Brillanter Geist, zerrissener Mensch
Irma Nelles begegnete Rudolf Augstein, Chefredakteur und Herausgeber des «Spiegel», das erste Mal im Alter von 16 Jahren. Nicht direkt, nicht persönlich, sondern am Mittagstisch der Familie Nelles. Es herrschte Aufregung im Land, denn Rudolf Augstein und sein stellvertretender Chefredakteur Conrad Ahlers waren im Rahmen der «Spiegel-Affäre» verhaftet, die Redaktionsräume des «Spiegel» von den Untersuchungsbehörden durchsucht und besetzt worden.
«Bedingt abwehrbereit» hiess die Geschichte, die im «Spiegel» den mangelhaften Zustand der Bundeswehr zeigte. Ein «Abgrund von Landesverrat», erklärte Bundeskanzler Adenauer im Bundestag, und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss steuerte die Aktion gegen den «Spiegel» aus dem Hintergrund. Am Ende fegte die öffentliche Bewegung für die Pressefreiheit Strauss und zwei Staatssekretäre aus dem Amt. Der «Spiegel» mit Herausgeber Augstein an der Spitze galt von da an als Bastion des unabhängigen, kritischen Journalismus.
Der Tycoon
Tatsächlich wurde Rudolf Augstein zum wohl bedeutendsten politischen Publizisten Deutschlands zwischen 1962 und seinem Todesjahr 2002. Und Irma Nelles begleitete ihn von 1973 bis 2002 zuerst als Assistentin, dann als Leiterin seines Büros. Aus dieser Innensicht schrieb sie die jüngst erschienene Biografie «Der Herausgeber». Es ist das Bild einer genialischen, spannungsgeladenen, umfassend gebildeten, humorvollen und schwermütigen, ungeheuer kommunikativen und zugleich verschlossenen, liebesdurstigen und liebenswerten Persönlichkeit.
Durch die Biografie des «Herausgebers» schimmert das Bild einer Epoche, zu der Joschka Fischer, Gerhard Schröder und Helmut Kohl noch gehören, die sich aber mit dem Tod von Hans Dietrich Genscher, Helmut Schmidt und früher schon Willy Brandt nun zum Ende neigt. Es waren Persönlichkeiten, die mit historischen Leistungen die Weltordnung der Nachkriegszeit bis heute geprägt haben. Rudolf Augstein, der schon 2002 «weggefallen» ist, wie er zu sagen pflegte, war in der Publizistik ihr ebenbürtiger Begleiter. Mit einigen pflegte er regelmässig zu «tycoonisieren», sprich: sich lange und ausführlich telefonisch auszutauschen. Der eine oder andere, wie Bundeskanzler Helmut Schmidt, erschien auch mal ganz formlos zum Treffen mit Augstein im Bonner «Spiegel»-Büro.
Der Womanizer
Es war für Irma Nelles eine langsame Annäherung an den Herausgeber. Sie begann, als man sie als Botin auf eine Reise 1. Klasse in Augsteins Winterquartier in Celerina schickte. Der Herausgeber holte sie persönlich am Bahnhof ab, liess sie dann einen Tag ohne jede Erklärung warten, nahm sie am zweiten Tag mit den Freunden zum Skifahren mit – «Sie haben ja in Bonn nichts zu tun» – und schickte sie am dritten Tag zurück mit einem Tonband, das sich dann für die «Spiegel»-Leser als Aufzeichnung einer nicht-öffentlichen Tirade von Franz Josef Strauss gegen Helmut Kohl entpuppte. Augstein hatte das Band in Celerina abgehört und druckfertig redigiert.
Es ging weiter mit einer verzweifelten Einladung von Augsteins Freunden in Augsteins Sommervilla in St. Tropez, wo Nelles den Herausgeber aus seiner schwermütigen Verschlossenheit herausholen sollte. «Eine Frau kann das besser.» Und es ging weiter, als Rudolf Augstein sie in seiner Villa in Hamburg einquartierte, zur Leserbrief-Redaktorin sowie Assistentin machte und mit sehr direkten Avancen herausforderte. Sie quittierte das mit dem Hinweis auf ihren Freund in Bonn und auf Augsteins gefestigten Ruf der «zuverlässigen Treulosigkeit». Augstein, der sich neben den fünf Ehefrauen immer noch mit etlichen Freundinnen unterhielt, stellte fest, «er habe sich niemals träumen lassen, es jemals mit einer Frau zu tun zu haben, die ihm ein platonisches Liebesleben abverlange».
Der Boss
Es gibt zwischen den Herren und ihren Bediensteten manchmal eine eigentümliche Nähe. Der französische Schriftsteller Erik Orsenna beschreibt eine solche Beziehung aus seiner Zeit als Redenschreiber von François Mitterrand in einem Buch mit dem Titel «Grand amour». «Grosse Liebe» meint hier nichts anderes, als dass der Ghostwriter sich nicht nur in den Meister hineinversetzt sondern schliesslich aus seinem Geist zu schreiben beginnt. Die grösste Anerkennung empfängt er, wenn der Mächtige ihn zum zweiten Ich erklärt. So wie es Mitterrand mit Orsenna gemacht hat, als er sagte: «Vous m’avez compris – Sie haben mich verstanden.»
Die «grosse Liebe» kann auch abkühlen, wie bei Orsenna, als Mitterrand zur Erhaltung seiner Macht sich der Cohabitation mit der bürgerlichen Rechten zuwandte. Orsenna ging dann. Oder die Beziehung kann bis zum Lebensende halten wie die vertraute Zusammenarbeit zwischen Irma Nelles und Rudolf Augstein. Sie dauerte dreissig Jahre.
Augstein hielt den Menschen auf seine Art die Treue. «Ich hatte immer einen Horror davor, die Leute auszubeuten», sagte er. Und: «Ich war immer der Meinung, Journalisten sollten ordentliche Gehälter bekommen. Damit nicht jeder Autohändler sie bestechen kann.» 1974 gab er die Hälfte der Anteile am «Spiegel»-Verlag an die Mitarbeiter ab, die seither Gewinnbeteiligung und Mitbestimmungsrechte geniessen. Was nichts daran änderte, dass der Herausgeber weiterhin den Chefredaktor bestimmte, auch gegen Widerstand in der Redaktion, wie etwa im Fall von Stefan Aust.
Der politische Publizist
Augstein führte mit seinen Beiträgen immer auch einen politischen Kampf. In seinem letzten Kommentar, kurz vor dem Tod, einem Text über «die Präventiv-Kriegstreiber», zerlegte er in einer messerscharfen Analyse all die vorgeschobenen Gründe von George W. Bush für den Einmarsch in den Irak. Und er tat noch mehr. Er rief mehrmals den Bundeskanzler Schröder an – und Schröder rief zurück, berichtet Nelles –, und beschwor ihn, beim «eisernen Nein» gegen die Teilnahme am Irakkrieg zu bleiben.
Irma Nelles beginnt die Biografie über den «Herausgeber» mit ihrem letzten Besuch an Augsteins Sterbebett. Über ihre Beziehung setzt sie ein Wort von Sofia Coppola: «Es gibt etwas jenseits von Liebe und Freundschaft.»
Irma Nelles: Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein. Aufbau-Verlag, Berlin
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine