Kommentar

kontertext: Als das Töten noch geholfen hat

Guy Krneta* ©

Guy Krneta /  Früher verwünschten manche Schreibende ihre Kritiker. Heute ist Literaturkritik eine gefährdete Art.

Vor vielen Jahren erzählte mir Heinz F. Schafroth von einem Autor, der ihm, dem Literaturkritiker, in einem Roman einen gewaltsamen Tod angedichtet hatte. Offenbar war der Autor von Schafroth publizistisch nicht so behandelt worden, wie jener es als angemessen empfand. Mich befremdete der Vorgang. Wie kommt ein Autor dazu, einem Kritiker den Tod zu wünschen, zumal einem so verdienstvollen Vermittler wie Schafroth es war? Für mich war Schafroth ein Mensch, der mir Literatur zugänglich machte, lange bevor ich ihn persönlich kennen lernte. Ein Verbündeter, ein Mensch, den ich verehrte. Sein Name stand auf Büchern von Günter Eich und Ilse Aichinger.

Das fiktive Umbringen von Kritikern (in dem Fall ist die rein männliche Form, glaube ich, angebracht) hat in der Literatur eine gewisse Tradition. Vermutlich gibt es längst wissenschaftliche Untersuchungen, wann das Motiv zum ersten Mal und wann zum letzten Mal in der Literatur auftaucht. Heute, wo die Literaturkritik ausstirbt wie die Feldlerche, wundern wir uns: Sassen wir denn nicht alle im selben Boot? Liess sich jemals eine klare Linie ziehen zwischen Schreibenden der einen und der anderen Sorte? Und war die Literatur, wie wir sie kennen, nicht seit je untrennbar verbunden mit der Kritik? Gäbe es einen Peter Bichsel ohne einen Marcel Reich-Ranicki? Wurden Neuerungen nicht immer durchgesetzt durch Lob, Verriss und Skandalisierung? Und hatte nicht jede Avantgarde in den letzten zweihundert oder dreihundert Jahren ihre theoretisch beschlagenen Wegbegleiter:innen, die Öffentlichkeit schufen und Brücken schlugen ins breitere Bewusstsein?

Sicher war mit der öffentlichen Kritik immer auch eine Deutungsmacht verbunden, die ihrem Wesen nach ausgrenzte und Wunden schlug. Und selbstverständlich ist der heute vorwiegend männliche Literaturkanon ein Produkt jener vorwiegend männlichen Deutungsmacht. Insofern können wir uns vielleicht freuen, dass die Karten heute neu gemischt werden. Doch werden sie tatsächlich gemischt? Und von wem? Wo?

Das kritische Gegenüber

Der Kulturjournalismus hat einen schweren Stand. Die Vielfalt der Medienanbieter schrumpft, das Feuilleton wird gestrichen. Einem bis zur Unkenntlichkeit ausgeweiteten Kulturbegriff – der «Kochen», «Reisen» und «Leben» umfasst – steht eine stetig wachsende Kunstproduktion gegenüber, die kaum mehr öffentlich reflektiert wird. Für die Künstler:innen ist das verheerend. Sie haben kein kritisches Gegenüber mehr, allenfalls eine «Community», die sie pflegen können. Die Transmission ihrer Werke in eine Gesellschaft, die nicht selber aktiv am Kulturleben teilnimmt, fällt weg. Der Kulturförderung schliesslich in ihrem Versuch, immer objektivere Kriterien zu entwickeln und Qualitätsentscheide zu umgehen, fehlt die dritte Stimme.

Gemäss einer aktuellen Untersuchung (kontertext: Endlich Daten über die Kulturberichterstattung) des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (fög) bleibt die Anzahl Kulturbeiträge in den Tagesmedien konstant. Gegen die rein quantitative Studie lässt sich einiges einwenden – immerhin ist sie die erste ihrer Art! –, klar ist jedoch: Rezensionen nehmen ab, und die wenigen, die es noch gibt, werden von «Kopfblättern» flächendeckend übernommen. Die eigentliche Kritik, welche versucht, ein Werk an seinen eigenen Ansprüchen zu messen, sei beim Publikum unbeliebt, ist von Chefredaktor:innen immer wieder zu hören. Ins Feld geführt werden geringe Klickzahlen im Online-Bereich. Diese sprechen aber vor allem dafür, dass es die social-media-Algorithmen gerne konfliktreich haben. Gibt es tatsächlich kein Publikum mehr für Einordnung, für Auseinandersetzung, für Mehrwissen im Kulturbereich? Das hiesse letztlich auch, dass es bald kein Publikum für Kunst mehr gäbe.

Kunst als Ereignis

Zu beobachten ist, dass der einzelne Text, die Lesung, die kulturelle Veranstaltung medial als Ereignis ausgedient haben. Beachtung finden sie allenfalls noch, wenn sie zu einem grösseren Trend passen und als Beispiel für diesen ins Feld geführt werden können. Oder sie tauchen als Zusatzinformation in Porträts und Interviews mit Künstler:innen auf. Der Stoff triumphiert über Form und Gestaltung, der Kunst wird die Möglichkeit entzogen, mit ihren ureigenen Mitteln das Wort zu ergreifen. Und für die ureigenen Mittel der Kunst fehlt zunehmend die öffentliche Sensibilität. Mit den Rezensionen verschwinden auch die Menschen, die einst in der Lage waren zu rezensieren. Selbst wenn sie schon in der Vergangenheit unter prekären Umständen wirkten.

Eine andere Literaturkritikerin, die ich verehrte, die mir Autor:innen und Lesarten nahebrachte, war Elsbeth Pulver. Mit Heinz Schafroth verband sie unter anderem, dass auch sie von der Arbeit als Kritikerin nicht leben konnte. Sie unterrichteten hauptberuflich. Man kann einwenden, dass das in beiden Fällen ein Glück war und ehemalige Schüler:innen noch heute davon schwärmen, von Schafroth und Pulver mit Literatur «infiziert» worden zu sein. Doch waren Kritiken auch bei den angesehenen Blättern miserabel bezahlt und der Aufwand, solche zu verfassen, hoch: Da reichte es nicht, einen mehrhundertseitigen Roman bloss einmal zu lesen, um ihm später mit wenigen tausend Zeichen «gerecht» zu werden. Von den jüngeren Schreibenden, denen ich später begegnete, jedenfalls ist kaum noch jemand journalistisch tätig.

Die Rezension – eine gefährdete Gattung

Rezensionen sind für die Literatur essentiell: Sie tragen dazu bei, Neues sichtbar werden zu lassen. Sie sorgen für Qualität, in dem sie diese zur Diskussion stellen. Sie stellen das Werk – ausgehend von diesem – in einen grösseren Zusammenhang, verorten es historisch. Sie leisten Erinnerungsarbeit und machen bewusst, dass die Literatur auf eine längere Geschichte zurückblicken kann, in der sie sich immer wieder neu erfindet. Sie tragen dazu bei, dass der einzelne Text, das einzelne Werk zum Ereignis wird, zum Skandalon, was es tatsächlich ist, und provozieren Auseinandersetzung.

Der Medienwandel, der ein Finanzierungswandel und ein Wandel der Formen zugleich ist, birgt Chancen. Doch vermögen weder die älteren (boomenden) Lokalradios noch die neuen Online-Plattformen die weggebrochene Kritik zu ersetzen. Sie versuchen es gar nicht erst. Mit knappen Ressourcen konzentrieren sie sich auf «Community»-Bildung, auf Regionalberichte – und wenn sie Kulturjournalismus betreiben, dann eben gerade nicht mit den bekannten Mitteln der bisherigen «Leitmedien». Diskussionen – zum Teil auf hohem Niveau – finden in Blogs und neuen Gesprächsforen statt, unter Ausschluss einer grösseren Öffentlichkeit. Zunehmend setzen auch Literaturfestivals und Literaturhäuser auf eigene Formate der Online-Vermittlung. Es gibt viel Eigeninitiative und wenig nachhaltige Finanzierung. Was fehlt, ist ein Dach, ein Zusammenhang, eine Verknüpfung, wie es das Feuilleton einst während rund siebzig Jahren bot.

Und die Literatur? Ich warte auf den Roman, in dem eine Literaturkritikerin aus dem Nichts auftaucht, zur mächtigen Instanz wird, mit Umsicht und Sensibilität unbekannten Autor:innen zum Durchbruch und der Literatur als Ganzes wieder zu gesellschaftlicher Bedeutung verhilft.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Guy Krneta, geboren in Bern, lebt als freier Autor in Basel. Er schreibt Theaterstücke und Spoken-Word-Texte. Krneta war Mitinitiant der «Aktion Rettet-Basel». Ausserdem ist er Vorstandsmitglied des Vereins Medienzukunft Basel, welcher die Basler Online-Plattform «Bajour» lanciert hat, sowie der Anlaufstelle Fairmedia. Zuletzt erschien sein Roman «Die Perücke».

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 27.05.2021 um 13:28 Uhr
    Permalink

    Der Autor scheint selbst nicht zu wissen
    woher es kommt, dass so be……

    Die Sicherung der Qualität der Litratur
    — vielleicht ist durchgebrannt sie nur

    Aus Überlast-Kapazität
    durch Quantität
    statt Qualität

    Die Leistung unterschieden wird
    in Schein- und Blind- und Wirk-

    Wenn Schein- und Blind- im Überschuss
    Wirk-Leistung suchen bringt Verdruss

    Drum lahmen wohl die Kritiker
    wie länger schon Politiker

    Wolf Gerlach, Ingenieur

  • am 27.05.2021 um 14:27 Uhr
    Permalink

    Marcel Reich-Ranicki hat vor einigen Jahren einen Text von Martin Walser kritisiert, worauf M W den Text oder das Buch » Tod eines Kritikers» veröffentlicht hat. Martin Walser selbst hat sich einmal abschätzig über seinen Namensvetter, unseren Schweizer Autor Robert Walser geäussert: RW sei ein Esoteriker??

  • am 27.05.2021 um 16:35 Uhr
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    Die Diagnose ist richtig und trifft auch den Musikjournalismus. Lieber macht man heute PR für irgendwelche Entertainer (weil deren Sponsor oft gleich noch das entsprechende Medienhaus ist) und nennt sie Künstler, obwohl Kunst eigentlich dasjenige bezeichnen würde, das nicht nur der Unterhaltung oder der vom PR-Berater kalkulierten Provokation dient. So häufen sich People News wie «B. B. macht in seinem neuen Video einen Roadtrip durch die Schweiz». Auch das SRF fügt sich diesem Trend und behauptet noch frech, es wolle damit die junge Generation an die Marke SRF binden. Dass auch junge Leute Nachrichten mit Bildungswert suchen und es für sie ein Affront ist, wenn sie immer nur mit dem Konsumzwang der Unterhaltungsindustrie konfrontiert werden, kommt den Managern «da oben» nicht in den Sinn. Die neoliberale Cancel Culture setzt auf den Jugendwahn.

  • am 5.06.2021 um 08:08 Uhr
    Permalink

    ‹Früher verwünschten manche Schreibende ihre Kritiker.›
    Früher und heute war und ist ein Schreibender einer der schreibt, egal ob Einkaufsliste oder Weltliteratur. Schriftsteller sind sind ebenso Schreibender wie Lungenatmer.

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