Kommentar

kontertext: Vita-Parcours – ein Begriff fürs Leben

Silvia Henke ©

Silvia Henke /  Ironie für Fortgeschrittene: In Basel wurde beim Bio-Zentrum der Universität ein Vita-Parcours als Kunstinstallation eröffnet.

Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als der Vita-Parcours in den Schweizer Wäldern zum Familiensport erhoben wurde. Als unsere Eltern Turnschuhe kauften und uns am Sonntag ins Auto packten Richtung Muttenzer Wald, war uns so halb bewusst, dass wir Pioniere waren. Anders als in den diversen Turnvereinen, denen wir auch angehörten, waren wir hier als Familie vereinigt, was sich auf jedem der sorgfältig beschrifteten und illustrierten blauweissen Schilder des Parcours bestätigte: Wir machten das Familien- und nicht das Sportprogramm, woran ich auch später lange festhielt. Sobald man zu zweit geht, erlaubt man sich das entspanntere Programm, so meine Erfahrung, Sportler sollen die anderen sein. Ich wurde also frühe Zeugin und Aktivistin in einer Bewegung, die Bestand hat. Ihre Entstehungsgeschichte ist noch immer ablesbar in den über 500 Vita-Parcours der Schweiz: Sie führen durch Wälder, sie haben einen Teil des Waldes als Gerät integriert, sie sind für Sportler und auch für Familien (ohne Hunde) geeignet. Wenn nun ein «Vita-Parcours» als Kunstinstallation inmitten des Life Science Campus der Universität in Basel auftaucht, dann ist das wie ein kleiner Weckruf: Was soll mir das bedeuten? Und was bedeutet es für das Biozentrum, das nun auf seinem Gelände, im benachbarten Park und im Inneren des Gebäudes fünfzehn Stationen mit klassischen Beschriftungen und Geräten als künstlerische Intervention versammelt?

Ein Begriff fürs Leben

Um die Idee des Vita-Parcours zu fassen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte, wie sie unter anderem Wikipedia erzählt. Die Legende heisst: 1968 begann eine Männerturnriege im Wald mit altem Holz zu trainieren und forderte bald, dass das Gerät zur Weiterverwendung liegen bleiben solle. Die «Vita» Lebensversicherung wurde Partner der Idee, so kam es zum Namen und zum Konzept. Anders als der deutsche Name «Trimm-Dich-Pfad», der einen leicht militanten Appell an Drill und Selbstertüchtigung enthält, verweist der Name «Vita-Parcours» auf den Gedanken der Prävention, der Gesundheit und der Natur. Er vermittelt aber auch eine Idee vom Leben in Bewegung, durch das wir hier gehen, dort sprinten, uns dehnen, dann balancieren, einmal mehr Kraft, dann wieder mehr Geschicklichkeit brauchen.

Nirgends auf der Welt gibt es eine solche Dichte an Waldpfaden für Bewegung, Koordination, Kraft und Ausdauer wie in der Schweiz. In Coronazeiten wurden sie wieder entdeckt als Alternativen zu den geschlossenen Fitnesszentren und schafften es sogar in die New York Times: «A Swiss Fitness Movement from the 1970ties Comes Back into Vogue». Nichts deutet darauf hin, dass die Parcours verschwinden werden; ihr Unterhalt kostet an die 2000 Fr. pro Jahr, was sich noch jede Gemeinde leisten kann. Doch was ändert sich nun an ihrem Grundgedanken, wenn sie als Kunstwerk und «Readymade» in der urbanen Zone auftauchen?

«Vita-Parcours alias Life Science»

Der Basler Künstler Christoph Büchel ist bekannt für provokative Raum-Umnutzungen: In Kassel installierte er einen Billigsupermarkt und ein Solarium, in der Wiener Secession einen echten Swingerclub. Letzterer warf höhere Wellen in der Presse . Als Referenzprojekt zum «Vita Parcours» ist er interessant, weil sich auch dort die Frage nach Ernst und Unernst der Kunst gestellt hat. Denn so wie man den Swingerclub im Museum als «normaler» Mensch oder als Kunstbesucher:in echt besuchen konnte, können alle den «Vita-Parcours» echt benutzen, er wurde sogar als echt zertifiziert von der Zürich Versicherung. Aber man wird das mit anderen Ideen von Körper, Sport, Freizeit und Gesundheit tun, wenn die Installation gleichzeitig eine Kunstinstallation ist.

Die Kunst von Christoph Büchel ist immer ironisch, aber nie unernst. Das heisst, er rückt das, was er anrichtet (zeigt, installiert) in eine ästhetische Dimension, die neue Zusammenhänge stiftet und Brüche enthält. So lautet der zweite Titel des Projektes «Life Science». Benutzt man also diesen «Vita-Parcours», dann passiert mindestens zweierlei. Erstens muss man einige innere Grenzen überwinden, um sich auf den kurzen Strecken des Geländes zwischen Neubau und Rückbau nicht lächerlich vorzukommen. Zumal man als Benutzerin automatisch Teil eines Kunstprojektes und als solche nach den Regeln der Kunst betrachtet werden kann. Man setzt sich aus. Ob sich das ausblenden lässt, ob hier jemals Familien turnen, ist zumindest fraglich. Und ob die Studierenden, die mit Unisport und Fitnesszentren eher überversorgt sind, den Parcours brauchen, ebenfalls. Zweitens muss man den Parcours immer in Beziehung setzen zu seinem Umfeld, das nun eben nicht der Wald, sondern zum einen eine Ruine ist (der Rückbau des alten Biozentrums), zum anderen eine neue Hochglanz-Forschungsinstitution, die ihrerseits seit langem an einem Begriff von Leben arbeitet.

Das neue Bio-Zentrum der Universität Basel am Ort des neuen «Life Science»- Zentrums der ETH Schweiz hat einen besonderen Rang in der Schweizer Forschungslandschaft. Es verbindet die ehemals naturwissenschaftliche Forschung der Biowissenschaften mit dem nationalen Programm der ETH, die sich als «Life-Sciences» längst von der Natur entfernt haben. Büchel setzt diese Beziehung topographisch und mit dem zweiten Titel der Arbeit um. Damit bestätigt er auch den Vorrang der neuen «Lebenswissenschaften» über die alten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die einmal das «Leben» vermessen haben. Die «Life Sciences» in Basel werden durch seinen «Vita-Parcours» zudem mit einer Schweizer Erfolgsgeschichte verbunden, die seit der Übernahme durch die Zürich Versicherung immer den Namen «Zürich» trägt.

Christoph Büchel, «Vita parcours (Life Science)», Kunstinstallation Bio Zentrum Basel 2022, Ansicht Neubau (Foto: Ursula Henke)
 

Die Moral von der Geschicht’?

Solche und andere Ironie hat Büchel, der wenig Auskunft gibt zu seiner Kunst-Sport-Anlage, in sein Konzept einbezogen. Die Kosten des «Vita-Parcours» als Kunstprojekt waren mit 250’000 Fr. zehnmal höher als bei einem echten Wald-Parcours. Auch das hat Büchel berechnet, sein Preis ist branchenspezifisch – für Kunstwerke nicht unüblich, wenn sie den richtigen Auftraggeber finden.

Bei der Eröffnung des Parcours Ende Juni sagte der Zellbiologe Alex Schier, Direktor am Biozentrum, etwas Erstaunliches. Er verglich die Arbeit des Künstlers mit jener des Forschenden im Labor: Beide hätten oft die Schwierigkeit, nach aussen zu vermitteln, woran sie gerade arbeiten – zum Beispiel im Bereich der Mikrobiologie. Und beide wüssten selber auch nicht immer, wie es herauskommt.

Nun, nach einer kleinen Weile kann ich als Nachbarin dieses «Vita-Parcours» sagen: Er hat meine Vorstellung eines Vita-Parcours verändert, zerlegt, ironisiert und ein Stück Kindheitsgeschichte aufgeklärt. Was er dem Bio-Zentrum wirklich beschert hat, wird sich noch weisen.

Christoph Büchel, «Vita parcours (Life Science)», Kunstinstallation Bio Zentrum Basel 2022, Ansicht Rückseite /Rückbau altes Bio Zentrum (Foto: Ursula Henke)

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi. 

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst & Religion, ästhetische Bildung, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen[i1]  in Magazinen und Anthologien.



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Eine Meinung zu

  • billo
    am 8.08.2022 um 11:56 Uhr
    Permalink

    Köstlich!
    In meiner Nachbarschaft am nördlichsten Strand des Mittelmeers auf einer seit Jahren vernachlässigten kleinen Insel, auf der einst Sommergäste ihre Ferien in einem Bungalow oder Wohnwagen verbrachten und deren meeresseitiger Strand von der lokalen Bevölkerung rege als Badestrand genutzt worden war, muss ein nach langen Arbeitsjahren in der Schweiz nach Italien zurückgekehrter Vita-Parcours-Fan es geschafft haben, die Vita davon zu überzeugen, auf dieser Kleinen Insel einen Parcours zu errichten. Wer das war und wer hier trainiert hat, konnte mir niemand sagen, nachdem ich bei einer an sich unerlaubten Durchquerung des längst verkrauteten Geländes zu meine Verblüffung auf noch halbwegs taugliche Ruinen der altvertrauten Trainingsposten gestossen war.
    Nachdem kürzlich Red Bull den grossen Yachthafen und die benachbarte Insel gekauft hat, bin ich gespannt, was aus dem wohl einzigen Vita-Parcours Italiens wird.

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