Kommentar
kontertext: Warum früher alles besser war
Neulich hörte ich in der Strassenbahn eine Frau zur anderen sagen: «Die städtischen Verkehrsbetriebe sind auch nicht mehr, was sie mal waren.» Schwer zu sagen, woher dieser Befund kam, denn die Fahrt verlief unfallfrei, die Türen öffneten sich auf Knopfdruck mit dem vertrauten Zischen, die Ansage der Stationen klang metallen, aber verständlich, und das obligate Schollern der Räder drang beruhigend durch den Wagenboden in den Fahrgastraum.
Ebenso gut hätte die Dame sagen können: «Die Pferderennen sind auch nicht mehr, was sie mal waren, so wie die Seifenspender», und das sinnige Nicken ihrer Begleiterin wäre ihr sicher gewesen. Auch ich kam in Versuchung, ihr beizupflichten, denn so ist es doch: Heutzutage werden Neugeborene nur darum nicht mehr Elvira getauft, weil die alte Elvira-Qualität unerreichbar geworden ist. Die Gartencenter sind nicht mehr, was sie waren, und sogar die Teppiche im Matratzenstudio sind einst besser schamponiert gewesen. Das könnte Tante Elvira belegen, würde sie noch leben. Und dann wird auch noch die TV-Serie abgesetzt, an die man sich gewöhnt hat, obwohl sie doch eigentlich albern war, und ein völlig unverständliches People-Format nimmt ihren Sendeplatz ein.
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So geht man widerwillig mit der Zeit, die Sortimente wechseln, ans Herz Gewachsenes fällt aus Rang und Traktanden, aus anderem wächst man selber hinaus, die Moden kommen und gehen wie Wellen am Strand, und nur eines bleibt wie festgemauert stehen: Der Wunsch des Menschen, sich an etwas zu halten, was er den Status quo nennt und als normal empfindet.
Status quo wieso, wenn doch alles fliesst?
Einfach weil man sich in einem Akt der Willkür einen Augenblick in der Zeit herausgegriffen hat, um ihn zum Präsens seines Lebens zu erklären. Nun unterteilt dieser Punkt die Zeit. Was hinter ihm liegt, heisst früher, das andere heute: «Heute sind die Leute fahrig und zerstreut und die Waren von minderer Güte», möchte man sagen. «Der Traumberuf neunjähriger Knaben ist nicht mehr Strassenbahnchauffeur, was auch sein Gutes hat. Und trotzdem war das Leben in alten Zeiten einfach schöner!»
Das Heute dagegen beschert Niedergang und Verfall, abgesehen von einigen Annehmlichkeiten. Und der Mensch ist dazu bestimmt, diese Kalamität zur Kenntnis zu nehmen und hin und wieder zu beklagen als die Auflösung alles dessen, worauf er sich einst verliess.
Vielleicht sollten wir doch lieber von den Annehmlichkeiten sprechen, weil die Verluste schon breit genug erörtert sind? Also hätte ich mich an meine Mitfahrerinnen in der Strassenbahn wenden können, um zu sagen: «Aber der Sandwichtoaster, meine Damen, der Lippenbalsam und der Laserpointer!»
Das wäre kaum auf Anklang gestossen, auch wenn ich hinzugefügt hätte: «Oder ist etwa die Aussicht, daheim eine Focaccia zuzubereiten, nicht erhebend für Sie?»
Offenbar nicht. Darum habe ich nichts gesagt und still gedacht: Die Leute in der Strassenbahn sind auch nicht mehr, was sie mal waren.
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Es ist schon so: Dass die Mandschuren in ihrer Mandschurei ohne Labello überlebt haben, spricht nicht für den Lippenbalsam, obwohl der Feuchtigkeitshaushalt der menschlichen Lippen kein Höhepunkt der Schöpfung ist. Doch den Damen im Tram wäre bestimmt auch ein Grund eingefallen, den Laserpointer und den Sandwichtoaster in den Topf der obsoleten Erfindungen zu werfen, gemeinsam mit der elektronischen Fussfessel für bedingt Entlassene.
«Früher gab es noch richtige Polizisten», hätte die mit dem Stoffhut dazu gesagt: «Damals hat der Staat noch Leute angestellt, die Missetätern folgten und sie bei Bedarf auf frischer Tat ertappten. Sie trugen Uniformen aus währschaftem Stoff, und man durfte sie noch ‹Wachtmeister› nennen, so wie Indianer ‹Indianer›. Heute wimmelt es von unverständlichen Bezeichnungen, und für alles wird dieses blöde Internet genutzt, das nur Arbeitsplätze vernichtet und unsere Kinder mit Schmutz bewirft.»
So höre ich die beiden reden, jedenfalls die Wortführerin, und von der anderen meine ich zu sehen, wie sie energisch nickt, ohne eine Kopfbedeckung zu tragen.
Recht haben sie, und auch wieder nicht. Denn aus einem Sandwichtoaster muss nicht nur Schund kommen. Im Gegenteil, er kann das Leben besser machen. Weiss man ihn zu bedienen und hat man die richtigen Rezepte zur Hand, meinetwegen aus dem Internet heruntergeladen, kann man sogar mit Fussfessel einen patenten Festschmaus hinzaubern, und zwar im Handumdrehen.
«Alles muss ruckzuck gehen bei der heutigen Jugend», könnte die Hutlose dazu sagen. «Früher hatten die Menschen noch Zeit.»
Und ich darauf: «Aber ich habe es erlebt! Neulich im Entlebuch, vor dem Sandwichtoaster meiner Freunde, habe ich Bauklötze gestaunt und vermutet, dass sie nur darum ihre Villa im Grünen gekauft haben, weil sie sich Platz für dieses Ungetüm verschaffen wollten. Seither träume ich vom Erwerb einer solchen Fazilität und verfluche mein kleines Gemäuer, das die Anschaffung verhindert. Glauben Sie mir, seit ich im Entlebuch war, teilt sich meine Zeit in ein Davor und Danach: Es gibt ein Leben ohne und eines mit Sandwichtoaster. Dabei geht es weniger um das Gerät an sich als um die ihm zugrunde liegende Idee – um die Möglichkeit eines Sandwichtoasters.»
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So hätte ich dahergeredet und ganz vergessen, dass es noch Tausende anderer segensreicher Dinge gibt, von denen ich nichts weiss, so wie ich auch vom Sandwichtoaster lange nichts ahnte, vor jenem denkwürdigen Moment im Entlebuch.
Also spräche ich weiter zu einer imaginären Hörerschaft: «Schicksalsgenossen und Mitlandleute, gedenkt ihr je, eine Liegenschaft zu erwerben, gebe ich euch folgenden Rat: Zuerst ermesst die Grösse der Geräte, die ihr in eurem Leben noch anschaffen wollt. Seht nur, wie es mir erging: Nun ist es nicht mehr zu ändern, nun kann ich nie wieder so tun, als wüsste ich nichts von der Existenz des Sandwichtoasters. Nach jenem Augenblick in einer Entlebucher Einbauküche bin ich nicht mehr derselbe wie zuvor.»
Während ich dies vortrüge, legten die zwei Damen ihre Köpfe schief, aber nicht wie schwerhörige Hunde, sondern wie Vertreterinnen der Anklage, die dem Plädoyer der Verteidigung lauschen. Gingen sie nun hin und kauften das von mir propagierte Gerät? Zögen sie die Notbremse und stürzten sich aus der Strassenbahn, um möglichst schnell von der bunten neuen Welt des Sandwichtoasting zu profitieren?
Ich bezweifle es, muss mir aber vorwerfen, zu wenig dafür getan zu haben. Ich habe in der Strassenbahn geschwiegen und vorgegeben, ich studierte die Auslagen in den vorbeigleitenden Schaufenstern. Keine Sekunde habe ich erwogen, mahnend auf diese Kritikerinnen des innerstädtischen Schienenverkehrs einzuwirken, um sie wenigstens am Beispiel des Laserpointers davon zu überzeugen, dass nicht jede Erfindung ein solcher Unsinn ist wie die Strassenbahn. Diese stellt fraglos eine Missachtung des Umstands dar, dass der Mensch laufen kann. Denn wofür sind wir von den Bäumen herabgestiegen, etwa, um Strassenbahn zu fahren?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Die Gruppe ist dabei, sich neu zu konstituieren. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Mit dem Alter kommt die Einsicht, so sagt man. Manchmal wünschte ich so unbefangen wie früher und ohne die «Einsicht» in das was gerade alles daneben geht und in eine Falsche Richtung geht wieder morgens auf zu wachen und mich über den Tag freuen.
Früher war manches einfach besser…..