Kommentar

kontertext: Wird Antisemitismus im Theater wieder salonfähig?

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  In London macht ein Stück Furore, das antisemitische und frauenfeindliche Stereotype beschwört – auf handwerklichem Bestniveau.

Es gibt J.P. Morgan Chase, Wells Fargo, Citi Group, Bank of America und noch einige mehr. Aber ausgerechnet jene Bank muss herhalten, die bis in den Namen hinein jüdisch ist: Lehman Brothers. Dass dieses Unternehmen im Verlauf der Bankenkrise von 2008 vor den Augen der Weltöffentlichkeit spektakulär zusammenbrach, ist nur der Nagel, an dem dieses vierflüglige Theatertableau des National Theatre hängt. Denn das Stück geht auf die Hintergründe jenes Niedergangs nur am Rande ein. Stattdessen wird an der Dernière vom 21. Mai im Stil der Gross-Epik und ohne Angst vor Pathos der Werdegang einer jüdischen Familie abgehandelt, die nur einen Lebensinhalt zu kennen scheint: Bereicherung. Man verkauft, was immer verkäuflich ist, und nach dem Bürgerkrieg vergibt man Kredite für den Wiederaufbau des Südens – Geldmachen als Selbstzweck, bis zum bitteren Ende.

So weit, so langweilig und stinknormal. Denn dieses Muster – Wachstum, Maximierung, Marketing – ist weithin bekannt. Und seit Orson Welles’ Citizen Kane ein vielstrapaziertes Erzählklischee: Das Emporkommen und der auch psychisch schmale Grat zwischen Aufstieg und Fall als Vorlage für pathetische Dramatik.

Dieses Muster wird im Stück The Lehman Trilogy nach dem gleichnamigen Buch von Stefano Massini so oft durchgeorgelt, wie in dem familiengeführten Unternehmen neue Generationen ans Ruder kommen. Damit sind auch gleich mehrere Epochen der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte abgedeckt: die Baumwolle, die Eisenbahn, das Öl, die Elektronik, die Informationstechnologie…

Pikant, doch in keiner Weise problematisiert, ist an dieser Erzählung eigentlich nur eines: Ihre durchweg männlichen Protagonisten sind gläubige Juden. Riten traditioneller Religiosität begleiten ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Wenn sie wiederholt im Chor deklamieren: «Baruch Hashem!» (Gelobt sei der Name des Herrn), wird die Unio mystica von Religiosität und Raffgier zur jüdischen statt zur anthropologischen Konstante erklärt.

Männlich, strebsam, plakativ

Zu dieser Engführung von Geschäftsdarwinismus und alteuropäischem Judentum präsentiert das Stück keinerlei Problembewusstsein. Ein Tableau aus Gier und Geldbesessenheit wird ausgebreitet, als sei es heute noch möglich, die Tradition des Antisemitismus für dreieinhalb Stunden hochenergetischen Erzähltheaters auszublenden. Lehman, Lehman & Lehman heisst also: expand, expand and wealthify!

Aber der Reihe nach: Der mittellose Hayum (Henry) Lehmann, gebürtig aus Unterfranken, steht mit einem Koffer und dem, was er auf dem Leib trägt, 1844 an einem Pier in New York und hat nur eines im Sinn: als Geschäftsmann zu reüssieren. So jedenfalls stellt ihn dieses Stück dar. Holzschnittartig, doch lebensprall: der aufstiegswillige Immigrant als Apotheose der Leistungsgesellschaft. Aber auch eine Silhouette, bekannt aus zahllosen Sagas, am einprägsamsten wohl in John Dos Passos’ Grosstadtpanorama Manhattan Transfer aus dem Jahr 1925.

Der junge Lehmann ist ein Talent. Er saugt Geschäftsideen ein und atmet Profit aus. Er beginnt als Tuchhändler in Alabama, verlegt sich auf Rohbaumwolle und verschifft diese vom Süden in den Norden; er eröffnet mit seinen nachgezogenen Brüdern ein Büro in New York, übersteht als Gründer grosser Konsortien den Sezessionskrieg und weiss am Ende von jeder Krise zu profitieren. Und jede nachfolgende Generation der Lehmans, Männer samt und sonders, hat ihren eigenen Riecher für den Profit ihrer Zeit.

Das wird auf der Bühne simpel und linear abgespult: ‹und dann und dann und dann›. Keine der Figuren wächst einem ans Herz, denn jede ist auf ihre Weise unsensibel, impertinent und rücksichtslos. Dass wir nie vergessen, wie sehr diese Geschichte nicht von Geschäftsleuten, sondern von jüdischen Geschäftsleuten handelt, dafür sorgen regelmässig eingestreute Begräbnis- und Betszenen und der Refrain «Baruch Hashem!» Wenn die drei Darsteller zusammentreten, um unisono ihr Kaddisch zu sprechen, verdeutlicht sich Mal für Mal, wessen Erfolgsgeschichte hier zur Sprache kommt: die des ‹Geldjudentums›. Denn nicht nur werden in den 163 Jahren dieses Unternehmens Geschäfte gemacht, es werden auch Feste gefeiert, es wird geboren, beerdigt und geheiratet. Da sind unter ferner liefen ja auch noch die Frauen. Sie sind Objekte der Brautwerbung und Hochzeitspolitik. Als Gebärerinnen im Hintergrund treten sie typisiert auf – die drei Darsteller spielen sie qua Effemination gleich selbst, als Schiessbudenfiguren, wie sie im Buche stehen. Spätestens hier kippt dieser Abend ins Peinliche, aller handwerklichen Perfektion zum Trotz. Doch der Saal bleibt freundlich zugewandt, obwohl es keiner der Frauen vergönnt ist, eine eigene Stimme, eine eigene Perspektive auf das Geschehen zu entwickeln. So bleibt Lehmans Gelduniversum a men’s world.

Erlaubt ist, was gefällt

Eigentlich sollte in einer Aufführung von dreieinhalb Stunden Raum genug sein, die Blickrichtung zu wechseln; doch offenbar hat es die Macher nicht interessiert, zu sehr waren sie bemüht, dieses Epos der Hybris dreier Gründerfiguren auf der theatralen Breitleinwand auszuschlachten. Das Stück wurde als Theaterereignis erster Güte angekündigt und auch als solches aufgenommen: Starregisseur Sam Mendes (American Beauty, Skyfall und zuletzt Spectre) bläst eine Vorlage auf, die mit Unmengen Off-Kommentar nicht wirklich dramatisch angelegt ist. Und die drei Darsteller bewegen sich spieltechnisch auf höchstem Niveau. Mit solchen Schauspielern lassen sich Schwächen schon wegperformen. «Theater in London ist halt kompetitiv», sagt die befreundete Kuratorin in der Pause – «anders als diese übersubventionierten Bühnen in der Schweiz. Was das Publikum überfordert, hat keine Chance hier.»

Warum fühlt sich der Schreibende an dieser Dernière im Gillian Lynne Theatre trotzdem tüchtig underwhelmed? Das ist leicht zu sagen: Man kann 2023 beileibe keine schwerreiche jüdische Männerfigur mehr auf eine Bühne stellen, die, abgewiesen von der Angebeteten, das Sträusschen in eine Vase stellt, um es für die Brautwerbung der nächsten Woche zu rezyklieren. So wie man keinen Theaterabend mehr gestalten kann, in dem sämtliches weibliche Personal (sic) von Männern in karikierender Absicht nachgeäfft wird.

Der Saal ist einhellig begeistert. Der Schreibende schaut sich ungläubig um. Ist er hier in eine Darbietung für Follower geraten und als kritischer Theatergeher selber die Fehlbesetzung? – Die Gespräche danach drehen sich um die Performance, nicht um den Inhalt. Man hat Karten für einen Theatererfolg gekauft, und das soll es nun auch gewesen sein: brillant eben, adaptiert nach einem Stück, das schon am Broadway Furore machte. Erfolg als self fulfilling prophecy. Bis auf einen mahnenden Kommentar im Guardian blieb die Empörung aus.

Sieht so die Demokratisierung von Kunst aus, oder mehr noch: ihre Neoliberalisierung? Ja, die Gesichter an der Bar sagen es: Erlaubt ist, was gut gemacht ist und gefällt. Man hat sich bestens unterhalten. Auf wessen Kosten, kümmert offenbar niemanden.

The Lehman Trilogy, Gillian Lynne Theatre, London, 24. Jan. – 21. Mai 2023. Produktion: National Theatre. Regie: Sam Mendes.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 27.05.2023 um 10:02 Uhr
    Permalink

    Eigentlich verlangt das Stück, so wie im Artikel beschrieben, eine intensive Diskussion: wo beginnt der Antisemitismus, also die Judenfeindlichkeit, die Juden aufgrund stereotyper Merkmale abwertet, vom bloßen Ressentiment bis hin zur Forderung nach physischer Vernichtung, was ist im Rahmen der Kunst, eines Theaterstückes, der Verfremdung noch zulässig bzw. wie sind die Reaktionen darauf. Es klingt hier ein bißchen wie «Jud Süß» der UFA, diese Vermischung aus mystisch-dunklen Glauben und blanker zerstörerischer Gier, die im Zuschauer eine Abscheu erzeugen soll, aber gleichzeitig etwas faszinierend-dämonisches an sich hat. Werner Krauß spielte damals gleich sechs Juden, allesamt antisemitisch überzeichnet; er war stolz darauf. Marian spielte den Oppenheimer mit weltmännischer Eleganz im Gegensatz zum täppischen George als Großherzog – auch ein antisemitischer Propagandakniff. Der Jude als überlegene mephistophelische Erscheinung.

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