25 Jahre Washingtoner Raubkunst-Abkommen: Kein Grund zum Feiern
Am 3. Dezember 1998 unterzeichneten 44 Staaten in Washington ein Abkommen, das die Suche nach Raubkunst erleichtern und für die Nachkommen der Opfer «faire und gerechte Lösungen» finden sollte. Die Schweiz war massgebend an der Formulierung des Abkommens beteiligt, doch kommt sie erst jetzt langsam ihren Verpflichtungen nach.
Die Schweiz war während des Zweiten Weltkriegs ein bedeutender Umschlagplatz sowohl für Raubkunst aus den von den Deutschen besetzten Gebieten als auch für Kunstobjekte, die geflüchtete Juden zur Finanzierung ihrer Flucht verkaufen mussten. Nachdem es Ende der 1940er Jahre zu Raubgut-Prozessen vor Bundesgericht kam, bei denen rund 70 gestohlene Bilder aus Frankreich von ihren Schweizer Käufern zurückgegeben werden mussten, war Raubkunst jahrzehntelang kein Thema mehr. In der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) findet sich ein allererster Eintrag zu «Raubkunst» im Jahr 1993.
Ich verfasste damals eine Vorschau für einen von mir fürs Fernsehen SRF produzierten Film über Raubkunst, der kaum Beachtung fand. Dann taucht der Begriff drei Jahre lang nicht mehr auf, bis ich 1996 einen Artikel für den «Tages-Anzeiger» schrieb, der auf ein grösseres Interesse stiess. Ab 1997 nahm das Thema im Zusammenhang mit der Rolle der Schweiz im Krieg, der Diskussion um die nachrichtenlosen Vermögen und das von der Schweiz entgegengenommene Nazigold Fahrt auf. Anfänglich übernahm die NZZ die Themenführerschaft, um den Diskurs in ihrem – defensiven – Sinn zu steuern.
Recherchen zu Raubkunst: Vielerorts nicht gern gesehen
Aufgrund meines Artikels im «Tages-Anzeiger» fragte mich das Bundesamt für Kultur (BAK) an, ob ich eine ausführliche Studie über die Schweiz als Umschlagplatz für gestohlene Kulturgüter während der NS-Zeit verfassen wolle. Die Studie sollte unabhängig von der 1997 eingesetzten Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) und im Vorfeld der Washingtoner Konferenz erscheinen. Das sollte auch ein Signal sein, dass die Schweiz bei der Aufarbeitung von Raubkunst nicht untätig geblieben ist.
Das Thema war in der Museumsszene und im Kunsthandel unbeliebt. Schon im Vorfeld wurde versucht, den Autor schlecht zu machen. So schrieb der spätere Chefredaktor der NZZ am Sonntag, Felix Müller, einige Monate vor Erscheinen der Studie: «Über den Betrag, den er für seine Arbeit erhält, hüllt sich das BAK in Schweigen; Vermutungen, es könnte sich um rund 200’000 Franken handeln, liessen sich nicht bestätigen. Und wenn die Studie im Herbst in die Buchhandlungen kommt, wird der Autor möglicherweise zusätzlich noch am Verkaufserlös partizipieren.» Beides stimmte nicht. Auch im Nationalrat gab es kritische Anfragen zur Person des Autors und den Kosten.
Grosse Aufregung bis zum Bundesrat hinauf entstand, als ein Mitglied der UEK im Sommer 1997 das vertrauliche Manuskript einem amerikanischen Rechercheur zuspielte. Der Bundesrat befürchtete, mit diesem Leck könnten für die Schweiz unangenehme Informationen in die Medien gelangen, was die Verhandlungsposition der Schweiz an der Konferenz schwächen würde. Darauf wurde beschlossen, die Studie erst nach der Konferenz zu publizieren.
Die Arbeit des Rechercheurs wurde vielerorts nicht gerne gesehen. So beschwerte sich etwa die damalige Direktorin des Kunstmuseums Basel, Katharina Schmidt, bei der mit ihr bekannten Bundesrätin Ruth Dreifuss über die impertinenten Fragen des Historikers. Museen wie das Kunsthaus Zürich verweigerten die Auskunft oder lieferten nichtssagende Antworten, die privaten Archive der Kunsthändler Nathan und Feilchenfeldt blieben verschlossen und sind es bis heute. Auch die Stiftung Bührle zeigte sich unkooperativ.
Schweizer Museen: Lange Zeit sehr defensiv
Im Vorfeld der Washingtoner Konferenz mussten die wichtigsten Schweizer Museen auf Druck des BAK ein Bekenntnis zum Umgang mit Raubkunst ablegen. Widerwillig erarbeiteten sie innerhalb weniger Tage eine lauwarme Erklärung, in der sie schrieben: «Die unterzeichnenden Kunstmuseen sind problembewusst und sind, soweit irgend möglich, um Abklärung und Aufklärung in Bezug auf Kulturgüter, die während der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs geraubt wurden, bemüht.»
Die Haltung der meisten Museen blieb aber noch während Jahren sehr defensiv. So betrieb Christian Klemm, der damalige Sammlungskonservator des Kunsthauses Zürich, Provenienzforschung gewissermassen im Nebenamt und kam zum Schluss, dass alles seine Ordnung habe. Auskünfte erteilte er selektiv, das Archiv blieb lange Jahre geschlossen. Mittlerweile arbeiten mehrere Provenienzforscher im Kunsthaus.
Wenige Tage nach der Washingtoner Konferenz erschien meine Studie, die von den Medien positiv aufgenommen wurde – ausser von der NZZ. Der damalige Feuilleton-Redaktor Matthias Frehner und spätere Direktor des Kunstmuseums Bern, hatte für seinen mit Furor geschriebenen Verriss eine ganze Zeitungsseite zur Verfügung. Ausgerechnet Frehner, der ursprünglich mit mir zusammen die Studie hätte durchführen müssen, aber sich aus bis heute unbekannten Gründen zurückgezogen hatte. Und Felix Müller, damals Lokalredaktor, trat noch nach, sah in der fast 600-seitigen Studie nichts Neues und zog zum Thema Raubkunst das Fazit: «It’s over.» Er sollte sich täuschen.
Das Washingtoner Abkommen und erste Restitutionen
Einige Museen begannen umzusetzen, was das Washingtoner Abkommen verlangte: die Suche nach Raubkunst und den früheren Eigentümern, bzw. deren Nachfahren. Das Kunstmuseum Chur restituierte als erstes ein Bild von Max Liebermann an die Erben des Industriellen Max Silberberg. Zwei Jahre später schenkte Michel Dauberville, der als Kind den Krieg in der Schweiz überlebt hatte, aus Dankbarkeit den Museen in Basel und St. Gallen je hälftig ein restituiertes Bild. Das Schweizerische Nationalmuseum gab ein silbernes Gefäss aus seiner Sammlung zurück. Ein Anspruch an eine Zeichnung von Van Gogh im Museum Römerholz in Winterthur wurde vom Bund vor einem amerikanischen Gericht bestritten. Diese Klage abzuwenden kostete den Bund weit über eine Million Franken.
Aus öffentlichen Museen gab es einige wenige bekanntgewordene Restitutionen, etliche Ansprüche wurden abgewehrt, einige sind noch offen, etwa im Kunsthaus Zürich oder der Sammlung Bührle. Zahlreiche Einigungen erfolgten vertraulich, es dürfte sich um ein paar hundert Objekte handeln. Um die Verpflichtungen des Washingtoner Abkommens, das völkerrechtlich nicht verbindlich ist, durchzusetzen, schaffte das BAK die Anlaufstelle Raubkunst, die indes lediglich bei Streitfällen vermitteln kann. Sie sieht sich als Informationsdrehscheibe für Private und Institutionen aus dem In- und Ausland.
Eine der spektakulärsten Restitutionen betraf das Bild «Improvisation Nr. 10» von Wassily Kandinsky. Es gehörte dem jüdischen Maler El Lissitzky und seiner nicht jüdischen Frau Sophie und hing in einem deutschen Museum. Die Nazis konfiszierten es und übergaben es mit Hunderten anderer Bilder dem «Verwerter» Ferdinand Möller. Auch nach Nazi-Gesetzen wäre diese Konfiskation von Privateigentum illegal gewesen.
Möller betrachtete nach dem Krieg das Bild als sein eigen und verkaufte es 1954 dem Basler Kunsthändler Ernst Beyeler, der es vermeintlich gutgläubig gekauft hatte. Nach Jahrzehnten meldeten sich die Erben Lissitzky und verlangten das Gemälde, das zu diesem Zeitpunkt auf etwa 50 Millionen Franken geschätzt wurde, zurück. Beyeler weigerte sich, es drohte ein Prozess vor einem Basler Gericht. Wenige Wochen vor Prozessbeginn einigte sich Beyeler und zahlte einen mutmasslich zweistelligen Millionenbetrag an die Erben.
Der Begriff «Fluchtgut»: Für findige Juristen eine Brandmauer
2001 erschien die im Rahmen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK) verfasste Untersuchung «Raubgut – Fluchtgut», die mit dem Begriff «Fluchtgut» den Diskurs bis in die jüngste Zeit prägte. «Fluchtgut» ist eine analytische Kategorie und bezeichnet diejenigen Transaktionen, die geflüchtete Juden auf dem Territorium der Schweiz durchführten, um Flucht und Exil zu finanzieren. Sie blendet dabei die Kausalität völlig aus, also die Flucht vor dem mörderischen Nazi-Regime und Verkäufe in einer Notlage, unter Druck und oft zu tiefen Preisen.
Findige Juristen wie etwa der Bührle-Anwalt Alexander Jolles konstruierten aus dem analytischen Begriff «Fluchtgut» einen juristischen, indem sie argumentierten, die Schweiz sei eine funktionierende Demokratie, ein Rechtsstaat mit einem offenen Kunstmarkt gewesen, auf dem die Geflüchteten ihre Werke aus freiem Willen zu einem angemessenen Preis hätten verkaufen können. Also seien alle diese Geschäfte legal gewesen und geschützt vor Restitutionsforderungen. Das Konstrukt «Fluchtgut» funktionierte als Brandmauer, um alle Ansprüche zu erledigen. Und diese hielt tatsächlich jahrelang. Bis zum Fall Gurlitt.
Kunstmuseum Bern und die Gurlitt-Sammlung: Wegweisend für Provenienzforschung
Cornelius Gurlitt war der Sohn von Hildebrand Gurlitt, der als einer von vier so genannten Verwertern «entartete» Kunst im Auftrag der Nazis ins Ausland verkaufen konnte, um für die deutsche Rüstung Devisen zu beschaffen. Jedoch verkaufte er nicht alles, einen Teil rettete er über den Krieg und verkaufte ihn auf eigene Rechnung als rehabilitierter und angesehener Kunsthändler. Sein Sohn Cornelius Gurlitt erbte ein Konvolut von etwa 1500 Werken, das er aus noch heute unbekannten Gründen dem Kunstmuseum Bern vermachte. Es wurde vermutet, dass sich in diesem Bestand viel Raubkunst befand, doch es waren darunter nur einige wenige bedeutende Werke, die restituiert wurden. Die Provenienzen der weitaus meisten Werke waren völlig unbekannt.
Das Kunstmuseum Bern machte klar, dass es nur diejenigen Werke akzeptieren würde, die eine einwandfreie Herkunft hatten. In einem mehrjährigen, millionenteuren Projekt wurde die Herkunft – soweit das möglich war – rekonstruiert. Dabei wendete das Kunstmuseum den Begriff des «NS-verfolgungsbedingten Entzugs» bzw. -verlusts an, wie er seit 2009 international gebräuchlich war. Darunter fällt eben nicht nur der eigentliche Raub, sondern Verkauf unter Druck, aufgrund einer Notlage oder wenn der Preis nicht angemessen war. Das bedeutete auch, dass der Kontext einer Transaktion rekonstruiert werden musste.
Das Kunstmuseum Bern setzte damit in der Provenienzforschung einen Standard, der für die anderen öffentlichen Museen wegweisend wurde. Der Begriff «NS-verfolgungsbedingter Entzug» fand etwa auch in die Subventionsvereinbarung der Stadt Zürich mit dem Kunsthaus Eingang. Obwohl der so genannte «Münchner Kunstfund» viel weniger spektakulär war – man sprach von Milliardenwerten – sorgte er weltweit für Schlagzeilen und intensivierte die Suche nach Raubkunst.
Fehlende Mittel für Nachforschungen: Bund unterstützt öffentliche Museen
Die meisten Schweizer Museen betrieben in den Jahren nach der Washingtoner Konferenz ein wenig Provenienzforschung, die einen wie Chur oder Aarau intensiver, andere weniger. Auch bald zwanzig Jahre nach «Washington» war das für etliche Museen etwas, was man so nebenbei machte, vielen fehlten die Mittel für eine professionelle Provenienzforschung. Hauptzweck eines Museums ist schliesslich Konservieren, Bewahren, Ausstellen.
Bundesrat und Kulturminister Alain Berset realisierte allmählich, dass die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern bei der Aufarbeitung von Raubkunst in öffentlichen Museen im Hintertreffen und noch vieles im Dunkeln war. Er schrieb in der Kulturbotschaft 2016-19: «Eine nicht einwandfrei durchgeführte Provenienzforschung birgt ein erhebliches Risiko für den guten Ruf eines Staates. Seitens Bund besteht deshalb der Wunsch, dass die öffentlichen und privaten Eigentümer von Kulturgütern ihre Provenienzforschung intensivieren und die dafür notwendigen Finanzmittel bereitstellen.»
Der Bund sprach für vier Jahre zwei Millionen Franken für Forschungsprojekte in Museen, wobei er die eine Hälfte zahlte, die andere die Museen übernahmen. Auch in den Folgejahren finanzierte der Bund Forschungsprojekte, jedoch ohne fixen Betrag. Etliche Museen, die Jahre zuvor behauptet hatten, sie hätten ihre Provenienz-Recherchen seriös durchgeführt, stellten nun dank Bundesmitteln eigene Rechercheure an.
Restitutionen im «Fall Glaser»: Basel lenkte ein, Zürich mauert
Einen weiteren Wendepunkt stellte der Fall Glaser im Kunstmuseum Basel dar. Curt Glaser, der frühere Direktor der Berliner Kunstbibliothek, hatte eine bedeutende Sammlung von Munch-Gemälden, Zeichnungen und Grafiken. Das Kunstmuseum Basel kaufte im Mai 1933 ein Konvolut von rund 200 Zeichnungen und druckgrafischen Werken auf einer Auktion in Berlin. Glaser stand unter finanziellem Druck und musste einen Grossteil seiner Sammlung verkaufen.
Jahrelang weigerte sich das Kunstmuseum Basel, den NS-verfolgungsbedingten Verlust anzuerkennen. Man habe, so die Argumentation noch 2017, die Werke gutgläubig und zu marktüblichen Preisen gekauft. Von der Verfolgung habe man damals nichts gewusst. Das Museum lehnte es auch ab, den Fall nach dem Berner Standard zu beurteilen. Doch der Wind drehte. Mit dem Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann erhielt die Kunstkommission einen neuen Präsidenten, der die Sachlage minutiös rekonstruieren liess. Die Folge war, dass man sich im Jahr 2020 mit den Erben einigte, eine Entschädigungssumme zahlte, eine Ausstellung zum Gedenken an Glaser organisierte und dafür das Konvolut behalten durfte. Diese Einigung gilt als beispielhaft, denn eine Einigung muss nicht immer Restitution bedeuten, wie das viele Museumsdirektoren befürchten.
Das Kunsthaus Zürich kaufte 1941 ein Munch-Gemälde von Glaser. Die Sammlungskommission hielt im Februar jenes Jahres protokollarisch fest: «Der Direktor glaubt, dass in persönlichen Verhandlungen mit dem auf der Abreise nach Amerika begriffenen Eigentümer der Preis sich für das Kunsthaus noch etwas günstiger festsetzen lässt, er hofft auf eine Reduktion bis auf Fr. 12’000.» Die 12’000 Franken, die das Kunsthaus zahlte, dürften die Hälfte des Marktpreises betragen haben. Ohne die Verfolgung durch die Nazis hätte Glaser dieses Bild nie verkauft, das Kunsthaus profitierte von einer Notsituation. Bis heute weigert sich das Kunsthaus, den Verkauf als NS-verfolgungsbedingt zu betrachten.
Nachforschungen zur umstrittenen Bührle-Sammlung
Eine weitere Dynamik erhielt die Diskussion um Raubkunst mit der Sammlung Bührle. Das 2015 erschienene «Schwarzbuch Bührle» wies darauf hin, dass etliche Bilder eine problematische Provenienz und jüdische Vorbesitzer hatten. Doch sowohl die Stiftung Bührle, das Kunsthaus unter dem damaligen Direktor Christoph Becker als auch Stadtpräsidentin Corine Mauch stellten sich hinter die Provenienzforschung von Bührle-Direktor Lukas Gloor und erachteten sie als seriös und ausreichend. Anlass zum Handeln sahen sie nicht. Man wollte sich die Freude über den zukünftigen Erweiterungsbau von Stararchitekt David Chipperfield nicht nehmen lassen, der die Bührle-Sammlung aufnehmen sollte.
War bei der Abstimmung über dieses Projekt 2012 die Herkunft der Sammlung Bührle noch kein Thema, so war sie es einige Jahre später. Im Januar 2021 reichte die IG Transparenz eine von über 2000 Personen unterzeichnete Petition ein, in der sie u.a. im neuen Museum einen Dokumentationsort zu Bührle und seinen Waffengeschäften, Forschungsaufträge zur Überprüfung der Provenienz sowie der Haltung der Kunstgesellschaft während der NS-Zeit forderten. Zahlreiche Medien, ehemalige Mitglieder der UEK sowie die jüdische Gemeinschaft schlossen sich diesen Forderungen an.
Weiteren Schwung in die kritische Diskussion brachte Erich Keller mit seinem Buch «Das kontaminierte Museum», in dem er aufzeigte, dass der Chipperfield-Neubau letztlich ein Marketingprojekt der Stadt Zürich war, um mit der «grossartigen» Bührle-Sammlung die Stadt in die Spitzenliga der Kultur- und Wissensstädte zu katapultieren. Dass mit dem Umzug der Bührle-Sammlung ins Kunsthaus diese materiell massiv aufgewertet würde, verschwieg die Propaganda für den Erweiterungsbau. Und was die Qualität der Sammlung betrifft, meint der ehemalige Kunsthaus-Vizedirektor Guido Magnaguagno: «Höchstens die Hälfte der Sammlung ist kunsthistorisch herausragend.»
Die Eröffnung der Bührle-Ausstellung im Herbst 2021 war ein absolutes Desaster. Im «Dokumentationsraum» wurde er als «Mäzen und Industrieller» gefeiert, eine kritische Einordnung fehlte völlig. Nach dieser rundum missglückten Eröffnung erlebte das Kunsthaus eine noch nie dagewesene vernichtende Medienschelte, die bis zur «New York Times» reichte. Erst der Direktorenwechsel vom völlig uneinsichtigen Christoph Becker zu Ann Demeester machte den Weg frei, um in einer grundlegend veränderten Ausstellung auch die Sicht der Opfer zu präsentieren und Bührle korrekt und nicht beschönigend im historischen Kontext darzustellen.
Dass noch Klärungsbedarf bei der Sammlung Bührle bestand, dämmerte auch der Stadt Zürich, die aufgrund eines parlamentarischen Vorstosses von Gemeinderat Markus Knauss von den Grünen gut 700’000 Franken bereitstellte, damit ein Team unter Raphael Gross, dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, die Bührle-Provenienzen im historischen Kontext untersuchen kann. Ein Runder Tisch, an dem die IG Transparenz, die jüdische Gemeinschaft und verschiedene Museen vertreten waren, nicht aber die Stiftung Bührle, einigte sich auf Gross. Die Resultate dieser Untersuchung werden Ende Juni 2024 vorliegen. Es ist davon auszugehen, dass diese Tiefenbohrungen die Bührle-Transaktionen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Mit diesen historischen Erkenntnissen wird die Diskussion um die Sammlung, die als Dauerleihgabe im Kunsthaus ist, weitergehen. Angestossen haben sie die beiden ehemaligen Mitglieder der UEK, die Geschichtsprofessoren Jakob Tanner und Jacques Picard. Sie argumentieren, Bührle habe massiv von den vom Bund subventionierten Rüstungsexporten nach Deutschland profitiert, dank denen er zum reichsten Schweizer wurde. Ihre Folgerung: «Eine Überführung der Sammlung Stiftung Bührle in die öffentliche Hand wäre vor diesem Hintergrund naheliegend. Sie würde es dem Kunsthaus Zürich ermöglichen, sowohl Provenienzforschung als auch die faire Rückgabe von Werken an Anspruchsberechtigte in Eigenverantwortung durchzuführen.»
Kulturgüter aus der Kolonialzeit
Wenige Tage vor dem 25-Jahr-Jubiläum der Washingtoner Konferenz tat sich endlich auch auf der politischen Ebene etwas. Aufgrund einer Motion von SP-Nationalrat Jon Pult beschloss der Bundesrat am 23. November 2023 eine «unabhängige Kommission für belastetes Kulturerbe» einzusetzen. Diese soll den Bundesrat «in strittigen Fällen beraten» und «nicht bindende Empfehlungen abgeben.» Die Kommission wird sich wohl in erster Linie mit NS-verfolgungsbedingtem Kulturgut befassen, aber in Zukunft vermehrt auch mit kolonialem. Dieses, das auch zu Tausenden in Schweizer Völkerkundemuseen liegt, ist noch viel schwieriger abzuklären. Aber es ist davon auszugehen, wie ein Kurator des Völkerkundemuseums Zürich sagte, dass an Erwerbungen aus der Kolonialzeit grundsätzliche Restitutionsansprüche gestellt werden können, wurden diese doch meist mit Gewalt oder List angeeignet. Auch kamen und kommen noch immer Hunderttausende Artefakte etwa aus etruskischer Zeit oder von südamerikanischen Kulturen mittels Raubgrabungen auf die Kunstmärkte in Europa und Amerika. Wie jüngste Fälle zeigen, spielt die Schweiz als Drehscheibe für diesen illegalen Markt eine bedeutende Rolle.
Privatsammlungen bleiben eine Blackbox
Die Deutschen haben auf ihren Raubzügen quer durch alle besetzten Länder Hunderttausende, zählt man die Bücher hinzu, Millionen von Objekten gestohlen. Zehntausende wurden restituiert, noch viel mehr Raubgut bleibt verschwunden. Wie viele Objekte noch in Museen oder Privatsammlungen liegen, weiss niemand. Und gerade die Privatsammlungen sind eine Blackbox, gelten doch die Washingtoner Prinzipien nur für staatliche Museen. Wer privat ein Raubbild besitzt, muss juristisch nichts befürchten, nur moralischer Druck kann etwas bewegen.
Die Geschichte um die NS-Raubkunst wird noch viele Jahre virulent bleiben. Doch es gibt Stimmen, die über diese Geschichte den Mantel des Schweigens legen möchten – im Interesse der gegenwärtigen Besitzer und des Kunstmarkts, der Kunstobjekte mit ungeklärten Provenienzen nicht verkaufen kann. So schrieb Alexander Jolles, die graue Eminenz im Schweizer Kunsthandel und Mitglied der Bührle Stiftung, in der NZZ im Jahr 2016: «Über siebzig Jahre nach den Ereignissen stellt sich auch die Frage, ob nicht der Zeitpunkt gekommen ist, die Dinge ruhen zu lassen; im Interesse des Rechtsfriedens und aus der Erkenntnis, dass Geschichte nicht rückgängig gemacht werden kann.» Wie banal, dass Geschichte nicht rückgängig gemacht werden kann. Aber man kann versuchen, die Geschichten der Opfer zu erzählen und den Nachkommen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Verfasser der Studie «Raubkunst – Kunstraub. Die Schweiz und der Handel mit gestohlenen Kulturgütern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs» sowie Mitherausgeber des «Schwarzbuch Bührle». Er ist Mitglied der IG Transparenz und des Runden Tisches.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Der letzte Satz im Beitrag, Zitat: «Aber man kann versuchen, die Geschichten der Opfer zu erzählen und den Nachkommen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen» würde ich persönlich gerne wie folgt ändern:
Es ist an der Zeit den Nachkommen Gerechtigkeit zu schenken, damit die Geschichte letztendlich ruhen kann. Vielen Dank an den Autor, für das Engagement und Hut ab dran zu bleiben!