Die graue Damenstrumpfhose oder der Futterneid
17. Februar 2019
Mitten auf der Strasse liegt sie. In Zermatt. Als ich von Winkelmatten ins Dorf eile. Um Brot zu holen. Unterhalb der Kapelle zur Heiligen Familie, vor dem Restaurant Waldhaus liegt eine graue Damenstrumpfhose im Kies. Einen Tag nach der Fasnacht. Und weckt Fantasien. Soll ich sie aufheben, an den nächsten Zaun hängen oder in einen Abfallcontainer werfen? Im Restaurant, in der Kapelle oder im Fundbüro abgeben? Ich verwerfe diese Gedanken. Aus Angst, die Strumpfhose könnte Spuren auf meinen Fingern hinterlassen und ich müsste später Fragen beantworten. Als wäre ich in einen Dienstagskrimi geraten.
Warum ich diesen Weg ins Dorf genommen statt den unteren, den kürzeren? Am Suitenhotel Zurbriggen und der Talstation des Matterhorn-Express vorbei? Die Mattervispa entlang. Warum ich um diese Zeit noch nicht auf den Skis gestanden? Bei diesem Wetter? Ob ich kein Geld für den Skipass hätte? Was ich dann hier wolle? Wo ich am 17. Februar 2009, vor genau zehn Jahren, gewesen? Auch in Zermatt? Damals habe eine gleiche Damenstrumpfhose bei der Bergstube, ebenfalls in Winkelmatten, im Schnee gelegen. Früher hätten sie die Strassen noch nicht schwarzgeräumt. Entnimmt der Dorfpolizist den digitalisierten Akten und schaut mich misstrauisch an. Ob ich ernsthaft behaupten wolle, eine Frau habe gestern Nacht ihre Strumpfhose, mitten auf der Strasse und zum Vergnügen, ausgezogen und sei, nach dem Vergnügen, mit blutten Beinen nach Hause gegangen? Bei minus zehn Grad? Und warum habe keiner der Touristen, keine der Kirchgängerinnen, die vor mir am Waldhaus vorbeigekommen, sie aufgehoben? Erst ich. Erst um halb zehn Uhr morgens. Vielleicht sei ja alles ganz anders, als ich ihm erzähle.
So stelle ich mir das vor und lasse die Strumpfhose, wie alle anderen vor mir, auf der Staldenstrasse liegen. Womöglich ist die Geschichte, die an ihr hängt, ja ganz banal. Kein Mord. Keine Gewalt. Nicht einmal Sex. Nur ein Windstoss, ein kleiner – die Bahnen fahren an diesem Tag durchgehend –, der sie beim Restaurant Suite Sonnmatten vom Stewi gerissen und bis zur Konkurrenz hinuntergetragen. Eine Skilehrerin, die ihre Gäste nicht mit schwarzen Händen begrüssen wollte und deshalb, kurz entschlossen, die Strumpfhose von den Beinen rollte, um mit ihr die herausgesprungene Fahrradkette wieder über Ritzel und Kettenblatt zu zerren. Ein Hobbyräuber ohne praktische Erfahrungen, der sich, weil’s ihm zu heiss geworden, die Strumpfhose vom Kopf gerissen und sich, im letzten Moment, entschieden, sein Geld doch weiterhin auf ehrliche Weise zu verdienen – in einer Bank. Eine Frau, die sich wegen einer Fallmasche ein Paar neue Strumpfhosen angezogen und das alte achtlos auf die Strasse geworfen oder auf dem Flyer der Guggemusig Horeschränzer gesehen hat, dass an der «Bad Taste Party» ab 21.00h Verkleidete und leicht Bekleidete willkommen seien. Hat sie ihre Beine von Polyamid befreit, um nicht overdressed in der Triftbachhalle anzukommen?
18. Februar 2019
Auch am Pistenrand, in Beizen und Berghütten, reden Leute. Reden mit geheizten Skischuhen über Gott und die Welt. Können belauscht und beobachtet werden. «Gestern», erzählt die junge Frau, die auch uns bedient, einem Paar am Nebentisch, habe sie einem Gast gesagt, die Sonne gehe kurz nach vier, um viertel nach, unter. «Dann hat der sich beschwert.» Ärgert sie sich. Weil er mit seinem eingecremten Kopf schon zehn Minuten früher im Schatten sass. Jetzt legt sie sich nicht mehr fest. Die Erde dreht sich, auch während der Ferien, wie sie will.
S. macht mich darauf aufmerksam, dass Leute an einem anderen Tisch einen grossen Teil ihres Essens zurückgeben. «Die haben einfach zu viel Geld.» Unterstelle ich. S. entrüstet sich, die würden nur das Fleisch essen, aber den Salat nicht. «Nichts Gesundes!» Ich erinnere mich an meine Kindheit – da bestellten Verwandte bei diesen seltenen Familientreffen im Restaurant ganze Menus, liessen dann halbvolle Platten und Teller stehen. Ich habe, als einziges Kind am Tisch, alles Fleisch aufgegessen. Weil Fleisch so teuer war und nicht täglich auf den Teller kam. Habe alle Gläser, ausser die mit Wein, ausgetrunken. Weil alles bezahlt war. Inzwischen leiste auch ich es mir, vorzeitig aus dem Kino zu laufen (wenn mir der Streifen nicht gefällt) oder den Rest des bezahlten Mineralwassers stehen zu lassen (weil ich Angst habe, ich müsste während des Films zur Toilette).
«Die würden besser für etwas demonstrieren, das wichtig ist; nicht für das, was man nicht ändern kann.» Sagt der Mann – der nickend Verständnis für die verärgerte Bedienung signalisiert hat – zu der Frau, die er vermutlich «meine» nennen würde. Sagt es mit Unterton. Meint die «Klimajugendlichen». Was wichtig ist, verrät er nicht. Heute sei ja alles aus Plastik. Beklagt er. Ganz anders als früher. «Und jetzt – überall Plastik!» Seine Augen verbirgt er hinter einer roten Sonnenbrille. «Das könnte man alles ändern, wenn man wollte. Aber der politische Wille fehlt, nur reden und demonstrieren!» Ist er nicht am politischen Willen beteiligt?
«Lang, lang ist’s her», seufzt ein Mann – der auch schon älter ist als die meisten, die ihm entgegenkommen, wenn er in den Zug steigt – und schaut wehmütig Richtung Grautor. Die Mutter habe die Berge geliebt, erzählt er seinem Kollegen. Mehr als den Vater. Das sagt er nicht. «Aber es gibt ein Wiedersehen im Himmel. Es kann ja nicht sein, dass einfach alles fertig ist.» Hofft er. «Oder wie siehst du das?» Der Kollege stutzt. Murmelt dann: «Ja, wenn man gläubig ist.» Dann mutet der Höfliche dem Sohn der toten Mutter doch noch leisen Widerspruch zu: «Aber wahrscheinlich nützt’s nichts.»
21. Februar 2019
«Wo bleibt die Reue?» Steht auf der Frontseite der neusten Zeit, die ich im Bahnhofkiosk am Fuss des Matterhorns kaufe. «Ist das alles?» Fragt die junge Verkäuferin. Deutet dann auf den Titel zum Artikel mit dem Lead «Erstmals berät der Vatikan über den Missbrauchsskandal. Um Schuld und Sühne tobt ein Machtkampf. Vom Ausgang hängt die Glaubwürdigkeit der Kirche ab.» Sagt: «Es gibt keine Reue.» Reue bedeutet (auch) Eingeständnis. Niemand bereue. Fährt sie fort. Sie wisse das. Ich frage nicht nach. Und bereue es hinterher. Hätte sie weitergeredet, wenn die nächste Kundin ihr das abgezählte Geld für die Landliebe entgegenstreckt? Traue ich ihr keine vertiefenderen Reflexionen zu? Oder will ich S. mit dem heissen Kaffee nicht zu lange auf den frischen Zopf warten lassen?
23. Februar 2019
In unserem kleinen COOP erkundigen sich mehrere Leute, ob die Tulpen wirklich zum halben Preis verkauft würden. «Ja», sagt die Frau an der Kasse. «Dann nehmen wir gleich zwei.» Freut sich ein Paar. Fünf Franken, zum Beispiel, entscheiden über ein Stück Frühling zu Hause. Ich weiss nicht einmal mehr den Preis. Weil ich nicht darauf schauen würde, wenn ich Blumen kaufen wollte. Soviel Geld ist, dass ich, vorläufig, nicht darüber reden muss. Und an diesem Wochenende feiert ein indisches Paar in St. Moritz mit «850 Gästen und 500 eigens angereisten Bediensteten» (Tages-Anzeiger, 23.2.2019) eine «Pre-Wedding-Party». Zahlen zu den Kosten beziehungsweise «zur erwarteten Wertschöpfung für die Betriebe in St. Moritz» sind ebenso geheim wie die Gästeliste. Die Hochzeit der Zwillingsschwester des Bräutigams «in der westindischen Stadt Udaipur» im Dezember, inklusive Verköstigung von «5100 bedürftigen Menschen», soll den Brautvater rund hundert Millionen Dollar gekostet haben. In St. Moritz wird’s etwas billiger werden. Weil’s ja nur die «gemeinsame Bachelor-Party» (www.blick.ch, 23.2.2019) des Brautpaars in spe ist. Kritik an diesem «Mega-Fest» kontert der neue Gemeindepräsident von St. Moritz, Christian Jogg Jenny, mit einem «immer dieser Futterneid!» (www.blick.ch). Wo ist die Kritik der Neidkultur, wenn schlecht bezahlte Schweizer Arbeiter gegen Sozialhilfeempfängerinnen, Flüchtlinge und andere Migranten aufgehetzt werden? Die den gewöhnlichen Steuerzahlerinnen das Geld aus der Tasche ziehen würden. Diese Wochenend-Migranten aber lassen es im Engadiner «Nobel-Skiort» (Blick) liegen. Das Geld. Für den einfachen Mann und die ebenso einfache Frau von der Strasse.
5. März 2019
Wieder einmal stirbt ein Mensch, und niemandem fällt es auf. Das ist traurig, aber (für ihn) nicht wirklich schlimm. Bitter ist, dass ihn keine und keiner bemerkt hat, als er noch lebte. Weil er früh lernte, sich so zu verhalten, als ob er nicht da wäre.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine