Kommentar
Buchkritik: Einmal zur Hölle und zurück
Dieses hochkarätige Stück Literatur lebt nicht in erster Linie vom Inhalt. Nein, die junge amerikanische Autorin folgt dem erprobten Rezept, wonach die parkettsicherere Sprache, die Form, oft der Schlüssel zum Erfolg ist. Es kommt also nicht in erster Linie darauf an, was, sondern wie erzählt wird. Moshfegh lässt die Wörter tanzen, wenn ihre Protagonistin Einblick gibt in ihr banales, zielloses Leben als Galeriemitarbeiterin in Manhattan:
Ich versuchte mich in der Rolle der ortstypischen Blondine, die die Uferpromenade in Lycra auf und ab walkt mit Bluetooth im Ohr wie eins von diesen hochwichtigen Arschlöchern, aber mit wem sollte ich telefonieren?…Ich ertrug Einläufe und Gesichtsbehandlungen… ging in ein überteuertes Fitnessstudio… Hin und wieder lernte ich in der Galerie interessante Männer kennen… Nichts entwickelte sich je in Richtung «Liebe».
Da hört man ein leises Echo heraus aus der Zeit der sechziger Jahre. Von Jack Kerouac, Allen Ginsberg bis hin zum Zeitgenossen David Foster Wallace, der, etwa in seinem Roman «Unendlicher Spass», den rotzigen Ton der Beatgeneration aus den Sechzigern aufnimmt und mit dem heutigen Blick auf den ganz normalen Alltagswahnsinn grossstädtischer Gefühlswelt verbindet. Moshfegh, von kroatisch-iranischer Abstammung, schickt ihre namenlose Erzählerin zu einer Psychiaterin, die ihre Klientin unüberbietbar fahrlässig die ganze Palette gängiger Psychopharmaka ausprobieren lässt. Die Erzählerin protokolliert minuziös, welcher Art Kick sie sich mit den jeweils selbst zusammengesetzten Cocktails aus ihrer Sammlung erhofft. Das ist hart an die Grenze zur Groteske getrieben. Insbesondere auch, weil die Ärztin ihrer Klientin jeden Wunsch von den Lippen abliest und dadurch etwas überzogen geraten ist. Aber Moshfegh arbeitet heraus, wie haarsträubend fahrlässig mit solchen Medikamenten umgegangen wird, wie mühelos man sich mit solchen Drogen zudröhnen kann – bis hin zum Nullpunkt:
Ich war eine weisse Schneelandschaft, ich fühlte nichts.
Kälte aus der Kunstszene
Ihren Job als Mädchen für Vieles in einer hippen Eastside Galerie quittiert die Traumtänzerin mit Kunstabschluss an der Columbia University. Sie bunkert sich in ihrer Wohnung ein und flüchtet sich, von Selbstverachtung und Alpträumen gequält, in wilde Tablettentrips. Dies gipfelt im Selbstversuch eines einmonatigen künstlichen Schlafs. Physisch überlebt die haltlose Getriebene. Psychisch ist sie am Ende. Das Kind früh verstorbener Eltern, die ihren Narzissmus rücksichtslos gegen ihre eigene Tochter ausgelebt hatten, ist sich selbst so weit abhandengekommen, dass ihr sukzessive der Boden unter den Füssen wegbricht. Absolut mitleidlos schickt die Autorin ihre Hauptfigur zugedröhnt mit Tranquilizern zur Hölle. Rabiat und perspektivlos.
Dieser Roman folgt dem unerbittlichen Leidensweg der Protagonistin und er ist eine schonungslose Kritik an der urbanen Mittelschicht in der Wohlstandsverwahrlosung, die sich alles und vor allem Glück penetrant erkaufen will. Und er ist eine deftige Abrechnung mit einer verantwortungslosen Sparte der Medizin, die sich gewaschen hat. Mossfegh stellt zwar die medikamentenabhängige Grossstädterin ins Zentrum aber die Erzählung hat noch viele Seitenarme, die das gesellschaftliche Umfeld der Hauptfigur miteinbeziehen. Etwa die zynischen Männer, die sich bei der angezählten Frau sexuell selbstversorgen. Sie durchschaut dies eigentlich, lässt aber auf der Suche nach einem vielleicht doch rettenden Bruchstück von Liebe alles über sich ergehen.
Nicht viel anders geht es ihr mit ihrer naiven Freundin, die ausserstande ist, auch nur annähernd zu erkennen, wie dramatisch es um die manisch-depressive Süchtige steht. Deren Kontakt zur Umwelt besteht nur noch im zeitweiligen Gang zur Kaffeebar um die Ecke. Die Einsamkeit der im eigenen Scheitern Verlorenen ist grenzenlos. Moshfegh braucht nur einen kurzen Dialog, um festzumachen, wie verzweifelt diese Figur nach einem Hauch Liebe giert. Als der Vater im Sterben lag, heisst es:
Ich wollte, dass er mir den Kopf tätschelte. Ich wollte getröstet werden…Ich griff nach seiner seltsam übergrossen Hand. Er zog sie weg… «Holen Sie meine Frau», sagte er zur Pflegerin… «Irgendwelche letzten Worte?», fragte meine Mutter. «Ich hoffe, das war alles der Mühe wert», antwortete er… während meine Mutter sich in der Küche betrank… Schliesslich war es so weit. «Das war’s dann, oder?», fragte meine Mutter.
Auf der Spitze der Einsamkeit
Diese verheerende Zurückweisung in Gestalt der allerletzten Chance des Vaters ist dafür verantwortlich, dass die ausgestossene medikamentensüchtige Tochter auf ihren eigenen Abgrund zu taumelt. Überraschend erscheint vor diesem Hintergrund, die angedeutete Rettung der wohlstandsverwahrlosten jungen Frau durch die Kunst, nachdem sie als Finale ihrer Tablettensucht mithilfe von Unmengen Narkotika einen Monat fast nur im Bett verbracht hatte. Die Protagonistin hat nämlich eine Art dialektisches Erweckungserlebnis beim Betrachten impressionistischer Bilder im Museum. Ihr geht dabei auf, dass Schönheit und Bedeutung nicht zwingend deckungsgleich sind. So wie das falsche nicht unausweichlich im richtigen Leben angelegt sein muss. Schönheit und Bedeutung bedingen einander nicht zwingend. Sie können auch unabhängig voneinander bestehen. Die Erzählerin bringt ihre eigene philosophische Wende so zum Ausdruck:
Schmerz ist nicht der einzige Massstab für Wachstum… mein Schlaf hatte gewirkt… das war jetzt mein Leben… ich konnte loslassen.
Na ja. Das klingt doch etwas nach dem abgegriffenen Motto «Krise als Chance», insbesondere, wenn das Eis noch dünn ist. Aber dieser Roman gibt im Kern sehr präzisen Einblick in das vielfach gebrochene Seelenleben von Menschen, die sich materiell alles leisten können, aber seelisch vollkommen verkümmert, einsam und todunglücklich sind. Diese Fratze des Ungeliebtseins zeigt uns Moshfegh schonungslos und erschreckend. Zurecht sticht dieser Roman als reflexives Kunstwerk aus der Bücherflut dieser Winterkollektion heraus. Und die Autorin stellt unter Beweis, dass ein Roman gelungen ist, wenn der Weg der Lektüre mit unübersehbaren Ausrufe- und Fragezeichen versehen ist. Mehr noch: Mossfegh überrascht mit einem Paukenschlag im Schlussakkord dieses insgesamt starken Romans. Ist Freundin Reva vielleicht eine der Frauen, die sich beim 9/11 Anschlag, kerzengerade aus einem Fenster des Nordturms in die Tiefe stürzten? Auch dem Unausgesprochenen ist in dieser Story viel Platz eingeräumt. Mit Recht.
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Ottessa Moshfegh kam 1981 in Boston als Tochter eines iranischen Geigers und einer kroatischen Bratschistin zur Welt. Sie studierte Anglistik und Creative Writing und publizierte anschliessend Kurzgeschichten in renommierten Zeitschriften wie der «Paris Review» und dem «New Yorker»; auf Englisch liegen die Storys unter dem Titel «Homesick for Another World» vor. Ihre preisgekrönten Romane «McGlue» und «Eileen» sind in Übersetzungen von Anke Caroline Burger bei Liebeskind erschienen.
Ottessa Moshfegh. Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Roman. Liebeskind. 2018.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Heinrich Vogler, geboren 1950 in Basel. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie der Politik. War Journalist / Redaktor bei Radio DRS und SRF 2 Kultur. Arbeitete als Kultur- sowie jahrelang als Literaturredaktor. Bis zur Pensionierung Ende 2015. War freier Literaturkritiker für Berner Zeitung, Tages-Anzeiger und NZZ.