Kommentar

kontertext: Valentinas Rezeptbuch

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Das Glück, Kriegsvertriebenen eine Bleibe bieten zu können, ist prekär für beide Seiten. Eine Bilanz nach einem Jahr.

Vor bald einem Jahr reiste eine ukrainische Flüchtlingsfamilie auf verschiedenen Wegen zu uns in die Schweiz. Zuerst kam Valentina, die Älteste, per Bahn über Deutschland, später die Tochter mit drei Kindern aus Prag. Igor, ihr Ehemann, folgte zwei Wochen später – über die grüne Grenze, obwohl er als dreifacher Vater nicht erwarten musste, vor dem Schlagbaum eingezogen zu werden. Ein zweites Paar stiess zwei Monate später via Niederlande dazu. Seither lebt die achtköpfige Familie in der Schweiz. Je näher der Jahrestag rückt, desto lebhafter erinnern wir uns: Im März 2022 trafen sie wie einzeln verwehte Blätter hier ein, die Mutter mit den Kindern in einem Auto, dessen Zähler 320’000 Kilometer anzeigte. Es war vollgepfercht mit Schlafsäcken, Schnullern, Jacken, Einweckgläsern, Kissen, Lieblingsspielzeug und einigen wenigen Erinnerungsstücken. Nur der Hund fehlte – und ein Buch, von dem hier noch die Rede sein muss, weil es Wichtiges enthält.

Nur schon die Frage, was mitkommen soll auf eine solche Reise, gestellt über dem offenen Kofferraum, mutet unausdenklich an. Doch damals verfielen wir kaum auf solche Gedanken. Zu viel war zu tun, zu neu war die Situation: Waffendonner in Europa, in unseren Knochen die kaum ausgestandene Pandemie, und nun Kriegsvertriebene vor der Tür, übernächtigt, mit grossen Packen unter den Armen, soeben gelandet auf der Wohlstandsinsel Schweiz.

›Unsere Ukrainer‹, wie wir sie manchmal scherzhaft nennen, haben sich rasch eingelebt: Sie waren bereit, die Gebräuche unseres Landes hinzunehmen, auch die Eiertänze, die man hier um Formalitäten aufführt. Doch wenn wir heute mit ihnen die täglichen Erfordernisse besprechen, ist uns noch immer nicht klar, was das Wort ›eingelebt‹ wirklich bedeutet: Richten sie sich auf ein Dasein in der Schweiz ein? Oder warten sie auf die erste Gelegenheit, um zurückzukehren, sollte die Lage sich beruhigen?

Wir zögern, danach zu fragen, denn wir fürchten, Emotionen aufzurühren, die sich erst mühsam legen mussten. Auch könnte eine solche Frage den Eindruck erwecken, wir drängten auf ihren Aufbruch. Nichts liegt uns ferner. Denn ihre Anwesenheit beruhigt uns. Wenn wir sehen, wie sie beisammen sitzen und in der Gemeinde zaghaft neue Bekanntschaften schliessen, lebt eine Art Glaube auf: die Vorstellung, wir vermöchten etwas mehr, als nur täglich neu empört zu sein, während die Hiobsbotschaften aus ihrer Heimat unermüdlich gegen unser gesichertes Dasein anrollen.

Es scheint, dass die Frage von Bleiben oder Zurückgehen von Generation zu Generation anders bewertet wird: Irina, die Jüngste, wagt ihre ersten Schritte und probt den aufrechten Gang – auf welchem Boden, scheint ihr gleichgültig zu sein, solange die Hand der Mutter sie führt. Die beiden Buben knüpfen eifrig Schulfreundschaften, lernen blitzschnell Deutsch und sind seit dem ersten Tag aktiv im Judo-Club. Kaum waren sie hier, standen Regionalmeisterschaften an. Die gewonnenen Medaillen zeigten sie stolz, doch auch etwas schamhaft her, da immerhin zwanzig Schweizer gegen ihre Kampfkünste das Nachsehen hatten. Dabei sind sie nicht hergekommen, um zu siegen, sondern um zu leben.

Valentina dagegen, die Grossmutter, ist zwar froh, sich und ihre Schützlinge in Sicherheit zu wissen, und manchmal zeigt ihre fast segnende Gebärde Dankbarkeit – vor allem dann, wenn Ämter zufriedenzustellen oder Kleinigkeiten aufzutreiben sind, deren deutsche Bezeichnung sie nicht kennt. Doch an Fondue, Rösti oder an der Knallerei zum Nationalfeiertag hat sie nur höfliches Interesse gezeigt. Auf der ersten Sonntagsfahrt nickte sie im Glacier-Express ein. Ihre Nächte müssen unruhig sein; oft döst sie tagsüber im Stuhl, wenn sie im Kreis ihrer Liebsten ist. Kinderstimmen beruhigen sie.

Nach bösen Träumen zu fragen oder ärztliche Begleitung anzuraten, verbietet sich. Trotzdem haben wir Valentina später die Berner Altstadt und den Rheinfall gezeigt, auch ruhige, friedliche Orte im Entlebuch. Sie hat sich einen Ruck gegeben und anerkennend genickt. Doch abends war sie sichtlich froh, zurück in der Küche zu sein. Die ist das Schalt- und Nervenzentrum ihres Exils, denn hier bereitet sie ihre heimischen Speisen zu.

Oft ist zu hören, Interkulturalität beginne im Gaumen. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer werden längst Risotto und Polenta gekostet haben, wenn sie erstmals von der goethischen Zitronenblüte hören – «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, …». Und so ist dieses erste Jahr mit der Gastfamilie auch zur kulinarischen Reise für uns Daheimgebliebene geworden, im Sinne einer umgekehrten Willkommenskultur: Borscht und Wareniki, die Teigtaschen mit Kartoffeln oder Kohl, haben wir kennengelernt, auch Eierspeisen nach westukrainischer Art, Lwiwer Käsekuchen und jene Schokolade-Bananen-Torte, die an keiner Hausweihnacht fehlen darf. Valentinas Drang, immer neue Speisen aufzutischen, hat oft genug unseren Appetit strapaziert. Doch wir haben uns tapfer durch ihre Menükarte degustiert, denn wir ahnten, dass Kochen ein heilender Akt sein kann – wenn die Küche nach Wareniki riecht, riecht sie nach Ukraine.

Allerdings fehlt ein zentrales Element für diese Heimkehr durch den Magen: Valentinas Rezeptbuch. Wie der Hund, von dem immer neue Fotos kursieren, ist dieses Einzelstück im Dorf geblieben. Niemand hat daran gedacht, es beim eiligen Aufbruch einzupacken. Es geht Valentina ab. Zwar bereitet sie die gängigen Speisen auswendig zu, doch da ist noch viel mehr Kulturgut, woran sie unsere Gaumen heranführen will, Köstlichkeiten, die ohne genauere Anleitung nicht à point zuzubereiten seien. Dies alles verzeichnet jene handgeschriebene Rezeptsammlung, die in der leeren Küche, im aufgegebenen Haus, im verlassenen Dorf zurückblieb: Als erste Frau in einer langen Ahnenreihe hat Valentina begonnen, die von den Müttern an die Töchter weitergegebenen Rezepte schriftlich festzuhalten. Auch ihre Nachkommen, die lieber im Internet surfen, als in der Küche zu stehen, sollen einmal wissen, wie man Wareniki zubereitet und wie ein richtiger Borscht schmeckt – auch für den Fall, dass ihrer Vorfahrin etwas zustösst.

Gewiss hat Valentina mehr Erlebtes in ihrem Geburtsdorf zurückgelassen als die Jungen – die Erinnerung an viele Verstorbene etwa, die dort begraben sind, Opfer von Krankheiten, Krieg, Hunger, Kälte oder mangelnder ärztlicher Versorgung. Wir fragen uns, ob die Grabsteine noch stehen oder zerschmettert sind, aber behalten die Frage für uns.

An den Dorffriedhof denken die Kinder kaum. Den Grossvater, der dort liegt, haben sie nur aus Erzählungen gekannt. Mit einigen Freunden halten sie übers Smartphone Kontakt, von anderen sagen sie: «Wir waren oft zusammen im Flussbad. Er konnte super crawlen, aber vom Brett war er eine Pfeife.» Auf unsere Frage, wo er nun lebe, dieser Sprung-Dilettant, zucken sie nur mit den Achseln. Notgedrungen gestalten sie ihr Leben nach vorn, wie Søren Kierkegaard es mit seiner berühmten Sentenz beschreibt: «Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts.»

Einzig die Turmspringer haben die Wahl, in welcher Richtung sie ihre Salti vorführen wollen. Wer aber schwimmt, schwimmt gegen oder mit dem Strom, solange das Wasser trägt.

In diesem Jahr haben wir uns regelmässig getroffen, meist an Valentinas reich gedecktem Tisch. Längst ist das unbehagliche Schweigen des Beginns einer Lockerheit gewichen, mit der wir Verständigungsschwierigkeiten mit Gesten überbrücken. Es gab zweimal Weihnachten zu feiern, einmal bei ihnen, einmal bei uns, da wir nach verschiedenen Kalendern leben. Rundum erleichtern Lernfortschritte die Kommunikation. Zwar haben wir uns anfänglich vorgenommen, Ukrainisch zu lernen, doch daraus ist nichts geworden. Bewegt haben sich die Gäste. Wir versuchen uns anderswie nützlich zu machen. Derweil haben die jungen Eltern ihre Position im Arbeitsleben gefestigt. Igor, von der Not zum Allrounder erzogen, kann alles reparieren, was in unseren linkischen Händen zu Bruch geht. Nur Valentina spricht noch kaum Deutsch. Wohl fand sie zum Lernen keine Zeit. Tagein, tagaus will sie im Garten und am Herd den alten Lebensstil hochhalten. Drei Generationen versammeln sich dafür in einer Schweizer Einbauküche, die mit ihrer glatt ausgefliesten Perfektion seltsam anmuten muss für Menschen, die nur das Nötigste gerettet haben vor dem aufziehenden Sturm.

Sakramente, Mysterien und Gewürze: Viele von Valentinas Gerichten sind mit den Fixpunkten des julianischen Kalenders verbunden. Eines nach dem andern bereitet sie zu, indem sie sich ihre eigenen Aufzeichnungen vergegenwärtigt. Bis auf weiteres, bis jemand in ihr Dorf zurückfährt, um das Liegengebliebene in Sicherheit zu bringen, kocht sie aus der Erinnerung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 24.02.2023 um 11:59 Uhr
    Permalink

    Lieber Herr Mettler
    Herzlichen Dank für die empathischen Beschreibungen Ihrer Erlebnisse zum Jahrestag dieses schrecklichen Krieges.
    Wir haben in der Schule im Fach Geographie nie etwas von der Ethnie «Ukrainer» gehört. Irgendwo dort hinten rechts auf der Karte war die Sowjetunion, welche man fälschlicherweise etwas flapsig einfach als «Russland» bezeichnetet.
    Nun haben endlich auch die Schweizer meiner Generation begriffen, dass es dort verschiedene Völker, Sprachen und Kulturen gibt. Schön, dass wir nun nebst Sushi, Big Macs, etc. auch Borscht und Wareniki kennenlernen!

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