Kommentar

Eine Ausstellung verbannt Davidsterne

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Ein Beispiel, wie sich der Antisemitismus immer tiefer in der Gesellschaft einnistet.

Es gibt nicht nur den offen gezeigten Antisemitismus, nicht allein die vermehrten Gewaltakte gegen Jüdinnen und Juden sowie gegen jüdische Institutionen. Manchmal manifestiert sich die antijüdische Stimmung im Stillen, sozusagen hinter den Kulissen, und macht gerade deshalb deutlich, wie tief sich dieser verheerende Ungeist in der Gesellschaft wieder eingenistet hat. Das hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit jüdisch geprägter Kunst und Kultur. 

Der Umgang mit jüdisch geprägtem Kulturschaffen ist nicht selten von Unsicherheit, Ängstlichkeit und Mutlosigkeit geprägt. Das zeigt sich etwa dann, wenn bei einem Kunstwerk zum Gedenken an die Schoa der jüdische Charakter unsichtbar gemacht wird, aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf «Befindlichkeiten».

Für jedes ermordete Kind eine Perle

So geschehen in einer Ausstellung in Unterseen bei Interlaken BE. Unter dem Titel «Brücken bauen» zeigte die Schweizerische Gesellschaft Bildender Künstlerinnen (SGBK) dort jüngst Werke ihrer Mitglieder. Die Berner Künstlerin Eve Stockhammer war mit einem ganz besonderen Werk unter dem Titel «Jiskor – für jedes Kind eine Perle» vertreten. 

Jiskor bedeutet Gedenken, in diesem Fall das Gedenken an die eineinhalb Millionen während der Schoa ermordeten Kinder: für jedes Kind eine kleine Glasperle, zusammengefügt zu einem eindrücklichen Perlenvorhang. Die Kunstinstallation ist in einer einjährigen Kollektivarbeit einer interreligiösen Gruppe mit 25 Freiwilligen entstanden. Zudem wurden sechs handtellergrosse, messinggelbe Davidsterne speziell für dieses Werk hergestellt, die an die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden erinnern sollten.

Davidsterne zu «provokativ»

Zu Gesicht bekommen hat das Publikum diese Sterne allerdings nicht. Kurz vor Eröffnung der Ausstellung teilten die Kuratorinnen der Künstlerin Eve Stockhammer mit, sie müsse die sechs Sterne entfernen. Der Protest der Künstlerin nützte nichts. Die Davidsterne mussten weichen. 

Begründung der Kuratorin Ursula Meier gemäss Eve Stockhammer: Davidsterne wären in der heutigen Zeit zu provokativ, würden als Stellungnahme für Israel im Nahostkonflikt interpretiert. Man habe bereits bei der Konzeption der Ausstellung entschieden, keine politischen Arbeiten zu zeigen, sagte die Kuratorin laut Stockhammer. 

Noch vor Ausstellungsbeginn hätten zudem einige Leute die Symbolik auch politisch gelesen, und das wolle man ernst nehmen. Auch andere Werke mit Symbolen und Verweisen auf die Krimbrücke und den Widerstand der Palästinenser seien zurückgewiesen worden. (Eine direkte Stellungnahme der Kuratorinnen konnte nicht eingeholt werden. Siehe dazu die Box am Schluss dieses Textes.)

Nebst der inhaltlich-politischen Ebene gibt es aber auch noch eine formal-prozedurale. Aus den vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass die Ausstellungsleitung der Künstlerin vorwirft, diese habe bei der Einreichung eine Abbildung und eine Beschreibung ohne die Sterne beigelegt – und davon sei man ausgegangen. Stockhammer habe die Sterne erst am Tag der Einrichtung der Ausstellung befestigt. Das sei nicht in Ordnung, denn es seien die Kuratorinnen, die über die Arbeiten und die Hängung entscheiden. 

Als grosser Davidstern konzipiert

Eve Stockhammer macht geltend, ihr Werk sei ein Work-in-Progress. Bei der Präsentation in Unterseen handle es sich um eine Erstinstallation. Zuvor habe man gar nicht genau gewusst, wie das Werk im Detail aussehe. Zudem sei allen Beteiligten klar gewesen, dass der Davidstern zentral sei für dieses Kunstwerk.

Stockhammer sagt, sie habe bereits bei der Vorstellung des Projektes im November 2023 in Unterseen erläutert, dass der ganze Gedenkvorhang als grosser Davidstern konzipiert sei und sich als solcher an der Decke aufhängen lasse. Aus Platzgründen wurde damals darauf verzichtet und die sechs Teile des Kunstwerks nebeneinander platziert (siehe Bild). Es seien diese sechs kleinen, zurückhaltenden Davidsterne geblieben. Zudem habe sie diese längst vor Abschluss der Einrichtung der Ausstellungsräume gehängt. 

vorhang Unterseen noch besternt
Der Gedenkvorhang von Eve Stockhammer in Unterseen – vor der Entfernung der Davidsterne.

Dies belegen vorliegende Bilder, welche die Kuratorin Ursula Meier sowie ein SGBK-Vorstandsmitglied vor dem besternten Gedenkvorhang zeigen. Man habe danach noch viel Zeit ausschliesslich damit verbracht, das Kunstwerk richtig zu platzieren – die Sterne hingen da schon längst, sagt Stockhammer.

Und gestört hat das offenbar niemanden – bis eben zu jenem bereits oben erwähnten Zeitpunkt, als jemand intervenierte. Die Vermutung liegt nahe, dass der entscheidende Punkt bei dieser Geschichte nicht bei formalen und prozeduralen Aspekten liegt, sondern bei inhaltlichen und politischen. Die Ausstellungsleitung hätte sich hinter die Künstlerin stellen und klarmachen müssen, dass es sich beim Gedenkvorhang und bei den Davidsternen eben gerade nicht um aktuelle Politik handle, sondern um eine Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, darunter 1,5 Millionen Kinder, durch die Nationalsozialisten.

«Sichtbarkeit des Judentums schützen»

Eve Stockhammer war empört über den Entscheid der Kuratorinnen: «Es kann nicht sein, dass ein zentrales Symbol für das Judentum nicht öffentlich gezeigt werden darf. Dieser Eingriff in das Kunstwerk ist keine Banalität. Gerade konfrontiert mit zunehmendem Antisemitismus soll die Sichtbarkeit des Judentums nicht verdeckt, sondern geschützt werden», hält Stockhammer fest. 

Die Kuratorin vermische bei aller Bemühung um Gleichbehandlung und aus Angst zu provozieren Wesentliches: 

«Die Beispiele Krimbrücke und palästinensischer Protest sind wirklich politisch, wie auch das Bild über den Klimaprotest, das trotzdem in der Ausstellung präsent war. Im Gegensatz dazu hat ein Davidstern im vorliegenden Fall keine politische Bedeutung, auch wenn dies von Personen vor Ausstellungseröffnung so ‹gelesen› wurde. Er war und ist das Symbol für das Judentum schlechthin, bereits lange bevor es Israel als Staat und den aktuellen Nahost-Konflikt gab.»

«Es handelt sich um Zensur»

Noch pointierter äussert sich Axel Langer in einer Stellungnahme an die Geschäftsleitung der SGBK. Der Kunsthistoriker und langjährige Museumskurator zeigte sich «schockiert» über die Haltung und die Entscheidung der Kuratorin und hält fest: 

«Mit diesem Verbot hat sie die Autonomie des Kunstwerks und die Integrität der Künstlerin angegriffen. Deutlicher gesagt: Es handelt sich um Zensur.» 

Schockierender aber sei, dass Ursula Meier überhaupt in Betracht ziehe, den Davidstern in diesem Zusammenhang als politisches Symbol zu lesen. 

«Das ist ahistorisch und intellektuell unredlich. Die 1,5 Millionen Kinder waren, wie wir alle wissen, gezwungen, einen gelben Davidstern, von den Nazis als ‹Judenstern› bezeichnet, gut sichtbar auf ihrer Kleidung zu tragen. Die sechs messinggelben Davidsterne symbolisieren somit einerseits das Zwangszeichen der Mörder, zeichnen den Vorhang aber auch als religiöses Memorial aus. Für das mehrschichtige Verständnis des Werkes sind sie also unabdingbar. Die Umdeutung und das Verbot hingegen verhöhnen die ermordeten Kinder im Nachhinein, die ja gerade deswegen sterben mussten, weil sie jüdisch waren.»

Das Kunstwerk zieht weiter

Mit der Entfernung der sechs Davidsterne wurde in der Tat die visuelle Verständnisbrücke des Kunstwerks zum Publikum abgebrochen – ausgerechnet in einer Ausstellung mit dem Titel «Brücken bauen». 

Trotz des «Fehlstarts»: Der Gedenkvorhang hat eine Zukunft. Ab November 2024 wird er in der Berner Synagoge für drei Monate zu Gast sein, natürlich mit den Davidsternen. Für den 2. Februar 2025 ist bereits die Vernissage im Haus der Religionen in Bern geplant, wo er weitere fünf Monate gezeigt werden wird. Laut Eve Stockhammer gibt es zudem mehrere Anfragen, das Werk auszustellen. Über die Entstehung des Kunstwerks ist für den Frühling 2025 ein kurzer Dokumentarfilm in Vorbereitung. Und für das kommende Jahr ist auch ein Buch dazu geplant.

Eve Stockhammer lässt sich durch Gegenwind nicht beirren oder gar einschüchtern. Negative Erfahrungen sind für sie nicht ganz neu. Im November 2023 wurde eine Lesung aus ihrem Buch «Kaddisch zum Gedenken» in Steffisburg abgesagt. Kaddisch ist ein jüdisches Trauergebet für den Seelenfrieden der Verstorbenen. Die Polizei sagte, sie könne die Gefahr eines Anschlags nicht ausschliessen (Infosperber vom 17. September 2023). Und dies auf eine Veranstaltung zu einem Buch, das die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis wachhält, indem es Überlebende und deren Nachkommen zu Wort kommen lässt.

Angesichts solcher Entwicklungen wäre es umso dringender, dass gerade auch die Kulturszene sich etwas mutiger vor das jüdisch geprägte Kulturschaffen stellen würde, statt mit fadenscheinigen Argumenten zu Zensurmassnahmen zu greifen.

Juristische Drohkulisse mit Anwältin

Leider liegt keine direkte Stellungnahme der Ausstellungsleitung vor. Sämtliche an die Kuratorin Ursula Meier gerichteten E-Mails wurden an Ama Mülthaler, Rechtsanwältin und SGBK-Zentralpräsidentin, umgeleitet und von dieser beantwortet. Die Anwältin baute schon prophylaktisch eine juristische Drohkulisse auf und versuchte, die Publikation dieses Artikels im Keim zu ersticken.

Nach mehrmaliger Bitte um ein Gespräch mit der Kuratorin Ursula Meier erklärte sich die Rechtsanwältin bereit, eine «Konferenz» zu organisieren. Thema dürften allerdings nur «die Kriterien der Auswahl der Werke und deren Fassung bei der Einreichung durch die Künstlerinnen» sein. Um sicherzustellen, dass das Gespräch «nicht ins Politische entartet», werde sie, die Rechtsanwältin, ebenfalls anwesend sein. Unter diesen restriktiven und obstruktiven Bedingungen haben wir eine Teilnahme abgelehnt. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Zum Infosperber-Dossier:

WandernderJude

Offene/verdeckte Judenfeindlichkeit

Antijudaismus und Antisemitismus sind eine speziell gegen Juden gerichtete Form von Fremdenfeindlichkeit.

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4 Meinungen

  • am 3.10.2024 um 12:24 Uhr
    Permalink

    Dem Kunsthistoriker Axel Langer ist zuzustimmen, wenn er sagt:
    «Mit diesem Verbot hat sie die Autonomie des Kunstwerks und die Integrität der Künstlerin angegriffen. Deutlicher gesagt: Es handelt sich um Zensur.»

    Die Feigheit und Konfliktscheu der Kuratorinnen ist beschämend.

    Dass Müller-Muralt diese als Beispiel für Antisemitismus anführt, halte ich jedoch für verfehlt.

    Mit dem inzwischen inflationär benutzten Antisemitismusvorwurf setzt sich seit Jahr und Tag der israelische Historiker Moshe Zuckermann auseinander.

    Lesenswert sein Beitrag im Overton-Magazin über «Kunstautonomie und Kunstfreiheit», in dem er sich mit dem Antisemitismusvorwurf gegenüber der Docomenta 2022 auseinander setzt.

  • am 3.10.2024 um 17:07 Uhr
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    Wenn zionistisch-religiöse Institutionen manipulierend und unkorrekt jüdisch, israelisch und zionistisch mit semitisch gleichsetzen und jede Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch verunglimpfen, sollte niemand erstaunt sein, dass «Antisemitismus» in unserer Gesellschaft zunimmt.

  • am 3.10.2024 um 20:12 Uhr
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    Absolut korrekte und legitime Entscheidung der Kuratoren, Kunstwerke mit politischer Botschaft generell auszuklammern. Der Davidstern ist heute das Wappen des Staates Israel, im Kunstwerk scheint durch die Farben blau/weiss sogar noch darauf angespielt zu werden. Skandalös wäre es gewesen, politische Kunstwerke anderer Künstler zu verbieten, dieses jedoch zuzulassen. Diesen mutigen und konsequenten Kuratoren einen angeblichen Antisemitismus zu unterstellen ist meines Erachtens wirklich nicht angebracht.

  • am 4.10.2024 um 07:36 Uhr
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    Leser aus Österreich, daher nicht komplett im Bilde über den Diskussionsstand in der Schweiz.
    Frau Plass hat bereits das Bsp. mit der Documenta 2022 gebracht. Vielen Dank für diese Erinnerung.

    Nehme ich dieses Ereignis und das im Artikel gezeigte, komme ich zum Schluss, dass das sogar eine recht konsequente Entwicklung von cancel culture ist: Es wird sich immer irgendjemand oder irgendeine wegen irgendetwas angegriffen fühlen. Am Ende wird es gegen Alle verwendet.
    Daher wäre es angebracht, dass sich Kurator*innen hinter ihre Künstler stellen, solange diese keine Gesetze damit verletzen (hate-speech Paragraphen sind mMn. nicht ausgereift genug und somit zu restriktiv auslegbar)

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