Kommentar
kontertext: Werk- und Feiertage in der Schweiz
Wir kamen dereinst kurz vor Neujahr in der Schweiz an, wohl deshalb haben wir eine besondere Einstellung zu den hiesigen Feiertagen. Kommt hinzu, dass unsere Freunde überzeugt sind, das Leben in der Schweiz sei ein einziger langer Festtag, denn hier ist es doch so schön, komfortabel und sicher. Wir wollen sie nicht enttäuschen.
Die Silvesternacht in Basel beeindruckte uns mit klassischer Musik auf der Strasse, dezenter Beleuchtung und dem Fazit, dass es alles in allem nur eine halbe Stunde lang laut gewesen war in der Stadt, und selbst dann nicht sehr laut. Im Januar erzählten uns nämlich Freunde aus Deutschland von den schrecklichen Krawallen dort – von den Explosionen und von der Zerstörung allenthalben. Wir waren froh, weit weg von solchem Schrecken gewesen zu sein, und sprachen bald über andere Feste. Wir erkundigten uns, ob in der Schweiz der Valentinstag am 14. Februar und der Frauentag am 8. März gefeiert werden.
Bekannte und unbekannte Bären und Vögel
Was wir noch nicht ahnen konnten: dass der nächste Anlass viel zeitnäher kommen würde. Gerade mal ein paar Tage danach, hörten wir mitten am Tag seltsame Musikgeräusche vor unseren Kleinbasler Fenstern – wir zogen uns eilig an, schnappten uns die Kamera und liefen hinaus auf die Strasse, wo wir einen zotteligen Bären, umringt von kleinen Kindern, bemerkten. Nach einem mitreissenden Tanz zog die Prozession weiter, begleitet von Gauklern und Musikern, während wir uns auf den Weg machten, um herauszufinden, was es war, was man feierte. Unsere Schweizer Bekannten wussten nicht sofort, um was für einen Brauch es sich handelte, was sein tieferer Sinn war. So entdeckten wir eine erste lokale Besonderheit: Bekannt sind derartige Anlässe vor allem den direkt Beteiligten. Wer ein kleines Kind hat, vergisst den Bärentag nicht, sondern erwartet ihn, bereitet sich darauf vor. Wir haben viele begeisterte Eltern gesehen, die den Bärentanz mit ihren Handys gefilmt haben, um ihn später an langen Winterabenden mit den Kindern anzuschauen, wenn diese älter sind. Für uns andere ist der Brauch bestenfalls ein Grund zum Lächeln angesichts des Umzugs, aber kein «Feiertag».
Durch gründliche Internetrecherche fanden wir heraus, dass die Schweizer gern Feiertage einlegen, und so überraschte es uns nicht, als wir eine Woche später wieder Musik hörten. Diesmal wussten wir schon, dass es sich um den «Vogel Gryff» handeln musste, das wichtigste Fest in Kleinbasel. Hätten wir jedoch nicht selbst recherchiert, wären wir in seliger Unwissenheit verblieben, da wir in der Stadt keinen Hinweis auf das Fest fanden. Offenbar ist dies eine weitere Eigenheit vorsichtiger Schweizer: Informationen über bevorstehende Feiertage werden vor Aussenstehenden so sorgsam gehütet wie Geheimnisse. Überhaupt fühlt man sich als Nicht-Basler bei diesem Fest des Lebens leicht ein wenig fremd.
Ein Fest für Eingeweihte?
Etwas später, bevor wir richtig Luft holen konnten, tönte dann schon wieder aus allen Ecken und zu jeder Tages- und Nachtzeit Musik – man bereitete sich auf die Fasnacht vor. In Basel hinterlässt diese einen bleibenden Eindruck, vor allem, wenn man sie zum ersten Mal erlebt: Einerseits hat man das Gefühl, sich in einem Märchen zu befinden (Nacht, Lichter, Masken, Kostüme), andererseits ist dieses Märchen ziemlich streng (Eiseskälte im Morgengrauen, und abends platzt schier der Kopf vor lauter Flöten- und Trommelecho). Obwohl die Fasnacht als Touristenattraktion gilt (viele Baslerinnen und Basler, die wir kennen, verlassen für diese Zeit die Stadt oder verstecken sich in ihren Wohnungen), ist sie vielmehr ein Fest der Eingeweihten. Erstens muss man den lokalen Dialekt und den Kontext kennen, um während des Umzugs die Witze und Inschriften zu verstehen. Zweitens kann man leicht von ein paar übermütigen «Waggis» unsanft ausgeschimpft werden. Sie fragen: was machst du hier ohne „Fasnachtsblaggedde“, von deren Existenz wir anfangs nichts wussten. Drittens wirken die Fasnachtsumzüge eher selbstgenügsam, die «Fasnächtler» scheinen gar nicht auf Publikum erpicht zu sein.
Energie und Glamour des Karnevals mögen während der drei tollen Tage selbst solche kleinen Unannehmlichkeiten vergessen lassen. In der übrigen Zeit jedoch, namentlich während der langen Vorbereitungszeit, kann die Fasnacht einem schon manchmal «zu den Ohren raushängen». Die sehr schrillen und dumpfen Piccolo- und Trommelklänge in der ganzen Stadt können ganz schön stören – vor allem auf einem Spaziergang im Park oder am Fluss, wenn man dann fünfmal in Folge mit Umzügen konfrontiert wird. Man möge also zu dieser Basler Saison darauf gefasst sein, dass die Fasnacht nicht auf drei Tage beschränkt ist, und dass man bereits lange vor der Fasnacht oder sogar noch an drei Sonntagen nach Ablauf des offiziellen Drehbuchs mit hoher Wahrscheinlichkeit auf laute Gesellschaften trifft. Falls man also die Musik satthat, bleibt man am Wochenende besser zu Hause, denn draussen trifft man auf Menschen, die Musik machen und sich zu Umzügen formieren.
Teilnehmen oder beobachten
Auch Demonstrieren ist in der Schweiz eine Form des Feierns, insbesondere am 1. Mai und am 8. März. Festliche Demonstrationen unterscheiden sich von den üblichen politischen Demonstrationen, die bei jeder Gelegenheit und zu jedem unerwarteten Zeitpunkt stattfinden, in der Regel durch eine grössere Anzahl von Teilnehmern, durch Stände mit Getränken und Speisen und manchmal auch durch thematische Outfits. Die Stimmung bei Demonstrationen dieser Art ist oft heiter, aber natürlich kann man sie nicht als Feiertag im eigentlichen Sinne bezeichnen.
Ganz allgemein scheint uns ein Schweizer Feiertag nicht so mit Spass verbunden zu sein. Er wird mit etwas gut Organisiertem assoziiert, das buchstäblich nach der Uhr abläuft, mit seinen obligatorischen Regeln und Ritualen. Fast immer lassen sich Menschen in Teilnehmer und Beobachter unterteilen, und die Grenze zwischen beiden ist nicht leicht zu überschreiten.
Am herzlichsten und offensten fanden wir die «familiären» Feiern, wie Geburtstage oder Nachbarschaftstage, bei denen Tische nach draussen gebracht werden und alle gemeinsam feiern. Zumindest sahen wir lächelnde Gesichter und hörten entspannte Gespräche. In anderen Fällen warfen die Feiern mehr Fragen auf, als sie beantworteten.
Einerseits sind ja Rituale und alljährliche Feiern ein wichtiges Element der nationalen und städtischen Identität. Andererseits ist die grosse Frage, in welchem Moment die Tradition zu stören beginnt. So mutet es zum Beispiel ziemlich seltsam an, wenn stolze Männer während des Vogel-Gryff-Festes vom Balkon auf die unten versammelten Menschen herabblicken. Und im Jahr 2025 ist die Abwesenheit von Frauen in dieser Gesellschaft doch erstaunlich. Sie wird zwar durch die Tradition erklärt, verwirrt Neulinge aber dennoch. Am meisten überraschen aber die religiösen Feiertage – wenn man selbst nicht im Kontext steht und die Festkalender nicht auswendig kennt. Denn man hat dann das Risiko, ohne Lebensmittel dazustehen, weil die Geschäfte unvermittelt geschlossen sind. Zum Glück gibt es an Basels zwei Bahnhöfen Läden mit Spät- und Sonntagsverkauf, und die französische Grenze ist ja nicht weit.
Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Vielen Dank für diesen unterhaltsamen Text.
Ich finde einen anderen Blickwinkel immer spannend. Warum sollte man diesen Text als nicht nützlich bezeichnen?
Interessante Beobachtungen. Auch als Schweizer kann ich diese Sichtweise nur bestätigen. Wo ich hingegen einen «Betrachtungsfehler» sehe, ist in der Annahme, dass Feste und Festlichkeiten der Unterhaltung der Zuschauer dienen. Nein, das muss nicht so sein. Die Basler Fasnacht ist für Menschen die die gleichen Werte und Traditionen teilen. Niemand ist gezwungen hinzugehen. Und wenn man tolerant ist, lässt man diese Gruppe dann 3 Tage ihr Fest feiern. Ich empfehle den Damen auch ein Fest zu starten:)