Das zunehmende Erschrecken in den Alpen
29. Juli 2016
Die Wirtin auf der Fuorcla Surlej – bei deren Eltern, die sich Getränke & Esswaren noch von Maultieren hochbuckeln lassen mussten, ich schon als Kind etwas getrunken habe – entschuldigt sich, noch bevor wir uns für zwei, drei oder vier Flaschen Schorle entscheiden, es sei sehr teuer. 6.50 die Flasche. Wir durstigen Vier nehmen für jede & jeden eine. Der junge Kellner im Bever Lodge meint auf die Frage, was ein Zimmer koste – «zu viel». Jetzt, in der Hochsaison, Fr. 110.00 für eine Übernachtung mit Frühstück. Pro Person. Beide haben gelernt, dass ihnen nicht so viel zusteht wie ihren Gästen.
Gleiche Wertschätzung aller Arbeiten bedeutete, dass Kellner*innen, Verkäufer*innen sowie Bergbahnangestellte in der Stunde gleich viel verdienten wie wir (oder Roger Federer) und wir uns vieles nicht (mehr) leisten könnten. Aber wer traut sich (noch), in Zeiten mondial «marktüblicher» Managerlöhne, die Forderung nach Einheitslohn zu stellen? Und warum ist der Neid der vielen nicht grösser? Die Wut auf die reichen Tourist*innen, die den ganzen Erdball kolonisieren und dank der Bescheidenheit der vielen König*in spielen können, wenigstens in den Ferien?
Beim Blick auf den bekannten Biancograt stelle ich mir, nicht zum ersten Mal, vor, ich müsste über diesen schmalen Eispfad balancieren, nur mit Seil & Steigeisen gesichert, müsste im schlimmsten Fall auf die andere Seite des eisigen Bergkammes springen, wenn eine oder einer aus derselben Seilschaft wie ich abrutschte. Ich spüre die Angst, selbst in sicherer Entfernung vom Piz Bernina. Was ist wahrscheinlicher – bei einem Terroranschlag beziehungsweise von einem Amokläufer getötet zu werden oder in den Alpen auf EisFelsGras den Halt zu verlieren, von einer gereizten Mutterkuh über den Haufen gerannt zu werden oder in einem Bergsee zu ertrinken?
Zufall. Schicksal. Gott.
«Risikoforscher erklären uns», wird Felix E. Müller in der NZZ am Sonntag vom 31. Juli 2016 schreiben, «Autofahren fordere mehr Opfer als der Terrorismus. Politiker sagen, Europa müsse mit Attentaten leben lernen. Ersteres ist dümmlich, das Zweite eine Kapitulation vor Islamisten.» Auch wenn die Wahrscheinlichkeitsberechnungen stimmten – «sie basieren auf einem Grundlagenirrtum. Denn bei Wespenstichen, Fischgräten, Blitzschlägen, Autocrashs handelt es sich um Unfälle, beim Terrorismus aber um Mord…» Vor Wespen, Autofahren und Bergsteigen fürchteten Menschen sich nicht wirklich, «weil das Eintreten dieser Gefahr vom Zufall, vom Schicksal, von Gott ausgelöst wird – allesamt Mächte, auf die der Mensch keinen Einfluss nehmen kann.» Strassenverkehrsopfer – von ZufallSchicksalGott verursacht? Warum ist der Tod durch Gotteshand weniger bedrohlich als der Tod durch Menschenhand?
Hinter der Fuorcla Surlej, auf dem Weg zur Mittelstation der Corvatschbahn erinnern mit Spezialplanen abgedeckte Haufen daran, dass selbst dem Engadin der Winter nicht (mehr) sicher ist. Im Dezember 2015 schlängeln sich schmale Kunstschneebänder über grüne Wiesen talwärts, S. und ich steigen eine Woche vor Weihnachten über apere Wege & vereiste Bäche zu Muottas Muragl hinauf. Schnee der letzten Saison soll den bevorstehenden Ski-WM-Winter retten.
Am 2. August wird mich das zunehmende Erschrecken in den Alpen befallen. Die Tafeln mit Zahlen, die ich zuerst als Höhenangaben interpretiere – 1860 kurz hinter dem Restaurant Morteratsch, 2015 direkt unter der Gletscherzunge –, erweisen sich als Stand des Eises im entsprechenden Jahr. Fürchtet euch nicht vor den schwindenden Gletschern zu euren Lebzeiten. Alles nur ZufallSchicksalGott. Vielleicht hätten wir besser etwas mehr Angst vor menschengemachten Zerstörungen, die durch Terrorismus, Gegenschläge und ihre medialen Darstellungen in den Hintergrund gedrängt worden sind. Oder haben wir uns längst & insgeheim damit abgefunden, dass die Erde künftigen Generationen kein Ort zum Leben mehr sein wird?
Manchmal durchbrechen nur Kondensstreifen von Fliegern das Blau soweit das Auge reicht. Und die fliegenfliegenfliegen, südwestostnordwärts & rundherum, als ob nichts geschähe. Auto- und Töfffahrer*innen kurven durchs Engadin, stellen sich, bei günstiger Perspektive, in unausgerichteten Reihen an den Strassenrand, strecken der unberührt & ungerührt dahinschmelzenden Natur ihre Handys & Kameras entgegen. Soll ich sie, weil sie nicht hören wollen, mit dem Zauberstab der Gewalt vom Himmel & von der Strasse holen, bevor es zu spät ist?
31. Juli 2016
Mit dem Terrorismus dürften wir uns nie abfinden, hält Müller denen entgegen, die uns zu einer Art Gelassenheit in Zeiten des Schreckens aufrufen, dazu, mit der sinnlosen «Auslöschung von Leben» – welchen Sinn hat der Tod durch Hunger? – und der Angst davor leben zu lernen, um den Bedrohern (Bedroherinnen sind seltener) keine Macht über unser Leben zu geben. Die rechnerischen Relativierungen der Risikoexperten seien «fundamental falsch… Oder hätten sie denn im Zweiten Weltkrieg auch gesagt, man müsse lernen, mit den Nationalsozialisten zu leben und auch Auschwitz mit einem ‹gesunden Fatalismus› in Kauf zu nehmen?» Notiert der Chef der NZZ am Sonntag.
Da droht die Zurückweisung (magischer) Beruhigungsgebärden angesichts gegenwärtiger Bedrohungen in Relativierung vergangenen Massenmordes zu kippen. Die Dimension des industriell organisierten Tötens im «Dritten Reich» machte Heinrich Himmler 1943 in einer seiner Geheimreden vor SS-Offizieren deutlich: «Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse entfernt. Es ist eine Reinlichkeitsangelegenheit. Wir haben nur noch 20‘000 Läuse, dann ist es vorbei damit in ganz Deutschland.»
Wer das aktuelle Terrorismus- beziehungsweise Amokgeschehen mit der Auschwitzkeule überhöht, liefert Legitimationsgrundlagen für Gegen- und Präventivschläge aller Art. Aber sind nicht gerade Kriegserklärungen & Aufrüstung – weil wir «uns nie mit dem Terrorismus abfinden» dürften, schreibt Müller, sei es «richtig, den enormen Aufwand für den Sicherheitsapparat zu leisten» – die eigentliche Kapitulation vor dem Terror?
IS-Terrorist*innen sind Utopist*innen & wollen die Welt in ihre Welt verwandeln
Gewalt & Gegengewalt – alle haben das Gefühl, immer nur zurückzuschlagen – sind (auch) hilflose & tödliche Versuche, die («weibliche») Ohnmacht gegenüber einer Welt, die nicht ist wie erhofft & erträumt, mit («männlichem») Handeln zu überwinden. «Sobald die Utopisten merken, dass die Realität nicht mit ihrem Traum übereinstimmt, wollen sie ihn mit Gewalt erzwingen», sagt der freisinnige Alt-Bundesrat Pascal Couchepin im Tages-Anzeiger-Gespräch mit der neuen Juso-Präsidentin Tamara Funiciello am 22. Juli 2016. So ungeheuerlich es manchen erscheinen mag, in diesem Sinne sind auch IS-Terrorist*innen (sowie ihre Gegner*innen) Utopist*innen, welche die Welt in ihre Welt morden (beziehungsweise bomben) wollen.
Aber wirkliche Utopie – das ist vor allem anderen auch Frieden & Gewaltlosigkeit. (Echte) Utopist*innen zeichnen sich durch die Erkenntnis aus, dass weder grosse noch kleine Welten jemals nur ihre Welt sein können, solange noch andere Menschen in ihr leben. Wer sich auf dem Boden der Gewaltfreiheit bewegt, gerät in eine Art gewaltloses Paradox. Er oder sie kann auf Gewalt & Elend in der Welt weder, wie die alten Wildwesthelden, mit dem Revolver reagieren noch der passiven Maxime meiner Familie – «Wir kleinen Leute können eh nichts machen» – folgen & tatenlos zuschauen.
Was es hinzunehmen & auszuhalten gilt, sind nicht die Zustände & Geschehnisse in der Welt, sondern die Trauer angesichts des Grabens zwischen Vision & Wirklichkeit sowie die verzweifelte Ohnmacht als Folge des Verzichts auf die Gewalt als vermeintlich schnelles & wirksames Handeln. Oder sollen die (Befreiungs-)Armeen nicht nur gegen Terror, sondern auch gegen Hunger & sozioökonomische Ungleichheit, Verletzung von Menschenrechten & Vertreibung sowie gegen alle Formen der Zerstörung ökologischer Lebensgrundlagen in die Schlacht geschickt werden?
Die Tabuisierung der Frage nach den Ursachen
Kriegserklärungen & Aufrüstung sind (auch) Formen der Kapitulation vor den komplexen & vielfältigen Ursachen des Terrors, die wir schon lange hinnehmen. Die Tabuisierung der von vielen als ungeheuerlich empfundenen Frage nach den Ursachen des «Un-Menschlichen» hat zum Ziel, jeden Zusammenhang zwischen dem «Bösen» und unseren menschlichen Gesellschaften zu leugnen. Der Geschichtslehrer zog mir in der Mittelschule bei einem von ihm selbst als «sehr gut» eingestuften Text eine Note ab, weil ich darauf hinwies, dass auch die nationalsozialistischen Hetzer & Schlächter in unserer Kultur sowie unter Menschen zu dem geworden, was sie waren. Die Frage nach den Ursachen, das ist auch die Frage danach, ob es gegen den Nationalsozialismus zu einem frühen Zeitpunkt und vor allem gegen den aktuellen Terrorismus – der noch lange nicht jenen ultimativen Punkt erreicht hat, der Parallelen zu Auschwitz erlaubte – nicht andere (gewaltfreie) Möglichkeiten gegeben hätte beziehungsweise gäbe.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Infosperber-Redaktor Jürgmeier macht Ferien im Engadin und notiert, was er da von Welten mitbekommt.