Kommentar

kontertext: Von Zaungästen und Kiebitzen (2)

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Was soll gemeinfrei sein, was vor neugierigen Blicken geschützt? Ein Streifzug durch die Allmende des Schauens, die ‹Augenweide›.

Früher gab es sie oft, jene Dachwohnungen in der Nähe von Sportstadien, die einen Blick aufs Spielfeld gewährten. Da wurde grilliert und Wäsche getrocknet, abends brannte Licht, und an Spieltagen gehörte auf Balkonen und Terrassen der Schlachtenlärm aus dem nahen Rund zum Lebensgefühl. Das weltweite Sportmarketing steckte noch in den Kinderschuhen – man konnte mit Recht von einem ‹Heimspiel› sprechen, wenn das örtliche Team auflief. Heute ist das allenfalls in kleineren Städten und unteren Ligen möglich.

Auf bröckligen Rängen

Legendär in diesem Zusammenhang ist das Aarauer Brügglifeld mit seinem rustikalen Charme. Hier wurde Lokalsport getrieben, als Fussball noch mehr von der Rivalität zwischen Arbeiter- und Nobelclubs bestimmt war als von Merchandising und medialem Getöse. Hier mochte einem der Dropkick der Saison oder die Jahrhundertschwalbe gelingen, doch abseits der Region erfuhr niemand davon. Auf bröckligen Rängen und in Sichtweite der Wohnquartiere rauften die Unentwegten sich Woche für Woche die Haare, wenn ihr Team einen Stuss zusammenkickte, und auf den Balkonen rundum sass das unfreiwillige Publikum: Heimspiele waren in der Miete inbegriffen. Solange der Abstieg nicht Tatsache war, hielt man dem Verein die Treue und träumte davon, den Pokal in den Himmel der Fussballprovinz zu stemmen, um als Underdog die Sportprominenz zu ärgern.

Unvergessen in diesem Zusammenhang sind die Bilder einer Partie zwischen Maradonas SSC Napoli und den korsischen Lokalmatadoren von Bastia. Eine einmalige Konfrontation: Die Italiener mit ihrem gottgleichen Kapitän trafen die wenig geldverwöhnten Korsen zu einem Spiel auf europäischer Ebene. Die Footage zeigt frenetische Autocorsos in der Inselkapitale, dann, wie Menschen in Scharen Zäune überklettern. Das Stadion ist brechend voll. Wer dieses Bild mit heutigen Augen sieht, ruft händeringend nach der Baupolizei: Ein Wunder, blieb die Katastrophe aus, so überfüllt waren die Ränge. Kaum die Hälfte der Anwesenden hatte wohl Eintritt bezahlt, doch nach dem Anstoss kümmerte das keinen mehr.

Ein Bild für Fussball-Nostalgikerinnen? Sicherlich gab es den Kommerz schon damals. Was anderes mochte die ‹Hand Gottes› zur Stiefelspitze gelockt haben als Geld, aus welchen Quellen auch immer? Doch in der Hitze jener Sommernacht versank alles Profitstreben im himmelblauen Meer der korsischen Fans.

Ein Augenschein der grossen weiten Welt

Seit Jahrzehnten ist es ein Traum vieler Fussballverrückter, dass der Spielwitz über das Kalkül der Sportkartelle triumphiert, und sei es nur für eine Nacht. Doch heutige Zäune sind nicht mehr so leicht zu überwinden wie zu Maradonas Zeiten. Die grossen Arenen sind Kathedralen des Renommees, weit wegrenoviert vom Lokalkolorit und geprägt von der Ikonografie der internationalen Brands – kein unbefugter Blick möglich, zu hoch in den Himmel sind die Ovale gebaut. Sie sind luxuriös ausgeleuchtet, mit Nobellounges und modernen Katakombenfeatures ausgestattet, und dass sie die Namen ihrer Investoren tragen, ist als Begleitgeräusch der globalen Vermarktung wohl unvermeidlich.

Von dieser Hochglanzrealität sind jene Fans weit entfernt, die sich die Ticketpreise vom Mund absparen. Trotzdem kaufen sie Dauerkarten und überteuerte Shirts und abonnieren die einschlägigen Kanäle. Dass aber die Distanz zwischen Athletinnen und Fans grösser geworden ist, darüber können auch Social Media nicht hinwegtäuschen.

Mit der Tendenz zum durchchoreographierten Event, mit organisierter Anreise und technisiertem Ticketing, ist jener Ortsbezug getilgt, der einst das Umfeld der Stadien prägte: Quartierkinder wussten genau, welche Bäume und Masten zu erklettern waren, um einen Blick vom heiligen Rasen zu erhaschen. An den Seitenpforten versuchten sie den Hausmeister in Gespräche zu verwickeln und sich durch Helferdienste Zutritt zu verschaffen. Was heute professionelle Roadies tun, haben im Zürcher Hallenstadion einst Jugendliche aus der Nachbarschaft besorgt: Vor dem Grossanlass entluden sie Lieferwagen, spannten Planen, entrollten Kabel – und kamen so zu ihrem Gratis-Stehplatz, einem Augenschein von der grossen weiten Welt.

Zaungäste, Paparazzi und der streunende Blick

Der freie Blick, ob erbettelt oder erschlichen, ist heute ein rares Gut. Wer sich Venedig anschauen will, soll Eintritt bezahlen. Dass die historische Bausubstanz unter der Überbegehung leidet, ist unbestritten. Dennoch wirkt es seltsam, wenn das freie Schweifen des Blicks von Bezahlschranken beschnitten wird. Soll auch die Schweiz für jede Ansicht des Matterhorns Tantiemen einziehen? «Schauen wird wohl noch erlaubt sein», so lautete die Parole, als wir, kleine Habenichtse, uns im Globus den Kaschmir der Begüterten von nahe besahen (abschätzig selbstredend).

Die Freiheit des öffentlichen Raums machen Paparazzi sich zunutze, wenn sie als Grosswildjäger auf der Lauer liegen, um ihr Blitzlicht ins verkniffene Gesicht einer königlichen Hoheit zu werfen. Von anderer Wesensart ist der Kiebitz: Als Beobachter wohnt er einem Tischspiel bei. Ohne selber etwas zu riskieren, sieht er den Spielerinnen in die Karten. Dieser Umstand – dass er zwar neugierig ist, doch nicht aus der Deckung treten will – mag für den schlechten Ruf verantwortlich sein, der ihm und seinem Tun, dem Kiebitzen, anhaftet. Er will weder gewinnen noch verlieren, er möchte unberührt bleiben und aus sicherer Distanz verfolgen, wie das Schicksal andere anfasst.

Ausgesperrt oder Teil des Runds

Und der Zaungast, um auf diese weniger fassbare Gestalt zurückzukommen: Was macht ihn aus? Anders als der Paparazzo zieht er keinen direkten Nutzen aus seinem Tun, und für die kiebitzige Wollust ist seine Position zu entlegen. Sein Einblick ist nicht intim, er teilt ihn mit dem regulären Publikum. Und doch ist auch er ein Mittlerwesen zwischen denen, die Zugang geniessen, und jenen Ausgesperrten, die zurückbleiben hinter einer bald sichtbaren, bald imaginären Schranke. Sein Motiv ist mehr die List als die Heimtücke. Er klettert, nutzt Lücken im Dispositiv, eine kurze Unaufmerksamkeit bei den Wachleuten – vielleicht hilft ihm auch sein schlanker Wuchs beim Durchschlüpfen einer schmalen Öffnung. Allerdings muss er seit geraumer Zeit mit dem kalten Auge der Überwachungskameras rechnen.

Kein günstiges Pflaster wären die Olympischen Spiele für ihn gewesen. Die Mammutveranstaltung in Paris erstreckte sich über immense Flächen, Helikopter kreisten, Bewaffnete riegelten Stadtteile ab, und Sprengstoffhunde beschnüffelten Brücken – wer da aus Wehmut nochmals jenes Kind hätte sein wollen, das über Zäune späht, wäre weggewiesen, womöglich gar in Gewahrsam genommen worden. Beim Marathonlauf dagegen konnte man sie sehen, die beiläufig Interessierten aus dem Quartier. Sie nutzten die seltene Gelegenheit, säumten die Strassen oder radelten auf parallel geführten Achsen eine Weile mit, um zu erleben, wie Laufköniginnen gekrönt werden.

Wildern auf der Augenweide

Der Mundraub ist wohl das lässlichste aller Kavaliersdelikte: Wer aus Entbehrung stiehlt und nicht zur Bereicherung, tut nichts Verwerfliches – selbst die Bestohlenen werden auf Wiedergutmachung verzichten, wenn sie erkennen, dass die Tat aus Hunger geschah. Wer seine Neugier stillen möchte, obwohl ihm das Eintrittsgeld fehlt, übt Mundraub am Sichtbaren und bedient sich auf der Augenweide. Ihr Fortbestand wäre zu wünschen. Ist es denn kein Menschenrecht, Blicke zu werfen? Sollte im öffentlichen Raum nicht jede Ansicht gemeinfrei bleiben, damit wir uns auch wirklich ‹ins Freie› begeben, wenn wir unsere vier Wände verlassen?

Unwillkürlich fällt da mein Blick auf die Vogelkundler, denen ich regelmässig beim Spazierengehen begegne. Sie scheinen die Natur als letzte Allmende des Blicks zu sehen. Sonntag für Sonntag bauen sie rund um den hiesigen Stausee ihre Stative auf, um seltenen Arten beim Brüten zuzuschauen, beseelt von dem seltsam positivistischen Gedanken, dass nur das explizit Verzeichnete wirklich existiert – solange jemand sie erkennt, die seltene Art, und seine Beobachtungen protokolliert, ist sie noch nicht ausgestorben. Und so nehmen sie mit ihren Teleskopen etwas in den Blick, das das unbewehrte Auge des Passanten nicht sieht. Sie tun es in aller Öffentlichkeit, kaum berührt von dem Gedanken, dass sie beobachtet werden könnten, von mir etwa, wenn ich in sicherer Entfernung stehenbleibe und mich frage, ob auch sie dereinst zu den bedrohten Arten zählen könnten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Beat Sterchi und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 18.08.2024 um 12:25 Uhr
    Permalink

    Beim Bau des Basler «Joggeli»-Stadions wurde die zugehörige Edel-Alterssiedlung so konzipiert, dass die betuchten Rentner gratis vom Wohnzimmer aus Fussball schauen konnten. Als die UEFA die Konditionen für die EM aushandelte, bestand sie darauf, dass die Fenster der Rentner abgedunkelt werden mussten. Gratis Fußball schauen? Da könnte ja jeder kommen!

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