Die sexuelle Welt steht kopf. <br/> Noch einmal davongekommen.
15. Dezember 2017
«Wie alle Marxisten hatte Grimm ein total falsches Menschenbild… Sicher, im Umgang mit den einfachen Leuten ähneln Grimm und ich uns. Aber ich habe das richtige Ziel, und er hatte das falsche.» Lässt sich Christoph Blocher im heutigen Tagesanzeiger zitieren. Der von Linus Schöpfer als «Hobbyhistoriker» (Tagesanzeiger) Apostrophierte – was an sich nichts Verwerfliches ist – wird am Berchtoldstag 2018 u.a. über den Schweizer Sozialisten Grimm referieren, sich damit in die hundertjährigen Jubiläumsdebatten über den letzten und vielleicht sogar einzigen Schweizer Generalstreik von 1918 einmischen. Es ist Sache von Historikerinnen oder Grimm-Kennern mit dem SVP-Politiker und Unternehmer – der in einem anderen Leben gerne Geschichte studiert und so «der Schweiz» womöglich einiges erspart hätte, vielleicht hätte sich aber auch ein anderer gefunden – über sein Bild des Mannes zu streiten, der ein halbes Jahrhundert vor ihm während 44 Jahren im Nationalrat sass.
Bemerkenswert ist, wie sich der Chefstratege der Partei (was er zu diesem Zeitpunkt noch offiziell ist), die für sich so gern in Anspruch nimmt, als einzige für «das Volk» (welches Volk?) zu reden, ja, «das Volk» zu sein, von eben diesem «Volk» absetzt. Zu den «einfachen Leuten» will er, trotz notorischen Eliten- und Intellektuellenbashings, denn doch nicht gehören. Mit den «einfachen Leuten» geht ein Schlossherr von Rhäzüns nur um. Ähnlich wie der Marxist Grimm. Unterstellt er. In nur drei Sätzen – und das ist für unsere Gegenwart beziehungsweise Zukunft das Beklemmendere als seine Lesart von Schweizer Geschichte – verdichten sich Blochersche Denkfiguren zur totalitären Anmassung.
«Alle Marxisten», doziert der Mann, der Differenzierung einst eine Form von Denkfaulheit genannt hat, haben dasselbe Menschenbild. «Ein total falsches», urteilt der Wissende, der – im Gegensatz zum Marxisten Grimm – über «das richtige Ziel» verfüge. «Die Netten» würden dessen Vorstellungen womöglich «andere» nennen. Blocher definiert sie als «falsch». Nichts an einem anderen Menschenbild ist für ihn bedenkenswert. Grimms Ziel ist «das falsche», das marxistische Menschenbild «ein total falsches». «Aber ich habe das richtige Ziel.» Ich kenne die Wahrheit und den Weg. So einfach erklärt er «seinem Volk» die Welt. Wie alle Führer. Richtig. Falsch. Das verstehen auch «die einfachen Leute».
Und ich werfe den Unterschriftenbogen der lokalen SVP aufs Altpapier, ohne mich kundig zu machen, ob sie in Sachen Fussgängerunterführung womöglich und ausnahmsweise «richtig», das heisst auf meiner Linie liegt.
20. Dezember 2017
In Schweden, könnte man meinen, wird gerade die Welt, zumindest die sexuelle, auf den Kopf gestellt. «Absurdes neues Sex-Gesetz in Schweden. Handschlag vor jedem Höhepunkt.» Titelt der Blick. Und klagt: «In Schweden braucht es in Zukunft vor jeder Sex-Nummer die offizielle Einwilligung der Partner – selbst bei langjährigen Ehepaaren.» Gestern schon hat die Welt N24 gejammert: «Schweden ist jetzt das unromantischste Land der Welt, gleich hinter Saudi-Arabien und dem Iran.»
Was ist passiert? Schweden führt auf den 1. Juli 2018 ein sogenanntes «Einverständnis-Gesetz» ein. «Alle Parlamentsparteien haben dem Gesetz zugestimmt», empört sich die deutsche Welt und malt die «Hexenjagd in Schweden» an die Wand. Hexen sind in Schweden neuerdings (auch) Männer. Der sozialdemokratische Ministerpräsident und Hexenjäger Stefan Löfven erklärt es in seiner Weihnachtsrede ganz einfach: «Du musst dich bei der Person, mit der du Sex haben willst, erkundigen, ob sie es will. Wenn du dir unsicher bist, musst du es lassen. Sex muss freiwillig sein.» Diese Banalität ist, zum Beispiel, für die Welt N24 eine Ungeheuerlichkeit: «Wer Sex will, muss … zwar nicht die Familie um Einwilligung bitten und die Person zuvor heiraten, wie es die Scharia vorsieht. Erforderlich ist aber ein für beide Seiten deutliches Ja zum Geschlechtsakt. Damit ist die Regel umgekehrt, die bisher galt.»
Das heisst, bisher war erlaubt, wogegen nicht lautstark, mit Händen und Füssen protestiert wurde; Mann (und Frau) konnte sich nehmen, was Mann (oder Frau) wollte und brauchte dafür keine «offizielle Einwilligung». Mit dieser Formulierung suggeriert der Blick, in Schweden müsse das erotische Einverständnis künftig amtlich beglaubigt werden. Die schwedische Botschaft erklärt fürs Ausland, um was es genau geht: «Der Unterschied zur bisherigen Gesetzgebung besteht darin, dass zukünftig jede sexuelle Handlung, die nicht in gegenseitigem Einverständnis geschieht, strafbar wird» (Emma, März/April 2018). Das heisst, wenn ein sexueller Kontakt zur Gerichtssache wird (und nur dann), muss nicht das unmissverständliche «Nein», sondern das eindeutige «Ja» bewiesen werden.
Abgesehen von der Grundsatzfrage, wie weit sich das Zusammenleben von Menschen per Strafrecht befrieden lässt (Bringen Sie Ihren Chef nur nicht um, weil es verboten ist?) – wird da die erotische Welt nicht eher vom Kopf auf die Füsse gestellt? Oder muss ein Juwelier beweisen, er habe die Diebin nachdrücklich genug darauf hingewiesen, dass der Diamantring nicht gratis war? Und wenn jetzt Romantik- und Leidenschaftsverlust beklagt wird – welche Romantik, welche Leidenschaft geht da verloren? Die Sexualität, die Grenzen überschreitet? Wessen Grenzen? Können die Leidenschaftlichen tatsächlich nicht mehr «Ja» oder «Nein» buchstabieren?
Wer nicht mehr an sich halten kann, wenn das Einverständnis zur (gesetzlich verbrieften) Selbstverständlichkeit wird; wer beklagt, jetzt müsse «derjenige, der den Sexualkontakt wünscht, zuvor um Erlaubnis fragen» (Welt N24), macht sich selbst zum erotischen Analphabeten. Sexuelle Dilettantinnen aber dürfen sich nicht wundern, wenn sie von der schwedischen Feministin Ida Östensson belehrt werden: «Wenn du nicht weisst, wie Zustimmung aussieht oder was ein Ja-Signal ist, dann würde ich dir ernsthaft raten, ein Blatt Papier und einen Stift mitzunehmen und nach einer Unterschrift zu fragen.» Denn, so die Dozentin zum Thema Gleichstellung von Männern und Frauen ganz konkret: «Nur weil ich meine Hose ausziehe, heisst das nicht, dass ich einen Penis in meinem Arsch will. Vielleicht will ich ja auch einfach nur die Hand des anderen auf meinem Körper spüren» (www.bento.de). Was das erotische Einmaleins betrifft, braucht es vermutlich noch da und dort etwas Nachhilfe – «selbst bei langjährigen Ehepaaren» (Blick).
31. Dezember 2017 – Jahresbilanz
Kein früher Kindstod
Hindert den Enkel
Am Zählen von Autos.
Keine der Töchter
Aus Liebeskummer
Dem Alkohol verfallen.
Keine Diagnose
Droht mit baldigem
Tod der Geliebten.
Das Ersparte
Nicht im grossen
Kasino verbrannt.
Noch einmal Schnee.
Wie in Kindertagen.
Den erinnerten.
KinderKüheArme schlagen
Wieder nicht zurück.
Wissen nicht um ihre Kraft.
Täglich drehen wir uns,
Begeistert oder ängstlich,
Wolken und Sonnen zu.
Kein Krieg, kein GAU, kein BigBang
Beendet die Gemütlichkeit.
Der Tod grüsst nur von ferne.
Mit Berühmtheiten aus TV,
Film, Sport, Kunst und Politik.
Mit denen wir alt geworden.
Auch die
Endabrechnung
Eigener Endlichkeiten
– Aufgeschoben.
Ich bin.
Wir sind.
Noch einmal.
Sie sind es nicht.
Davongekommen.
4. Januar 2018
Gestern Abend, nach der von mir geleiteten Gesprächs- und Selbsterfahrungsgruppe für Männer – «Unter Männern zum Menschen werden» – von einer jungen Prostituierten angesprochen. Einer Thailänderin. Einer Chinesin. Oder so. Weshalb sie kulturell einordnen? «Was wollen Sie?» Frage ich unfreundlich. Auch wenn ich ihre deutschen Brocken im Lärm der Langstrasse tatsächlich nicht verstehe, mir ist klar, was sie will. Muss. Hier werde ich regelmässig als potenzieller Freier angesprochen. Bei mir kostet es tausend. Würde ich jeweils gerne zur Antwort geben. Aber aus Angst vor einem plötzlich aus einem dunklen Hinterhof auftauchenden Zuhälter bin ich bisher immer vor dieser eitlen Respektlosigkeit zurückgeschreckt. Seit einiger Zeit meide ich den Weg durch das sogenannte «Bermudadreieck», überquere den vertrauten Helvetiaplatz, vorbei an der Volkshaus-Buchhandlung und der Sankt-Jakobs-Kirche erreiche ich so, unbelästigt, das Tram am Stauffacher.
Sie aber steht direkt auf dem Trottoir vor dem mannebüro züri, berührt ungefragt meinen Arm und murmelt so etwas wie «Massage». Einen Bachelor in Physiotherapie wird sie kaum haben. Ich schüttle ihre Hand ab, schleudere ihr ein «Glauben Sie im Ernst, ich würde dafür bezahlen!» ins verständnislose Gesicht und eile wütend Richtung Kanzlei. Mein Bauch brummt «Übergriff», mein Kopf ist beleidigt, dass sie nicht sieht, dass ich «keiner von diesen Männern» bin. Wie sieht «so einer», so ein Bedürftiger aus?
Ab und zu habe ich die professionelle Anmache auch schon mal mit einem freundlichen «Schönen Abend» beantwortet, aber meist bringt sie mich in ein unerwünschtes Dilemma. Zum einen fühle ich mich belästigt, durch die Unterstellung gekränkt, mir fielen Erotik und Leidenschaft nicht zu, ohne dass ich das Portemonnaie zückte. Zum anderen sehe ich mich als privilegierten Herrn, der die womöglich nur für ein paar Wochen in die Schweiz Gekarrte, die zur Prostitution Genötigte aus anderen sozialen und kulturellen Verhältnissen ungehalten abweist. Ein entspanntes Gespräch jenseits des Geschäfts – das ich für alle Beteiligten als demütigend empfinde – ist aus sprachlichen Gründen kaum möglich. Oder würde sie mir erzählen, wovon sie träumt, sich dafür interessieren, was ich in diesem Quartier am späteren Abend mache? Da, wo sie sich, vermutlich, schnelles Geld gegen schnellen Sex für sich und ihre Kinder in einem anderen Land erhofft? Wo sie im Allgemeinen mit Freiern und Zuhältern zu tun hat, die in ihr vermutlich nur «Frischfleisch» sehen? Sie gehört offensichtlich nicht zu jenen gut bezahlten Callgirls, mit denen «die Männer» nur reden wollen.
Wie das Dilemma lösen? Mich «bedienen» lassen, ihr damit zu bescheidenem Verdienst verhelfen und ihr Männerbild bestätigen? Ihr das Geld (wieviel?) in die Hand drücken, die Gegenleistung zurückweisen und sie damit zur Bettlerin machen? Mit ihr ein Gespräch über Bäume beginnen, mit Händen und Füssen? Ihr die Adresse der Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration FIZ in die Hand drücken?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Jürgmeier wirft Chr. Blocher «notorischen Eliten- und Intellektuellenbashing» vor. Sein unentwegtes SVP- und Blocherbashing ist mehr als «notorisch», nämlich mit der zeit schlicht langweilig. Keine anderen Probleme mehr?
Dafür ist Jürgmeier im Bermuda-Dreieck «keiner der Männer», die sich üblicherweise dort aufhalten. Wie edel und rein! Wir sind gerührt.