Kommentar

kontertext: Was tun? Strategien zwischen Krieg und Frieden

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Hochschule Luzern hat Fragen zu Krieg, Frieden und künstlerischem Handeln aufgeworfen.

Die Aussage des deutschen Friedensforschers Julian Junk, dass junge Menschen unter 30 Jahren heute so verunsichert seien wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, betrifft auch die Schweiz. Diese Verunsicherung, aber auch die eigene Ratlosigkeit, hat ein Team von Dozierenden veranlasst, an der Hochschule Luzern Design Film Kunst eine Gesprächsreihe zu veranstalten, welche das Spannungsfeld von Krieg und Frieden mit einer anderen Sensibilität auslotet als es die Nachrichten- und Social-Media-Kanäle tun. Was könnte der Beitrag der Künste sein in einer Welt des Säbelrasselns mit ihren «sprachlichen Verseuchungen», wie sie Michel Mettler  in seinem kürzlich erschienen kontertext auf dieser Plattform kartographiert hat?

«Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft.» (Kant)

Als kantsche Vernunft kann Frieden Anker in einer differenzierten Sprache finden. Sie kann sich in politischen Dialogen entfalten, aber auch in künstlerischer Sprache. Wenn in Yerevan (Armenien) ein Strassenwandbild einen Soldaten zeigt, der sich mit dem eigenen Gewehr erschossen hat, dann lautet diese Vernunft: Seht her, junge Soldaten begehen Selbstmord, weil sie den Krieg nicht mehr aushalten – eine Tatsache, die in offiziellen Medien natürlich verschwiegen wird.

Dies berichtet Shogakat Mlke-Galstyan. Die Tänzerin und Schauspielerin hat sich  in den Jahren des Kriegs seit 2015 immer mehr als Vermittlerin für Kunst als Friedensarbeit engagiert, auch im Rahmen der schweizerischen Stiftung Artasfoundation. Die Menschen in Armenien haben sich an einen Zustand gewöhnt, der immer zwischen Krieg und Frieden liegt. Ein Ausdruck für diese Labilität sind die «Post-War Murials», Wandbilder, die an den oft beschädigten Hauswänden der Stadt eine Art Strassenmuseum bilden. Die Vernunft, die sich in den flüchtigen und sozial motivierten künstlerischen Projekten manifestiert, ist keine strategische, sondern eine menschliche.

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Graffito, Yerevan, 2022, anonym.

Zum Beispiel Post-War Butterflies

«Post-War Murials» (Nachkriegs-Wandbilder) lassen sich als Zeugnisse einer andauernden Bedrohung lesen, aber auch als Umgang damit. Zur Angst um das eigene Leben und das der Liebsten gesellt sich in Kriegsgebieten oft auch die Angst, verrückt zu werden. Das fordert die Fantasie heraus – als spezielle Vernunft der Kunst.

Eines der zartesten Beispiele dafür sind die «Post-War Butterflies» von Siranush Aghajanyan, Mosaike des Erinnerns an jung Verstorbene, Bilder der Fragilität des Lebens. Die Künstlerin versteht sie als Symbole der Liebe und der Wiedergeburt und nennt sie «Fallinginloveness», ein Wort, das es auch im Armenischen nicht gibt. Seit 2021 tauchen die Mosaike im öffentlichen Raum auf und scheinen mit ihrer Poesie viele Menschen in Armenien anzusprechen – mehr als das abgenutzte Symbol der weissen Taube.

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Siranush Aghajanyan, Post-War Butterfly, Yerevan, 2021.

Daneben finden sich auch Protestbilder mit Graffiti und Geschichten von getöteten Soldaten, welche in Armenien schon mit 18 Jahren rekrutiert werden. Alle diese Bilder sind anonym. Wo künstlerische Protestaktionen dingfest gemacht werden können, kommt es zu Verhaftungen.

Offizielle und erlaubte künstlerische Aktionen sind daher soziale Kunstprojekte, die der Heilung, der Trauer und der Traumabewältigung dienen – für Eltern, Frauen und Kinder. So etwa das gemeinsame Gestalten von Erinnerungsbüchern, Gesangsveranstaltungen und Musikworkshops für Kinder und Vertriebene sowie Räume des Nachdenkens und Trauerns, oft nur für Frauen. «Speaking out reality is more important than finding solutions», sagt Shogakat. Dass die Realität der Trauer praktisch nur von Frauen ausgesprochen wird, scheint ebenso selbstverständlich wie symptomatisch.

Strategisch und verzweifelt

In der Ukraine sind Trauerbotschaften weniger erwünscht: Dort wird auch in künstlerischen Aktionen der Wehrwille aufrechterhalten. Die bissige Satire gegen Russland und ein gewisser Superheldenkult prägen den öffentlichen Raum. Der Krieg sei zu gegenwärtig, zu verzweifelt, um andere Ausdrucksweisen zu ermöglichen, so die Bild- und Literaturwissenschaftlerin Svitlana Pidoprygora.

Entsprechend erschütternd ist ein Dokumentarfilm wie «In the rearview», (Polen/Frankreich/Ukraine 2023, Regie: Maciek Hamela), der über zirka drei Wochen fast ausschliesslich in einem Bus gefilmt wurde, mit welchem im Frühling 2022 ältere Menschen, Frauen und Kinder aus der Ostukraine die Flucht nach Polen antraten. Der Fahrer ist gleichzeitig der Regisseur. Er verwickelt die Flüchtenden in Gespräche, während draussen eine Landschaft auftaucht, die mit der Zeit des Films immer verwüsteter wird.

Die Angst und Verwirrung der Menschen im Innern des Busses ist mit Händen zu greifen, die Kamera ruht nie, man wird  durchgeschüttelt und ist unterwegs mit der Verzweiflung der Menschen, die immer wieder durch Momente von Humor und gegenseitiger Tröstung gemildert wird. Dass der Film überhaupt entstehen konnte, hat einzig mit dem Vertrauen zu tun, das die Menschen in den Fahrer und Regisseur setzen, berichtet die Filmproduzentin Kseniya Marchenko. Die Einwilligung, im Bus gefilmt zu werden, unterstreicht die Hoffnung, dass irgendwann jemand verstehen möge, was hier gerade passiert.

Künstlerische Phantasie im Informationsvakuum

Tamara Janashia ist eine der Geschäftsführerinnen der Artasfoundation mit Sitz in Tiflis, wo sich immer mehr Binnenflüchtlinge sowie Geflüchtete aus Belarus und Russland ansammeln. Georgien erfährt durch die Exilanten aber keineswegs Stärkung in seinem Widerstand gegen den russischen Einfluss, sondern eher eine neue Form von Kolonisierung. Die Emigrierten wollen vor allem dem Militärdienst entkommen, Friedensarbeit interessiert sie kaum.

Über den Krieg in der Ukraine darf kaum offen gesprochen werden. So haben junge Menschen der freien Universität Plakate mit schönen Bildern und Werbeslogans entworfen, die für Ferien und Erholung in der Ukraine werben. Wer die dazugehörigen QR-Codes aktiviert, findet  sich in den Trümmerlandschaften des Kriegs. Auch hier werde eine künstlerische Aktion eingesetzt, um Bewusstsein zu schaffen in einem Informationsvakuum, so Tamara Janashia. Blickt man auf die aktuelle Entwicklung in Georgien, wird sofort klar, wer Interesse hat an diesem Vakuum und am Zerbrechen des «georgischen Traums» von Selbstbestimmung und Frieden.

Und die Schweiz?

Für die Studierenden ist sowohl das Bewusstsein für die aktuellen Kriege wie auch die Ratlosigkeit darüber eine grosse Herausforderung. Was tun? Wo betreffen die Kriegsgräuel sie und ihr Umfeld? Dabei ist ihnen die Frage nach der militärischen Sicherheit der Schweiz weniger wichtig als die der Solidarität: Was tut die Schweiz? Was wäre unser kleiner Handlungsradius als Hochschulangehörige?

Während wir auch in der Hochschule die Solidarität mit der Ukraine seit zweieinhalb Jahren erleben und auch viele geflüchtete Studierende aufgenommen haben, gibt es gegenüber dem Nahostkonflikt eine Ohnmacht, die bisher nicht kanalisiert werden kann. Entsprechend radikal waren die Forderungen der Studierenden nach einem Boykott für die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten.

Roland Dittli von Swisspeace bringt Vorschläge in die Diskussion. Statt Boykottforderungen empfiehlt er, Partnerschaften einzugehen mit dem akademischen Personal im Exil, welches die zerstörten Universitäten in Gaza als Satelliten am Leben erhält. Sie brauchen dringend Unterstützung, um ihre Arbeit fortsetzen zu können als Fernuniversitäten.

Wissenschaftliche und künstlerische Arbeit aus Palästina könnte sich gerade hier in der Schweiz viel mehr artikulieren und verbünden mit Friedensperspektiven, mit offenen Debatten über Antisemitismus, Völkermord, Kriegsverbrechen und vor allem mit offenen Diskussionen über die Möglichkeiten von Frieden.

Dazu muss mehr Kunst, Wissenschaft und Kultur aus Palästina gezeigt, eingeladen und in Diskussion gebracht werden, hier könnte auch «Swissuniversities» viel mehr tun. Gerade Wissenschaftler:innen und Kunstschaffende könnten den Raum zwischen Boykottaufrufen und «Business as usual» mit ihrer eigenen Vernunft und Phantasie beleben. Zerknirschtes oder empörtes Zuschauen genügt nicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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2 Meinungen

  • am 6.12.2024 um 12:15 Uhr
    Permalink

    «Verunsicherung», «Ratlosigkeit» von «jungen Menschen unter 30 Jahren». Ich finde: «Gehirnwäsche» sei Dank. Anfang 80er-Jahre gab es noch Wissen, Friedensbewegung gegen USA.
    Dr. Leo Ensel «Ukraine – Krieg ohne Ursachen?» (Youtube). Lied von Karat (DDR) «Der Blaue Planet» betr. Neutronen- bzw. Atomraketen. Inzwischen sehe ich Null Friedensbewegung, obwohl «Krankheit» seit damals final fortschreitet.
    «Der Blaue Planet» (1982)
    Tanzt unsere Welt mit sich selbst schon im Fieber?
    Liegt unser Glück nur im Spiel der Neutronen?
    Wird dieser Kuss und das Wort, das ich dir gestern gab
    Schon das Letzte sein?
    Wird nur noch Staub und Gestein ausgebrannt alle Zeit
    Auf der Erde sein?
    Uns hilft kein Gott, unsere Welt zu erhalten
    Fliegt morgen früh um halb drei nur ein Fluch und ein Schrei
    Durch die Finsternis?
    Muss dieser Kuss und das Wort, was ich dir gestern gab
    Schon das Letzte sein?
    Soll unser Kind, das die Welt noch nicht kennt
    Alle Zeit ungeboren sein?
    Uns hilft kein Gott unsere Welt zu erhalten

  • am 7.12.2024 um 01:58 Uhr
    Permalink

    Ja, Kunst kann etwas bewirken, sowohl beim Künstler wie beim Publikum. Aber in Europa wird Kunst sofort vermarktet (business, business), also kein Ansporn zu neuem Bewusstsein.
    Zu Palästina und Kunst: die gibt es natürlich, im Moment viele Gedichte aus Gaza. Aber unsere Universitäten halten sich mit Einladungen zurück, weil sie die Palästina- Sympathisanten fürchten – man gilt schnell als Antisemit. Verschiedene Organisationen Schweiz-Palästina organisieren oft Kunstveranstaltungen aus Palästina: Filmreihen, Poesie, Gemälde, handwerkliche Produkte. Es lohnt sich, einmal rein zu schauen!

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