Kommentar

kontertext: Das Kulturradio ist tot, es lebe das Kulturradio

Christian Heuss ©

Christian Heuss /  Das Gebühren-finanzierte Kulturradio stirbt langsam. Eine Schweizer Audioplattform verspricht ein neuartiges Radioerlebnis.

Über 50 Millionen Franken will SRF bis Ende 2022 aus Radio und Fernsehen ins Internet umlagern. YouTube statt SRF 2 Kultur, Instagram-Stories statt Kulturnotizen. Die SRG investiert in junge Zielgruppen, die den Weg zu Radio und Fernsehen vermeintlich verloren haben. Dafür schrumpfen auf den klassischen Radiokanälen die Redaktionsbudgets, Sendungen und ihre Macher:innen verstummen. Das Geld scheint nicht mehr für alle Angebote zu reichen. Digitale Transformation nennen Medienstrategen diesen Prozess.

Entsprechend leidet das publizistische Service-Public-Angebot in den Radiokanälen: Statt z.B. der von einer Fangemeinde heiss geliebten SRF 3-«Music Specials» für Rock, World oder Reggae oder der Barocksendung «Fiori Musicali» auf SRF 2 Kultur leiern abends weitgehend noch Playlists von Swiss Pop oder Swiss Classics. Etablierte Sendungen wie «52 beste Bücher» oder das Religionsmagazin «Blickpunkt Religion» vermochten auch öffentliche Proteststürme nicht zu retten. Und selbst das SRF 2 Kultur-Flaggschiff «Kontext» hat sein publizistisches Profil durch die digitale Transformation gänzlich verloren. Zurückgeblieben sind frustrierte Hörer:innen, für die ein gepflegtes Radioprogramm mehr war als ein reines Begleitmedium.

Herkömmliche Podcast-Plattformen sind kein Ersatz 

Eine paradoxe Situation: Denn tatsächlich explodieren im Internet derzeit Wort- und Musikangebote auch ohne die SRG. Auf der Apple-Podcast-Plattform finden sich 500’000 aktive Podcasts mit über 18,5 Millionen Folgen in über zehn Sprachen. Auch in der Schweiz ist in den letzten fünf Jahren eine blühende Audioszene entstanden: Polittalks, aufwendige Dokupodcasts, Beziehungskisten, Kunst- und Theaterbesprechungen oder Feature-Produktionen. Unabhängige Audiokreative, ehemalige Radioprofis, aber auch grosse Medienhäuser, Museen, Theater oder Hochschulen entwickeln das Medium Audio weiter mit neuen Erzählformen, aufwendigen Hörproduktionen oder einfachen Talk-Formaten. So überrascht nicht, dass zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren der renommierte Zürcher Radiopreis dieses Jahr nicht an eine SRF-Produktion, sondern an eine Podcastserie der «NZZ am Sonntag» vergeben wurde. Auch eine grosse Zahl an hervorragenden Musiksendern aus fast allen Musikgenres findet sich im Internet: von genossenschaftlich gepflegten Community-Radios über experimentelle Soundlandschaften zu Spartenmusik-Sendern in jeglicher erdenklicher Musikfarbe. Audio liegt im Trend.

Das Problem: Viele Radiohörer:innen finden keinen Zugang zu dieser neuen Audiowelt. Das passende Angebot zu suchen, ist zeitintensiv und technisch komplizierter als das Drücken des Anschaltknopfs auf dem Transistorradio. Die von Algorithmen gesteuerten Playlists auf den grossen Plattformen von Spotify oder Apple favorisieren in erster Linie massentaugliche Sendungen. Special-Interest-Themen gehen unter, viele hervorragende Audioproduktionen von kleinen Schweizer Podcaststudios oder Kulturanbietern bleiben weitgehend ungehört.

Radio neu denken 

Mit Weitblick sah Dominik Born bereits 2010 diese Entwicklung voraus. Als Projektleiter für Innovationen bei der SRG-Tochter tpc baute er zusammen mit dem Programmierer Dominik Stocker das sogenannte DIY-Radio (Do-it-yourself-Radio). Mit einer App konnten sich Hörer:innen ein personalisiertes Radioprogramm zusammenstellen: zur vollen Stunde Nachrichten von SRF, das Musik-Programm von Couleur 3 und zwischendurch die letzte Ausgabe des «Echo der Zeit». Hörer:innen waren nicht mehr gebunden an einen vorgegebenen Programmraster, sondern konnten sich jenes Radio zusammenbauen, das sie wirklich hören wollten. Mit DIY-Radio gewann die SRG 2012 den Prix Europa für eine Innovation im Online-Bereich. Trotz europäischem Erfolg sah die SRG mit dieser Technologie ihr eigenes Vertriebsmodell mit über 17 Radiosendern in Gefahr. Statt auf die innovative Idee zu bauen, verschwand DIY-Radio im Giftschrank.

Einige Radio-Enthusiasten um Dominik Born, der die SRG zwischenzeitlich verlassen hatte, liessen nicht locker und kauften 2018 die Rechte an DIY-Radio und seinem Code für einen symbolischen Preis von einem Franken. Seither tüfteln sie im gemeinnützigen Verein Radiolab am Konzept DIY Radio und haben die Plattform und den Player zum heutigen Sonum.fm umgebaut. Dank finanzieller Unterstützung von Stiftungen und viel persönlichem Engagement konnte Sonum.fm im Frühling 2022 öffentlich lanciert werden. Ein Crowdfunding generierte im April schliesslich über 70’000 Franken, ermöglichte die Entwicklung einer App fürs Handy und rettete für Mitglieder und Fans die Musik-Specials, die früher am Abend auf SRF 3 zu hören gewesen waren.

Wie Radio, einfach besser 

Das Versprechen von Sonum.fm ist einfach. Die App auf dem Computer oder dem Handy soll so einfach zu bedienen sein wie das gute alte Radio, erschliesst aber ein kuratiertes Angebot an relevanten Podcasts, Newsformaten und Musiksendern. Anschalten und in den personalisierten Radiosender eintauchen. So einfach wie Radio, einfach besser.

Benutzen Hörer:innen die App zum ersten Mal, fragt sie die persönlichen Newsbedürfnisse, den Musikgeschmack und thematische Interessen ab. Später lassen sich Themen und Interessen weiter verfeinern. Daraus entsteht ein persönlicher Radiokanal, der News, Podcasts und Radiosender hintereinander reiht. Gefällt ein Beitrag nicht, reicht ein virtueller Knopfdruck und der nächste Programminhalt beginnt. Die App lernt aus diesem Verhalten und erweitert den Kanal regelmässig mit neuen passenden Inhalten. Resultat ist ein Hörerlebnis, das den bekannten Radiogewohnheiten nahekommt, aber immer das hören lässt, was den gewählten Interessen entspricht. Seit Kurzem gibt es Sonum.fm auch als iOS-App fürs Handy. Damit ist die Anbindung ans Autoradio genauso möglich wie die Übertragung auf die Heimanlage. 

Plattform für unabhängige Audioproduzenten 

Sonum.fm ist derzeit ein Experiment und die Wette einer Gruppe von Audioenthusiasten. In einer fragmentierten Medienlandschaft könnte sich Sonum.fm zu einer Community-getragenen Plattform für relevante Audioinhalte entwickeln. Sie erschliesst die Audiowelt im Internet auch für die wachsende Zahl heimatloser und unzufriedener Radiohörer:innen. Dank wachsendem Netzwerk und Kooperationen mit Podcast- und Audioproduzenten soll damit ein einzigartiges Angebot entstehen, das vielfältig, divers, relevant und anders sein soll. Vielleicht ist Sonum.fm diese kleine Chance, einen Service public im Internet zu entwickeln, der von Menschen mit wachen Ohren getragen wird und sich nicht dem Diktat von Medienstrategen unterziehen muss, die Klicks und Quoten erheischen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Christian Heuss ist ehemaliger Radiojournalist, Kommunikationsspezialist und Naturwissenschaftler. Bis 2012 hat er die Wissenschaftsredaktion von Radio SRF geleitet. Heute steuert er beruflich eine medizinische NGO in Luzern mit. Seit Anfang 2022 engagiert er sich im Verein Radiolab, der sich über innovative Audioformen Gedanken macht. Sonum.fm ist ein Projekt des Vereins Radiolab.
 
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

GegenStrom_2_ProDirectFinance_XX_heller

kontertext: Alle Beiträge

kontertext widerspricht Beiträgen anderer Medien aus politischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

6 Meinungen

  • am 12.12.2022 um 11:01 Uhr
    Permalink

    Beim SRF hört man den Spardruck. Aus lauter Nostalgie zu damals, als ich noch jung war, versuche ich es ab und zu trotzdem mit SRF2 Kultur um kurze Zeit später beim Deutschlandfunk, bei Bayern Klassik oder bei Radio France Jazz zu landen. Auch Arte kann man hören. Dem Schweizer Radio geht es wie der Schweizer Maschinenindustrie: Es wird immer weniger. Und die Banken kann man nicht hören.

  • billo
    am 12.12.2022 um 12:20 Uhr
    Permalink

    Eine in grossen Teilen bequem und bünzlig gewordene Schweiz lässt sich mal für mal von einer galoppierenden Rechten dekonstruieren. Es ist hoffnungsvoll, dass neue Konstrukteure in die Bresche springen – aber was hilft eine neue Radiotechnologie, wann die besten Inhalte bereits abgeschafft oder bis zur Unkenntlichkeit simplifiziert worden sind?

  • am 12.12.2022 um 13:25 Uhr
    Permalink

    In meinen Augen ist Radio und Podcast nicht das gleiche und deshalb nur bedingt vergleichbar. Radio lebt von der Aktualität, dem unmittelbaren,der Live Charakter macht den Charme aus. Ein Podcast ist vorprodziert und schon nur deshalb ist viel mehr möglich. Beides hat seine Berechtigung aber sind halt trotzdem verschieden und sprechen andere Vorlieben der Hörerschaft an. Dieses Tool tönt interessant, hoffentlich besteht eine grosse Auswahl/Vorschläge, ansonsten kann es auch als Steuerungselement von grossen Medienhäusern missbraucht werden.

  • am 12.12.2022 um 16:56 Uhr
    Permalink

    Ich stelle betreffend Schweizer Radio SRF dasselbe fest, wie Christian Heuss. Ich habe sonum.fr ausprobiert und finde, dass es vorläufig keinen Ersatz für meinen Handy-Wecker darstellt, der mich auf Kontext, Samstagrundschau, Echo der Zeit etc. aufmerksam macht. Die digitalen Angebote machen mich sowieso halbverrückt, weil sie einem suggerieren, man verpasse irgend etwas. Und zudem: wie werde ich die Flut an newsletter wieder los, die ich beabsichtigt oder unbeabsichtigt bei anerkannten Inhaltsanbietern abonniert habe. Ich muss deswegen mein Leben verlängern lassen! Da dies nicht möglich ist, überlege ich mir ganz seriös: über Bord mit all dem Infotainment, zu Fuss auf die Post, Handy in den Müll. Ich bin überzeugt, dass ich gleichwohl nicht ab von der Welt sein werde. Auch beruflich nicht, denn es braucht schon jetzt viele Pfleger von Elektronikgeschädigten…

  • am 13.12.2022 um 13:58 Uhr
    Permalink

    Ich möchte keine DIY-Radio! Ich brauche keine Bubble! Ich möchte wissen, was das öffentlichrechtliche Radio / was die Politik uns mitzuteilen wünscht. Ich möchte LIVE hören, was am Mittag zu einem Thema erzählt wird und was dann am Abend schon wieder anders tönt – diese Nuanchen sind spannend! Podcasts bringen mir das nicht.
    Schmerzlich vermisse ich viele gute Sendungen, z.B. die einstündige Sendung «52 beste Bücher» und den einstündigen «Kontext». Jetzt warte ich angstvoll darauf, dass «International» abgeschafft wird oder das Wissenschafts-Magazin.
    Daran, dass ich zwischen den für mich guten Sendungen neben Musik auch bei srf2 ein unbedeutendes Geplapper auf die Ohren erhalte, stört mich insbesondere, seit «serafe» mich dazu verknurrt, das auch teuer zu bezahlen . . .

  • am 13.12.2022 um 14:45 Uhr
    Permalink

    Sehr einverstanden mit Artikel und Kommentaren bis jetzt. Das Kulturradio baut immer mehr ab (zum Glück noch nicht das Wissenschaftsmagazin!) und gibt sein Quasimonopol im Äther leichtfertig ab. Denn wenn man schon das Internet, den Mobilfunk oder auch schon die Satelliten bemühen muss, ist SRF nur noch ein «Sender» unter sehr vielen.
    Sonum.fm scheint mir eine witzige Idee, habe es kurz ausprobiert. Aber für mich keine Lösung, da mir immer unwohl ist beim Hören eines Streams. Intuitiv scheint mir ein individueller Stream ein riesiger Luxus. Wer bezahlt alle die nötigen Internet-Ressourcen und wie viel steigt der Stromverbrauch?

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...