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Fällander Tagebuch 34 © cc

Eine Stunde arbeiten, x Stunden arbeiten lassen

Jürgmeier /  Hohe Löhne garantieren Qualität. So das Gesetz des Marktes. Aber bei den einen hat die Arbeitsstunde der anderen nur zehn Minuten.

19. Dezember 2019

Am 9. Dezember hat mir, dem «sehr geehrten Verleger», die Republik in ihrem «wichtigsten Newsletter seit dem Start» mitgeteilt: «Wir müssen bis Ende März zwei grosse Ziele erreichen: wieder 19’000 Verlegerinnen sein und zusätzlich 2,2 Millionen Franken auftreiben… Wenn wir diese Ziele erreichen, haben wir eine gute Chance, in vernünftiger Frist wirtschaftlich stabil zu sein. Schaffen wir es nicht, werden wir am Nachmittag des 31. März für sämtliche Mitarbeitenden der Republik die Kündigung aussprechen. Und danach das Unternehmen geordnet auflösen.»

Heute lese ich in der Wochenzeitung unter dem Titel «Friss oder stirb?», eine Lohnsenkung als Beitrag der Mitarbeitenden sei «keine Option». Die Republik bezahlt überdurchschnittliche 8000 Franken Einheitslohn. Im Monat. «Wegen dieser Löhne haben wir auch gute Leute hier. Und wir wollen diese Qualität beibehalten.» Erklärt der stellvertretende Chefredaktor Oliver Fuchs. Hat die Wochenzeitung mit einem Einheitslohn von 5400 Franken keine «guten Leute»? Kann die Woz mit der Qualität der Republik nicht mithalten? Die Argumentation klingt wie der neoliberale Verweis auf den Weltmarkt, mit dem die, zugegeben, etwas höheren Millionengehälter und -boni der Chief Executive Officers CEO internationaler Unternehmen legitimiert werden. Der Teuerste ist die Beste. Und ich überlege mir, als Verleger, für einen Moment, ob ich die Entlassung des Republik-Verantwortlichen beantragen soll. Weil der, offensichtlich, für weniger als 8000 keine Qualität mehr liefern würde. (Es wurde dann im Frühling 2020 bei der Republik niemand entlassen.)

Schliesslich war ich immer und grundsätzlich für den Einheitslohn. Und bin es noch immer. Häufig gegen meine eigenen Interessen. Eine Stunde ist eine Stunde ist eine Stunde. Gleiche Wertschätzung, gleiche Anerkennung, gleicher Preis für jeden Tag, den einer oder eine arbeitet. Manchmal sage ich, dass ich das denke, und werde ausgelacht. Ich würde doch nicht ernsthaft glauben, das habe eine realpolitische Chance? Tue ich nicht. Ich kenne das Resultat der 1:12-Initiative. Zum Beispiel. 65 Prozent Nein. Immerhin waren 35 Prozent der Stimmenden in jenem November 2013 der Meinung, das Zwölffache genüge als Lohnspanne – im gleichen Unternehmen. Aber wer generell denselben Lohn fordert, wird in diesen kapitalistischen Verhältnissen zur belächelten Figur.

Nur weil es einem nicht einleuchtet, dass jemand mit seinem Stundenlohn zwölf (oder mehr) andere während einer Stunde für sich chrampfen lassen kann. Dass eine oder einer für eine juristische Beratungsstunde womöglich mehr als zehn Stunden FensterBödenKüchenkästen putzen muss. Sieben Stunden für eine Therapiesitzung. Dass der CEO eines internationalen Konzerns höchstens fünf Minuten Verantwortung tragen muss, um die stündige Taxifahrt zu bezahlen. Die Tourist*innen aus dem reichen Norden sich in Süd und Fernost für ihren Stundenlohn die Früchte tagelanger Arbeit kaufen können. Die Finanzberatung nur zehn Minuten dauert, der Computersupport nach einer knappen Viertelstunde endet, obwohl die Fachperson Pflege dafür eine Stunde Infusionen gelegt, Kissen geschüttelt, Ängste beruhigt, Tabletten verteilt und Rücken eingeseift hat.

Ein Narr, wer das nicht für normal hält. Eine Fantastin, wer sich eine andere Welt vorstellen kann.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Jürgmeiers Fällander Tagebuch

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2 Meinungen

  • am 17.05.2020 um 15:08 Uhr
    Permalink

    Und dann kommen noch die dazu, die arbeiten z.B. ihre Kleinkinder nähren und laufen lernen, ihnen später beim Homescooling beistehen, kranke EhepartnerInnen umsorgen und ausflippende Jugendliche zu beruhigen suchen.
    Sie verdinen 0,0 Franken, haben keine geregelte Arbeitszeit, keinen Ferienanspruch und können sich auch kein Alterskapital äufnen, um dann wenigstens die Ansätze im Pflegeheim bezahlen zu können die anfallen. Sie haben auch keine Lobby und keine Journalisten, die ihre Situation schildern würden. Das interessiert niemanden. Martha Beéry-Artho

  • am 20.05.2020 um 11:16 Uhr
    Permalink

    Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde einigen dieser kapitalistischen Auswüchse deutlich entgegen wirken.

    Und ein paar «Geschichten» müssen anders erzählt werden: Wie brauchen keine Einkommen, sondern Auskommen; wir brauchen nicht Arbeitsplätze mit Mindestlohn, sondern eine garantierte Grundversorgung für alle; usw.

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