Der Islamist ein Spekulant, der Unsterbliche tot
16. April 2017
Wieder einmal Ostersonntag. Ein flüchtiger Gedanke an den Freund, der 1979, gerade mal 28-jährig, starb, statt Eier zu suchen. Längst Asche war, als die sogenannte Zürcher Bewegung erfolglos «Freie Sicht aufs Mittelmeer» und «Keine Macht für niemand» forderte. Nicht mitfeierte, als, endlich und explizit, gleiche Rechte für Mann und Frau in der schweizerischen Bundesverfassung verankert wurden. Die Wahl und den (erzwungenen) Rücktritt der ersten Bundesrätin, Elisabeth Kopp, verpasste. Der nicht mehr erlebte, wie Tessiner Wildschweinfleisch wegen Tschernobyl radioaktiv verseucht wurde, die Mauer, dann die Sowjetunion (zer)fiel, in Srebrenica mehr als 8000 Bosniaken ermordet wurden, die britische Bevölkerung den Brexit beschloss und ein Trumpel US-amerikanischer Präsident wurde.
Ostersonntag – das ist auch die Erinnerung an jene wiederkehrenden Momente, in denen ich mit traurigem Herzen eine Kirche betrete und sie mit Wut im Bauch wieder verlasse. Kurz nachdem mein Freund am wichtigsten Tag der Christenheit den letzten Atemzug getan, dankte der Pfarrer in einem aargauischen Kaff dem Herrn, der nicht meiner war und ist, dafür, dass da einer am Tag der Auferstehung sterben durfte. Er wusste nicht, dass der Gefeierte seine letzte Mission nicht erfüllt hatte, die ihm, bereits auf dem Sterbebett, ein Kollege des Aargauer Geistlichen in einem Zürcher Stadtspital auferlegt – die vom Glauben abgefallene Freundin für die reformierte Kirche zurückzugewinnen. Immerhin wäre es dabei um die Bekehrung einer Erwachsenen gegangen. Andere machen schon aus Babys Gläubige.
«Ich denke, in politischen Fragen ist es einmal wichtig, dass jemand eine politische Identität mitbekommt, er kann dann nachher immer noch in seinem Leben so leben, wie er will …, aber es gibt ihm mal eine grundsätzliche Zugehörigkeit, aufgrund der er auch andere Ideen haben kann.» Begründet Michel Bollag, Fachreferent für Judentum am Institut für interreligiösen Dialog, die ungefragte Beschneidung von Knaben an der Rundschau-Theke am 5. April 2017. Ein ausgetauschtes Wort, und der Aufschrei «ideologischer Kindsmissbrauch» wäre garantiert. Natürlich hat Bollag nicht «politisch», sondern «religiös» gesagt. In spirituellen Zusammenhängen scheint es vielen ganz selbstverständlich, dass die Kleinen, lange bevor sie das ABC beherrschen, in irgendwelche kirchlichen Mitgliederlisten eingeschrieben werden. «Er kann dann nachher immer noch in seinem Leben so leben, wie er will.» Nur, beschnitten ist der Knabe dann schon. Im Gegensatz zur Genitalverstümmelung bei Mädchen ist die Beschneidung von männlichen Säuglingen nicht verboten und wurde 2012 von der Rechtskommission der eidgenössischen Räte als «grundsätzlich nicht … problematisch» eingestuft. Männer, auch kleine, sind keine Opfer.
Wieso sammelt das Egerkinger Komitee keine Unterschriften gegen die sowohl im Islam als auch im Judentum übliche Knabenbeschneidung? Die, hierzulande, dem vermutlich schreienden, sicher wehrlosen Kleinkind weit häufiger und offensichtlicher aufgezwungen wird als vereinzelten muslimischen Frauen das Tragen der Burka oder des Niqab? Die vom emeritierten Strafrechtsprofessor Martin Killias in der gleichen Rundschau als «Körperverletzung» und Verstoss gegen die Menschenrechte bezeichnet wird. Weil das über den symbolischen Kampf gegen den (politischen) Islam hinausginge?
Warum nicht gegen die Kindstaufe, die Augustinus, so ist es auf Wikipedia nachzulesen, als «besonders empfehlenswert» bezeichnet habe. «Weil das unmündige Kind der heiligen Handlung noch keine widersetzlichen Gedanken entgegensetzen könne.» Das mit dem Minarettverbot so erfolgreiche Grüppli hat offensichtlich Angst vor den vereinten Kräften aller Religionen und vor dem Egerkinger Gemeinderat. Der sähe bei einem derart religionsfeindlichen Vorstoss den «internationalen Ruf» des knapp 3500-Seelen-Dorfes garantiert so sehr in den Schmutz gezogen, dass er bis vors Bundesgericht ginge, um dem am Jurasüdfuss – da wo sich die A1 und A2 kreuzen – gegründeten Kampftrupp die werbeträchtige Verwendung des Namens des idealen Treffpunkts für Sitzungen (NZZ, 1.10.2015) doch noch verbieten zu lassen.
22. April 2017
Der Anschlag auf einen Mannschaftsbus – zu dem anfänglich islamistische, links- und rechtsextreme Bekennerschreiben in Umlauf gebracht wurden – erweist sich am (vorläufigen) Ende als ökonomisch motivierte Aktion eines Spekulanten, der auf fallende Aktienkurse des Fussballclubs Borussia Dortmund gewettet hat (NZZ, 22.4.). In den letzten Apriltagen wird sich ein in Bayern anerkannter Asylbewerber als Bundeswehroffizier entpuppen, der – wie sich später erweisen wird – mit Komplizen ein terroristisches Attentat «auf das Leben hochrangiger Politiker» (taz, 10.5.) plante und es, rechtsextreme Heimtücke, so aussehen lassen wollte, wie es viele gerne sähen – als sei es «von Flüchtlingen begangen worden» (taz, 29./30.4.).
Diese aktuellen Beispiele zeigen – die Wirklichkeit ist nicht immer, wie sie im ersten Augenblick scheint. Realität ist nicht immer das, was wir gerne glauben, weil es unserem Welt- und Menschenbild entspricht. Weil auch Medien es so darstellen. Die manchmal leichtfertig auflisten, was jemand «verbrochen» haben soll, um dann, wenn der oder, seltener, die Beschuldigte längst am Pranger hängt, auf den letzten Zeilen eines Mehrspalters, gewissermassen im Kleingedruckten, doch noch die rechtsstaatliche Formel «Es gilt die Unschuldsvermutung» nachzuschieben. Aber: «Die Medien», wird Bruno S. Frey – emeritierter Professor der Volkswirtschaft an der Uni Zürich – in der NZZ vom 29.4. fordern, «dürfen nicht selbständig festlegen, wer der ‹wahre› Täter ist. Sie müssen veranlasst werden, sich an die rechtlich geltenden Regeln zu halten, wonach niemand einer Tat bezichtigt werden darf, bevor ein gerichtliches Urteil vorliegt. Die Erfahrungen zeigen, dass öfters ein Terrorakt dem IS zugeschrieben wird, obwohl er ihn nicht begangen hat – aber dennoch danach für sich in Anspruch nimmt. In diesem Fall wirken die Medien sogar als Propagandastelle für den IS.» Aber nächstes Mal ist es bestimmt wieder so ein islamistischer Populist.
2. Mai 2017
Der Redaktionsleiter der Sonntagszeitung, Andreas Kunz, hätte den diesjährigen 1. Mai besser nicht schon im Voraus kommentiert, und wenn, zuerst einen Nachmittag mit aus Syrien oder Pakistan Geflüchteten verbracht. Am 30. Mai schreibt er unter der Überschrift «Trallala, der 1. Mai ist da»: «Für alle, die nicht in Zürich wohnen: Das ist der Tag, an dem sich die Stadt in einen Kriegsschauplatz verwandelt.» Und für alle, die nicht im Kriegsgebiet wohnen, zitiert die Organisation Save the Children in ihrem Bericht «Kindheit in Trümmern» ein Mädchen aus dem nördlichen Homs in Syrien: «Meine Mutter erlaubt mir nicht, in die Schule zu gehen, da sie zu viel Angst hat und sie mich und meine Geschwister vor den Bombardierungen schützen will.» Am Dienstag, 2. Mai, muss Kunz, trallala, der 1. Mai ist vorbei, im Blatt seiner Kolleginnen und –kollegen, dem Tagesanzeiger, lesen: «Regnerisches Wetter und ein Grossaufgebot der Polizei sorgten dafür, dass der farbenfrohe Umzug mit 12‘000 Teilnehmern diesmal friedlich blieb – mit Ausnahme von ein paar Farbanschlägen.» So leicht lassen sich in Zürich Krieg und Frieden herbeischreiben.
3. Mai 2017
Ueli Steck ist am Sonntagmorgen, 30. April gescheitert. So seine eigene Logik. «Scheitern heisst für mich: Wenn ich sterbe und nicht heimkomme.» (Tagesanzeiger, 31.3.2017). Während sich die wirklich Betroffenen mit einer kurzen Mitteilung auf Stecks Website begnügen, weckt der «Tod eines Unsterblichen» (Tagesanzeiger online, 30.4.) öffentlich bekundete Emotionen widersprüchlichster Art. Offensichtlich auch auf der Redaktion des Tagesanzeigers. Michèle Binswanger registriert am 2.5. weltweite Betroffenheit zum einen, «Ablehnung, ja Agression» zum andern. «Der Mann sei selber schuld, hiess es, er habe mit dem Leben gespielt und nichts anderes verdient.»
Kollege Jean-Martin Büttner begründet einen Tag später, «warum einen das Ende des Bergsteigers Ueli Steck kaltlassen kann», und spöttelt: «Kaum war er in die Tiefe gestürzt und von einem Helikopter tot geborgen, sammelten sich im Tal die Tränen … Pathos breitet sich aus. Es kommt einem vor, als habe ein Wohltäter uns verlassen.» Als hätten sich die beiden beim Schreiben über die Schulter geschaut oder schon an der Kaffeemaschine gefetzt, fragt Michèle Binswanger: «Warum wecken Risikosportler wie Steck solche Aggressionen? Ist es Neid auf jene, die sich gegen eine Familie, ein sicheres Heim und für eine raue, unkalkulierbare Tätigkeit voller Risiken entscheiden?» Oder, erinnert sich die Journalistin an den Biologie-Unterricht: «Ist es ein urmenschlicher Instinkt, Menschen, die Übermenschliches erreichen wollen, auf Normalmass zurückzustutzen?» Büttner kontert herzlos: «Wer sich diesem Wogen der Gefühle nicht hingeben will; wer einräumt, keine Trauer über diesen Toten zu verspüren, keine Reue zu haben [wieso Reue?] und null Mitleid: Dem wird Aggressivität vorgeworfen, gar Neid unterstellt.»
Die medial bekundete Trauer beziehungsweise ihre demonstrative Abwesenheit haben womöglich und paradoxerweise dieselbe Ursache – den Zusammenbruch der heimlich auf Steck & Co. projizierten Hoffnung, das Leben sei doch kein endliches. Der insbesondere im Konzept Mann angelegte Versuch – der allerdings auch Frauen antreibt –, das Todesproblem durch magische Gebärden zu lösen, könnte doch noch gelingen – durch den Vorstoss in kleine und grosse Todeszonen. Denn: Wer von den Orten, wo die endgültige Vernichtung droht – der Höhle des Löwen, der Todeszone über 8000 Metern – zurückkommt, erscheint als Unverletzlicher, als Sieger über den Tod. Eine Projektion, die mit der Person Ueli Steck so viel zu tun hat wie das rassistische Stereotyp mit dem realen Fremdling.
«Ueli Steck und der Tod», schreibt Dominik Osswald in seinem Nachruf – der am 30.4. in der Online-Ausgabe des Tagesanzeigers noch mit «Tod eines Unsterblichen», am 2.5. auf Papier dann mit «Der vorauseilende Schatten» übertitelt wird, «Ueli Steck und der Tod, das sind zwei Begriffe, die immer wieder gemeinsam genannt wurden – und doch schienen sie sich so fern zu sein. Er würde ihm entrinnen, immer. Als wäre der Tod eine jagende Gestalt, Steck sein vorauseilender Schatten.» Ueli Stecks Tod zerstört das magische Bild: «Die Schattenjagd war Wunschdenken.» Das kann einen schon verzweifeln lassen und in widersprüchlichste Gefühlslagen stürzen. Jetzt bleibt uns nur noch die klitzekleine Hoffnung, irgendwann werde bekannt, dass Ueli Steck am Nuptse einen Fehler gemacht hat, eben doch gescheitert, sein Tod, der Tod generell ein vermeidbarer gewesen ist und bleibt.
So wie den Mitgliedern einer Testpilotengruppe in Tom Wolfes Roman «Die Helden», die sich nach jedem Absturz eines Kollegen zum Leichenessen treffen und analysieren, was er falsch gemacht, bis sie sich gegenseitig überzeugt haben, Tod oder Leben liege in ihrer eigenen Hand. Am anderen Tag steigen sie mit todsicherem Gefühl in ihre Jets. Überzeugt, ihnen werde so ein Fehler nie passieren. Derjenige, der beim nächsten Leichenessen widersprechen würde, das ist der, den sie vor dem ersten Gang beerdigt haben. «Die Familie ist unendlich traurig und bittet die Medienschaffenden, aus Respekt und Rücksicht gegenüber Ueli derzeit auf Spekulationen über die Umstände von dessen Tod zu verzichten.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Das Fällander Tagebuch gehört zu einer Textsorte, die dem von mir respektierten, gelegentlich kritisierten Autor Jürgmeier ohne Zweifel liegt. Was zum Beispiel zu schätzen bleibt, sind die Zwischentöne, nicht zuletzt wenn es um Männergeschichten geht. Siehe auch das bei Infosperber umstrittene Thema Ueli Steck.
Jürgmeier zitiert Bruno S. Frey. «Die Erfahrungen zeigen, dass öfters ein Terrorakt dem IS zugeschrieben wird, obwohl er ihn nicht begangen hat – aber dennoch danach für sich in Anspruch nimmt. In diesem Fall wirken die Medien sogar als Propagandastelle für den IS.»
Nur durch Recherchen von Journalisten und Untersuchungen der Polizei konnten in der Vergangenheit Terroranschläge aufgeklärt werden. Beim Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna, im August 1980, dauerte es Jahre bis die Täterschaft ermittelt werden konnte. Es waren nicht die Linken. (1)
Seltsam ist auch, dass bei Terrorattacken oft Übungen stattfanden. Das war auch in Paris der Fall. Die Pariser Notfallkräfte hatten an jenem Morgen eine Übung für einen grossen Terroranschlag durchgeführt. Eine Terrorübung fand auch während dem Boston Marathon im April 2013 statt. Auch bei den verheerenden Terroranschlägen auf die U-Bahn in London und auf einen Bus am 7. Juli 2005 fanden Terrorübungen statt. Grosse Übungen der Luftwaffe der Vereinigten Staaten fanden auch am 11. September 2001 statt, was verhindert haben soll, dass die vier entführten Flugzeuge abgefangen werden konnten..
Der Journalist Paul Schreyer stellte all diese Terrorübungen in einem Artikel am 17. November 2015 auf «Telepolis» zusammen, (2)
(1) Siehe das Buch von Daniele Ganser «Nato Geheimarmeen in Europa», Orell Füssli Verlag.
(2) «Paris, der Terror und die Übungen», Paul Schreyer 17.11.2015
http://www.heise.de/tp/artikel/46/46585/1.html