erzählen von toten und lebenden Verwandten aus mehreren Jahrhunderten: Mächtige, angesehene Männer, erbärmliche Versager, selbstbewusste Frauen, unglückliche Opfer – die Fülle der Biographien seiner Vorfahren ist enorm. Schwindel erfasst den plötzlichen Erben. Seine Urgrossmutter war das Kind einer Vergewaltigung. Ein schottischer Aufseher einer karibischen Plantage hatte eine Kontraktarbeiterin gegen ihren Willen geschwängert. «Ich hatte also auch schottisches Blut in meinen Adern». «Von jetzt an bin ich nicht nur der Sohn einer Stumpenfabrikarbeitertocher, sondern auch der Nachfahre von Kontraktarbeitern, die im vorletzten Jahrhundert, abgezehrt und verstört, hier gelandet sind.» Manchmal überkommt ihn ein Glücks- und Zugehörigkeitsgefühl.

Indien, Trinidad und das Wynental

Martin R. Dean weiss die Verheerungen des englischen Kolonialismus und das grenzenlose Elend der Kontraktarbeiter, die aus Indien auf die Plantagen Trinidads verfrachtet wurden, plastisch und unsentimental, anhand konkreter menschlicher Schicksale, darzustellen. In Ergänzung und als Kontrast dazu schildert er auch die Armut, die Entbehrungen und die Demütigungen der Stumpenarbeiter und -arbeiterinnen im Wynental. 

Ein anderer Blick

Seine indische wie seine schweizerische Familiengeschichte interpretiert Dean als ein Kampf um den prekären Status des Weiss-Seins. «Die Briten schenkten dem Inselreich ein sublimes Distinktionsmerkmal: Je hellhäutiger jemand war, desto höher stand er in der gesellschaftlichen Hackordnung». Auch für die Schweizer Geschichte ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweist sich die Weisswäscherei als mächtige Triebfeder. Es ist schliesslich die Zeit der Überfremdungsinitiativen von James Schwarzenbach und der Abschiebedebatten von heute. Stumpenrauchen galt als urschweizerisch, aber die Stumpenfabrikanten machten Reklame mit der Exotik des weithergeholten Tabaks. Die «Tschinggen» mit ihrem Olivenöl waren lange Zeit die Lieblingsobjekte der Fremdenhasser, aber die Südfrüchte galten als Delikatessen und Italien als paradiesischer Urlaubsort. Die Idee eines reinen Schweizertums braucht die Abgrenzung zu einem Anderen, das ständig beschworen, genährt und negiert werden muss. Insofern steht die Betonvilla mit ihrer Anstrengung, das Vorleben der Frau in Trinidad zu verdrängen, für die Igel-Schweiz. Dean zeigt die Schweiz anders: aus der Optik derer, die um Zugehörigkeit kämpfen müssen. 

Vermischung, kreolisch

Nichts, aber auch wirklich gar nichts in diesem Roman ist «rein». Die Mutter hat ein Janusgesicht, das sie dem Erzähler «eingepflanzt» hat «als nie endende Ambivalenz». Der Erzähler hasst den englischen Kolonialismus und begeistert sich für britischen Lifestyle. In der Mischkultur von Trinidad ist es selbstverständlich, «dass die japanischen und koreanischen Autos von ihren afrotrinidadischen Fahrern links gefahren werden,  dass die Inder englischen Tee aus chinesischen Tassen trinken, dass die Schulkinder irische Gedichte lernen, in der Pause amerikanische Getränke schlürfen und am Abend taiwanesische Filme schauen». 

Die einzige gar nicht ambivalente, sondern totale Ablehnung trifft die Idee der Reinheit selbst. Sie ist gewalttätig. Das sei den Rassisten wie den Identitäts-Fanatikern gesagt, die beide die Vermischung von Kulturen verteufeln. 

Wer ist «ich»?

Es liegt nahe anzunehmen, der Ich-Erzähler des Romans sei mit dem Autor identisch. Die Fotos aus dem von der Mutter geerbten Album, die im Buch (leider schlecht) reproduziert sind, beglaubigen das. Und so wurde «Tabak und Schokolade»  in den bisherigen Besprechungen auch rezipiert: Dean erzählt seine Familiengeschichte. 

Und doch heisst das Ding: Roman. Er spielt im Raum zwischen Fakten und Fiktion. Auf beiden Seiten gibt es sicheres Terrain: Es gibt Fakten und es gibt erkennbar fantasierte Geschichten. Dazwischen aber liegt das unsichere Terrain des Erzählens: das Land der Erinnerung und des Unbewussten. Hier ist nicht immer klar, was wirklich war und was eingebildet ist. Ja, mehr noch: Es ist auch nicht immer wichtig, ob etwas erlebt oder erfunden ist, denn das Erfundene kann schliesslich auch erlebt werden. Dean hält mit traumwandlerischer Sicherheit die Balance zwischen der Wirklichkeit, die er respektiert, und einer Imagination, die er braucht.  

Sprachlust

Die Kraftquelle des Romans ist seine bilderreiche und originelle Sprache. Sie bringt die Landschaft des Wynentals zum Blühen und Atmen. Die Tropen flirren und gleissen. Es gibt zu riechen, etwa den «modrigen, staubsatten Geruch» in Grossmutters Wohnung. Es gibt Pointen wie die «grimmige Menschenfreundlichkeit» oder Mutters «zusammengesparte Eleganz», die wie Reichtum aussieht. Es gibt alte Erfahrungen, neu erlebt: «Manchmal bewegen sich Sätze jahrelang wie Fremdkörper unter der Hirnhaut, bevor sie an der Oberfläche aufplatzen.» Und es gibt plastische Bilder: «War der Bäckergeselle wütend, schwoll seine Stirn, wurde breit und hart wie der Pflug bei einem Schneeräumfahrzeug, und er schmiss die Bleche krachend durch die Backstube.» 

Zwei Meisterstücke

Das bewegendste Kapitel des Romans war für mich die Schilderung des Todes der geliebten Grossmutter. Die unsentimentale Präzision der genauen Beobachtung vermittelt die Trauer und den Schreck. Man kann sich an Holbeins Gemälde vom toten Christus erinnert fühlen. 

Nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist mir auch der Gang durch das leere Grosselternhaus: ein Eintauchen in die Kindheit, überzogen mit der Melancholie der Vergänglichkeit. Am Schluss dieser bewundernswerten Miniatur steht der kleine blaue Elefant. Er wurde dem Kind versprochen, und «ich hatte ihn mir so sehr gewünscht, dass ich heimlich Stroh aus dem Kaninchenstall in den Heizungsraum getragen hatte, damit der Elefant (…) sich wohlfühlen konnte.» Wenn man will, kann man den kleinen blauen Elefanten im Schweizer Haus als Symbol einer bunten Eidgenossenschaft begreifen, die mit sich und dem Anderen im Reinen wäre. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

 
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