Kommentar
kontertext: Zahlen maskieren das Gesicht des Krieges
Dem Vietnamkrieg dürften nach heutigem Kenntnisstand 2,4 Millionen Menschen «zum Opfer gefallen sein». Im aktuellen Gaza-Krieg sollen bisher über 43’000 Menschen «umgekommen» sein. In Syrien haben etwa 615’000 Menschen «ihr Leben verloren». In den Konflikten rund um Darfur sind nach UN-Angaben bis Anfang 2008 300’000 Personen «ums Leben gekommen» – Aussagen, die schockieren, und Zahlen, aufrütteln und erschüttern.
Die grammatikalischen Subjekte des Krieges
Über wen soll ich mich empören? In all diesen Sätzen fehlt eine ausführende Person oder Instanz. Das grammatikalische Subjekt ist der erleidende Mensch. Ihm gegenüber stehen anonyme Mächte: der Krieg, Geopolitik, die Mechanik der Gewalt – und die Buchhaltung des Sterbens in den Medien.
Auch wenn gemeldet wird: «93 Menschen wurden bei einem Anschlag getötet», lässt die Passivkonstruktion nicht erkennen, dass da jemand auf der anderen Seite stand, der das Verhängnis befördert, das heisst Sprengstoff beschafft, präpariert und zur Detonation gebracht hat. Menschen hatten das Pech, vor Ort zu sein, betroffen von einem in seiner jähen Brutalität abstrakten Ereignis.
Passivkonstruktionen und summarische Angaben suggerieren: Es ist eine Fatalität eingetreten, und ihre Umstände sind von diversen Seiten zu beleuchten. Dass Menschen sie herbeigeführt haben, wird vorausgesetzt, gerade in bewaffneten Auseinandersetzungen. Müsste aber nicht regelmässiger daran erinnert werden, dass das Geschehen eines von Mensch zu Mensch war? Etwa: Jemand hat einem Häftling die letzte Mahlzeit gebracht; jemand hat ihn zur Böschung hinausgeführt; jemand hat ihm die Kapuze übergezogen; jemand hat die Kugel abgefeuert. In jedem einzelnen Glied der Befehlskette – und das ist schwerer begreiflich als Zahlen und Frontverläufe – haben Menschen agiert, Menschen, die als Kinder Bäume gezeichnet haben und lachende Sonnen. Menschen, deren Berufsziel, auch wenn sie Kriegsspiele spielten, kaum Infanterist war, und wenn doch, dann nur zu Friedenszeiten.
Nun aber hat die Waffenlogik dafür gesorgt, dass sie es geworden sind: Soldaten in einem Ernstkampf.
Opferzahlen, Täterzahlen
Opferzahlen sind ein wesentlicher Gradmesser. Darüber hinaus wäre auch die Nennung von Namen wichtig, so wie es an vielen Gedenkstätten zur Shoa geschieht – um den Schrecken aus der Anonymität zu heben. Ich müsste die Namen der Getöteten lesen wie einen Bannspruch wider die abstrakte Gewalt. Dann träten Gesichter aus dem Zahlenmeer hervor, unverwechselbar und einmalig. Nur der Blick auf Einzelne macht das Gedenken konkret und das Geschehene – ansatzweise – fassbar. Erst das individuelle Schicksal lässt aus dem «Konflikt» die Tragödie werden.
Täter kommen bei der Nennung von Opferzahlen selten vor, als gäbe es einzig das Ergebnis ihres Tuns, nicht sie selbst. Auch sie sind oft nur Geschiebe im Mahlstrom der Machtpolitik. Wäre es daher, egal wie schmerzlich, nicht auch von Interesse, «Täterzahlen» zu nennen und Täterumstände zu erhellen? Wie attraktiv war Treblinka als Arbeitgeber? Gab es Gefahrenzulage für den Dienst am Grenzzaun? Für den Transport der Gasbehälter?
In Bezug auf das Dritte Reich ist vieles aufgearbeitet, andere Tatorte bleiben spärlich erforscht. Von wie vielen Menschen müsste man heute noch sagen, das Foltern sei ihr Hauptberuf? Was ist ihr Durchschnittsverdienst? Unter welchen Umständen leben die Mitglieder der Boko Haram in Nigeria, Kamerun, Niger und im Tschad? Wie sehen die Waschgelegenheiten in syrischen Militärgefängnissen aus? Welchen Lebensstil pflegten die Verhörenden in Guantanamo? Aus welchen Berufen kamen sie? Wie haben sie ihre Freizeit verbracht?
Auch Täter sind ein Gegenüber und nicht nur Teil jener grauen Masse, aus der «das Böse» sich speist. Wer sich mit ihnen befasst, rechtfertigt noch nicht ihr Tun. Auch wenn sie als Soldaten gefallen sind für einen üblen Zweck, haben sie ein Gesicht, individuell und unterscheidbar. So wie die Geschichte der Opfer droht auch ihre Biografie weggewischt zu werden von der buchhalterischen Sprache, mit der Waffengänge journalistisch abgehandelt werden. Möchte ich etwa von den Umständen erfahren, die Menschen aus sibirischen Provinzen dazu trieb, sich der Verrohung in den Kasernen der russischen Armee auszusetzen, muss ich entlegene Quellen aufspüren.
«Das Leben verlieren»
Oft höre oder lese ich: «In jenem bestimmten Frontabschnitt sind letzte Woche mindestens neunzig Soldaten gefallen.» Gefallen: Das klingt nach einem Strategiespiel, bei dem man über einem Brett sitzt und Figuren einsetzen und verlieren kann. «Im getroffenen Hochhaus», lese ich weiter, «haben elf Menschen ihr Leben verloren.» Verloren: Fast so, als hätte dieses Leben nur eine andere Abzweigung genommen, und nun gehen sie getrennte Wege, der Mensch und das Leben. Fast schon friedlich und einvernehmlich klingt das – aber es war in jedem einzelnen Fall ein Kampf. Und auf der Gegenseite ein bewusster Entscheid: auf einen Knopf zu drücken, einen Hebel zu ziehen.
Eine Waffe allein tötet nicht, jemand muss Hand anlegen. Ob im Donbass, in Dien Bien Phu, in Gaza, stets hat sie dem Unheil nachgeholfen; diese Hand – wie auch jene andere, die auf dem Feld Leben zu retten versuchte – verschwindet in den Abstraktionen einer auf Hauptlinien fixierten Berichterstattung, die dem Phantasma der objektiven Darstellung folgt und die Benennung konkreter Taten meidet, aus Angst, als parteilich wahrgenommen zu werden. So droht das Tun des Krieges hinter Bilanzen, Generalstabskarten und einer vorweggenommenen Geschichtsschreibung schummrig zu werden. Umso wichtiger, dass weiter Augenzeug:innen vor Ort sind, dass weiter Erfahrungsberichte jene Verschonten erreichen, die zentralbeheizt leben und sich – beispielsweise in der Schweiz – als öko- und sozialbewusst, kunstsinnig und modeaffin verstehen, während in den Bunkern des geopolitischen Machtwahns munter neue Linien gezogen werden. Damit der Krieg seine Gesichter zeigt, dies- und jenseits realer und ideologischer Gräben, sollte uns Zeuginnen und Zuschauern nicht vorenthalten werden, wie in den Zonen der organisierten Greuel Täter- und Opfergeschichten ineinander greifen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wieder ein Danke an Sie, Michael Mettler… Was Sie schreiben, ist so wichtig…¡