Kommentar
kontertext: Rosa Luxemburgs Heiterkeit in Kriegszeiten
Mitten im Ersten Weltkrieg schreibt Rosa Luxemburg am 26. Januar 1917 an ihre Freundin Luise Kautsky:
« (…) Dir ist wohl jetzt die Lust zur Musik wie zu allem für eine ganze Weile vergangen, Dein Kopf ist voller Sorgen um die schiefgehende Weltgeschichte und Dein Herz voller Seufzer um die Erbärmlichkeit der – Scheidemann & Gen. (1). Und jeder, der mir schreibt, stöhnt und seufzt gleichfalls. Ich finde nichts lächerlicher als das. Begreifst Du denn nicht, dass der allgemeine Dalles viel zu gross ist, um über ihn zu stöhnen?
Ich kann mich grämen, wenn mir die Mimi (2) krank wird oder wenn Dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt aus den Fugen geht, dann suche ich nur zu begreifen, was und weshalb es passiert ist, und hab’ ich meine Pflicht getan, dann bin ich weiter ruhig und guter Dinge. Ultra posse nemo obligatur (3). Und dann bleibt mir noch alles, was mich sonst erfreute: Musik und Malerei und Wolken und das Botanisieren im Frühling und gute Bücher und Mimi und Du und noch manches – kurz, ich bin steinreich und gedenke es bis zum Schluss zu bleiben. Dieses völlige Aufgehen im Jammer des Tages ist mir überhaupt unbegreiflich und unerträglich.
Schau z. B. wie ein Goethe mit kühler Gelassenheit über den Dingen stand. Denk doch, was er erleben musste: die Grosse Französische Revolution, die doch aus der Nähe gesehen sicher wie eine blutige und völlig zwecklose Farce sich ausnahm, und dann von 1793 bis 1815 eine ununterbrochene Kette von Kriegen, wo die Welt wiederum wie ein losgelassenes Irrenhaus aussah. Und wie ruhig, mit welchem geistigen Gleichgewicht trieb er gleichzeitig seine Studien über die Metamorphose der Pflanzen, über Farbenlehre, über tausend Dinge.
Ich verlange nicht, dass Du wie Goethe dichtest, aber seine Lebensauffassung – den Universalismus der Interessen, die innere Harmonie – kann sich jeder anschaffen oder wenigstens anstreben. Und wenn Du etwa sagst: Goethe war eben kein politischer Kämpfer, so meine ich: Ein Kämpfer muss erst recht über den Dingen zu stehen suchen, sonst versinkt er mit der Nase in jedem Quark – freilich denke ich an einen Kämpfer grösseren Stils, nicht an ein Wetterfähnlein vom Kaliber der ›grossen Männer‹ von Eurer Tafelrunde (4), die mir neulich einen Kartengruss hierher geschickt hat. (…)» (5)
In Verwahrung
Rosa Luxemburg (geboren 1871 in Russisch-Polen) schrieb den Brief, aus dem obiger Auszug stammt, in einem deutschen Gefängnis. Nach Verbüssung einer Haftstrafe wegen ihrer sozialistischen und pazifistischen Arbeit war sie nicht entlassen, sondern in «militärische Sicherheitshaft» genommen worden.
Deswegen sass sie zuerst in Berlin im Polizeigefängnis am Alexanderplatz, dann im Frauengefängnis an der Barnimstrasse und war schliesslich in Posen in der Festung Wronke eingekerkert, wo sie den langen Brief an «Lulu, geliebte!» verfasste. Später wurde sie nach Breslau verschoben. Von dort befreite sie die November-Revolution 1918. Bis zu ihrer Ermordung durch Mitglieder der Freikorps hatte sie noch ungefähr zwei Monate zu leben.
Abwehr
Luxemburg hatte in freier Wahl und aus Prinzipientreue auf eine bürgerliche Berufskarriere, ein angenehmes Leben und sogar auf ihre physische Freiheit verzichtet. Ausgerechnet sie verteidigt nun aber das individuelle, private Glück. Wie passt das zusammen?
Ein Stück weit spricht sie zu sich selbst und betreibt Abwehr, denn Depressionen und Suizidgedanken waren ihr nicht fremd. Auch in diesem Brief an Luise Kautsky erwähnt sie «eine kurze Periode erbärmlicher Feigheit», in der sie sich «winzig und schwach» gefühlt und sehnsüchtig auf «einen herzhaften, warmen Brief» aus ihrem Freundeskreis gewartet habe. Sie wartete vergeblich. «So schnellte ich denn, wie stets, von selbst wieder in die Höhe, und es ist gut so.» (6)
Grössenverhältnisse
Wer indes aus der zitierten Briefstelle nur die Abwehr dunkler Seelenmächte herausläse, würde Luxemburg unterschätzen. Zentral scheint mir der Satz: «Begreifst Du denn nicht, dass der allgemeine Dalles viel zu gross ist, um über ihn zu stöhnen?» Das jidische Wort «Dalles» steht für Not, Elend, Katastrophe und könnte eine (unbewusste?) Erinnerung sein an den jüdischen Imperativ zur Verbesserung der Welt, damit der Messias komme. Jedenfalls impliziert der Satz eine Vorstellung von Grössenverhältnissen.
Das grosse Allgemeine, Gesellschaftliche und Schicksalshafte steht dem kleinen Individuum gegenüber. Das scheint uns Heutigen, die wir stark von Narzissmus geprägt sind, eine Vorstellung zu sein, die aus der Zeit gefallen ist. Sie beruht bei Luxemburg auf einem Glauben, der uns abhanden gekommen ist, dem Glauben an «die objektive Logik der Geschichte, die ihr Werk der Aufklärung und Differenzierung unermüdlich vollzieht» (7).
Handeln aus innerer Freiheit
Gar nicht aus der Zeit gefallen ist dagegen Luxemburgs stoisch-revolutionäre Grundhaltung. «Und vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben», fordert sie und erklärt auch, was sie mit «Mensch sein» meint, nämlich «fest und klar und heiter sein».
Die Heiterkeit, die in vielen Briefen erwähnt wird, ist ihr Ausdruck für eine innere Freiheit, die die notwendige Bedingung für die Möglichkeit ist, mit Sorgen und Ängsten so gut fertig zu werden, dass man von der Lähmung zum Handeln kommen kann. Politisch-Sein und Mensch-Sein sind hier nicht voneinander zu trennen. Gelassenheit, Überblick und Souveränität gegenüber dem Schicksal sind nötig, um im entscheidenden Moment entschlossen eingreifen zu können. Man müsste, sagt sie, sein Leben hinwerfen und sich gleichzeitig an einer Wolke freuen können.
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Anmerkungen
(1) Scheidemann und Genossen: Seitenhieb gegen die Sozialdemokraten, die die internationalistischen Positionen verlassen und die Kriegskredite für Deutschland bewilligt hatten.
(2) Rosa Luxemburgs Katze
(3) Lateinisch. Niemand ist verpflichtet, mehr zu tun, als er kann.
(4) s. Anm. (1)
(5) zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Band 5, Dietz Verlag Berlin DDR 1987, S. 162f.
(6) ebda S. 161
(7) ebda S. 106
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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