«Die ungeheuere Mobilisierungskraft der Lieder»
Sie war damals über achtzig und hatte um ein paar Tage Bedenkzeit gebeten, bevor sie in ein Interview vor der Kamera einwilligte. Joan Jara, in Chile Juanita genannt. Geborene Turner, britische und später chilenische Staatsbürgerin, ausgebildete Tanzpädagogin, Frau des Sängers Víctor Jara, der nach dem Pinochet-Putsch 1973 in Santiago ermordet wurde.
Sie wirkte sehr still, strahlte eine gütige Müdigkeit aus, aber – wie sich dann im Gespräch zeigte – das Gegenteil von Teilnahmslosigkeit. Da war eine ruhige und etwas rissige Stimme, die konkret und mit analytischer Klarheit das Chile zu Beginn der siebziger Jahre beschrieb:
«Era tremendamente fuerte el poder movilizador del canto, y como la gente se juntaba a través del canto.»
Die ungeheure Mobilisierungskraft des Gesangs, dieses Phänomen, dass damals eine neue Form des politischen Liedes entstand, welches die Leute im Singen zusammenbrachte. Nicht ein paar Tausend, sondern Hundertausende, die in den grossen Demonstrationen im Zentrum der chilenischen Hauptstadt zusammenströmten.
«Die Lieder machten ihnen Mut (…) Es war, als ob ein ganzes Land mit einem Mal gelernt hätte zu singen.»
La Nueva Canción Latinoamericana
«La nueva canción»: Das war eine kulturelle Bewegung, die ab dem Ende der sechziger Jahre von Chile ausging und ganz Lateinamerika erfasste. Darunter sind Lieder im traditionellen Stil, zu verstehen: die Cueca in Chile, die argentinische Zamba und Chacarera, Yaraví und Huayno im indigenen Hochland oder der mexikanische Corrido. Neu waren aber die Liedtexte: Sie waren dezidiert politisch, aufrüttelnd und revolutionär.
Die linken Volksbewegungen Lateinamerikas waren, wie Juanita Jara es ausdrückte, auf der Suche nach einer verlorenen kulturellen Identität: «Es sollte nicht länger alles von USA, Frankreich oder England importiert werden. Violeta Parra und andere sammelten traditionelle Lieder, die auf dem Land gesungen wurden, bei den Hochzeiten, Beerdigungen, Festen.»
Zentrum und Treffpunkt der neuen Kulturbewegung war die Peña, ein einfaches Lokal, in dem es zu Empanadas, Wein und Mate-Tee musikalische Darbietungen gab. Die Peña der Sängerin Violeta Parra und ihrer Kinder Angel und Isabel war der Anfang, nach und nach entstanden Peñas überall im Land. Jede Universität hatte ihre Peña.
Die in Grossbritannien aufgewachsene Joan Turner war als Schauspielerin und Ballett-Tänzerin mit ihrem Mann, dem chilenischen Choreographen und Tanzpädagogen Patricio Bunster 1954 nach Chile gekommen. Nach dem Scheitern dieser Ehe lernte sie den Theaterregisseur Víctor Jara kennen:
«Víctor war zunächst alles andere als ein professioneller Sänger. Aber wenn er ein paar Stunden im Theater frei hatte, ging er in die Peña und sang. Damals wurde überall Musik gemacht. Mit ein paar alten Deux Chevaux, die in Chile Citronetas heissen, fuhren wir irgendwohin, wo gesungen wurde. Die Gruppe Quilapayún war oft dabei.»
Kein utopischer Sozialismus
Víctor Jara sei kein intellektueller Romantiker eines utopischen Sozialismus gewesen, sagt Joan, sondern ein Mensch wie er bodenständiger nicht hätte sein können. Ein armes Elternhaus im Süden des Landes. Die Mutter verlässt den trinkenden Vater. Sie schlägt sich mit ihren Kindern in Santiago als Marktfrau durch. Víctor ist 15, als seine Mutter stirbt.
Joan Jara schildert, wie Víctor sich engagierte. Er schleppt Zementsäcke und organisiert Transporte von Baumaterial, wenn wieder einmal heftiger Regen die armseligen Casas de cartón hinweggespült hatte. Er kämpft für eine bessere Gesundheitsversorgung in einem Land, in dem Frauen aus armen Quartieren mit 40 keine Zähne mehr haben.
«Víctor entschloss sich, seine Stelle als Theaterdirektor aufzugeben, um die Unidad Popular von Salvador Allende zu unterstützen. Kein leichter Entschluss, denn er verzichtete auf ein sicheres Einkommen. Er zog mit seiner Gitarre durch ganz Chile und sang. Er fand, das Theater sei für eine Elite im Saal bestimmt. Er wollte raus auf die Strassen.»
Joan erzählt, wie sie mitgerissen wurde von der politischen Bewegung jener Tage. Die Universitäten verwandeln sich in Zentren der politischen Arbeit. Studenten organisieren Alphabetisierungs-Kampagnen, ziehen in die entlegensten Dörfer von der Atacama-Wüste im Norden bis nach Feuerland im Süden, um Leuten, die kein Geld für ein Buch haben, Lesen und Schreiben beizubringen.
Radio- und Fernsehsender beginnen zögernd, ihre Studios für Violeta Parra, Víctor Jara und Gruppen wie Inti-Illimani oder Quilapayún zu öffnen. Es ist der Beginn des unaufhaltsamen Aufstiegs der Unidad Popular unter Salvador Allende. Eine Massenbewegung, wie sie für viele politikverdrossene Menschen unserer Tage kaum vorstellbar ist. Nie zuvor hatte eine politische Bewegung sich so unüberhörbar in ihren Liedern zu erkennen gegeben. «No hay revoluciones sin canciones», sagte Allende.
Es wird wohl nie ganz zu klären sein, ob die Revolutionen die Lieder hervorbringen oder umgekehrt. Der Siegeszug der Nueva Canción in Lateinamerika wurde nicht nur getragen vom Zeitgeist der Rebellion jener Jahre, sondern beruhte auch auf ganz materiellen Faktoren: Das kleine Transistor-Radio mit Kassettenrecorder kam auf. Ich habe in den siebziger und achtziger Jahren in Lateinamerika keine Gewerkschaftsversammlung gesehen, keine Uni-Cafeteria, kein Campesino-Zentrum ohne die kleinen Kassettenrecorder, sei es in Peru, in El Salvador oder Nicaragua. Selbst in die entlegensten Dörfer gelangte die Nueva Canción, nicht selten bevor Telefon und Wasserleitungen kamen.
«Schiess nicht, Soldat!»
Víctor Jara wird Galionsfigur der Unidad Popular und kultureller Botschafter der Regierung Allende. Er singt mit der Gruppe Quilapayún in den grossen Kundgebungen auf Santiagos Prachtstrasse Alameda vor Hunderttausenden. Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung, sagt Joan Jara:
«Seine Lieder waren am Anfang autobiographisch, aber dann entwickelte er ein politisches Bewusstsein bis zu dem Moment, wo seine Lieder eine Art epischer Gesang wurden. Denn es hatte etwas Episches, dieser Kampf der Linken, der Studenten und Arbeiter gegen so gewaltige Mächte. Víctor sang, was das chilenische Volk in diesen Momenten erlebte.»
Víctor Jara war kein Pazifist. Er rief zum Widerstand auf, aber sein persönlicher Widerstand war das Wort, das gesungene Wort. Er hat bis zu seinem Tod keine Waffe angerührt und keinen Akt der Gewalt begangen. In einem seiner Lieder heisst es: «Soldat, schiess nicht. Ich weiss, dass deine Hand zittert, wenn du schiesst. Wie viel Leben haben deine Medaillen gekostet? Sag mir, ob das recht ist. Wer gewinnt bei so viel Blutvergiessen?»
Solche Fragen taten weh. Sie lösten Angst, Wut und Empörung aus, aber folglich auch die Solidarität Hunderttausender Menschen. Und sie trafen sogar diejenigen, die dabei waren, in geheimen Depots Waffen zu lagern für den Tag des Militärputschs. Die USA hatten in den sechziger Jahren schon in Guatemala, Brasilien und Bolivien gezeigt, dass sie ein zweites Kuba in ihrem Hinterhof nicht dulden würden. Washington hat später nie einen Hehl daraus gemacht, dass der Sturz Allendes schon lange vor seinem Regierungsantritt beschlossene Sache war.
Víctor Jara war der Opposition und den Rechtsextremen verhasst. Das zeigt, dass seine Lieder ihren Zweck erfüllten. Sie waren gefährlicher als jede Waffe, sagt Joan: «Sein Name stand auf den Listen, er hatte Todesdrohungen bekommen. Wir waren uns völlig im Klaren über das Risiko.»
Víctor Jara wurde bei Beginn des Putsches zusammen mit hunderten Studenten und Professoren in der Universität festgenommen. Eine Woche später, am Morgen des 18. September 1973, erhielt Joan Jara den heimlichen Hinweis, dass ihr toter Mann in der Leichenhalle sein könnte. Sie identifizierte ihn unter hunderten von Toten in einer Atmosphäre des Grauens, während die Militärlastwagen ununterbrochen neue Leichen abluden.
Joan Jara ging nach dem Putsch zurück nach Grossbritannien ins Exil. Sie kehrte erst nach dem Ende der Militärdiktatur nach Chile zurück und nahm ihre politische Tätigkeit als Menschenrechtsaktivistin wieder auf. Der Staat gewährte ihr eine bescheidene Summe als Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Mit dem Geld gründete sie die Stiftung Víctor Jara, die sich unter anderem der Aufarbeitung der Verbrechen widmete. 2009 erhielt sie die chilenische Staatsbürgerschaft.
Joan Jara ist am 12. November gestorben. Unter den Trauergästen, die sich in der von ihr gegründeten Tanzakademie versammelten, war der chilenische Präsident Gabriel Boric. Er würdigte «eine Frau, die ein halbes Jahrhundert lang für Gerechtigkeit gekämpft hat und uns ein bleibendes Vermächtnis in der Kunst und der Verteidigung der Menschenrechte hinterlässt.»
2016 sprach ein Gericht in Miami den ehemaligen chilenischen Leutnant Pedro Barrientos Núñez schuldig, den Sänger Víctor Jara kurz nach dem Putsch im September 1973 ermordet zu haben. Víctor Jara wurde laut forensischem Befund schwer gefoltert und mit 44 Schüssen hingerichtet. Barrientos war Jahre vorher schon in Chile zusammen mit anderen ex-Militärs verurteilt worden und in die USA geflüchtet. Er soll Ende November an Chile ausgeliefert werden. Joan Jara wird es nicht mehr erleben.
Sie sagte 2010 im damaligen Haus der Víctor Jara Stiftung am Ende eines langen Gesprächs: «Víctor war sehr klar in allem, nicht nur in seinen Liedern, sondern auch in dem, was er sagte. Er hatte eine grosse Kraft.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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