Kommentar

kontertext: Roger ist Basler und Wendy Schwyzerin 

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Zwei Frauen aus Russland auf den Spuren der schweizerischen Identitäten in Kultur und Sport.

Wenn man beginnt, in einem anderen Land zu leben, denkt man wohl viel über die eigene Identität und über die Identitäten der Menschen nach, die in diesem anderen Land geboren und aufgewachsen sind. Man vergleicht kulturelle und andere Codes, die jemanden als Mitglied dieser oder einer anderen Nationalität kennzeichnen. Unserer Meinung nach gibt es in Russland zwei wichtige Bereiche, mit denen sich die meisten Menschen identifizieren: Kultur und Sport. In mehrerlei Hinsicht ist das ein Erbe der Sowjetzeit, das sich der heutige Staat angeeignet hat und weiter nutzt.

Kultur

Russland ist ein literaturbegeistertes Land. Der Mythos von der Grösse der russischen Literatur wird schon im Kindergarten beschworen, und zwar mit der Formulierung: «Unsere Literatur ist die beste der Welt». Strassen und Metrostationen sind nach Dichtern und Schriftstellern benannt, unzählige Denkmäler hat man zu ihren Ehren errichtet, und man bemüht in der Alltagssprache Zitate aus berühmten Werken von Dichtern und Denkern. Natürlich haben wir es hier mit sogenannten Klassikern zu tun, also mit Persönlichkeiten, die seit mindestens hundert Jahren tot sein müssen.

Daraus folgt keineswegs, dass die Russen ihre Literatur wirklich lieben und kennen, was übrigens auch soziologische Umfragen zeigen. Dennoch liegt uns der Gedanke am Herzen, dass die Literatur in vielerlei Hinsicht die Werte und die Weltanschauung einer Nation widerspiegelt, und so begannen wir darüber nachzudenken, inwieweit die Schweizer Literatur in Russland anzutreffen ist. Natürlich studiert man an der Philologischen Fakultät nicht nur Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, sondern auch Gottfried Keller.

Aber, und das ist die Überraschung, nur wenige werden sich nach dem Studium daran erinnern, dass diese Schriftsteller Schweizer sind: Da die Genannten in die Kategorie der deutschsprachigen Schriftsteller fallen, hält sie fast jeder für Deutsche. Bis vor kurzem waren Bücher zeitgenössischer Schweizer Autoren in den Bücherregalen nicht schwer zu finden, aber das bedeutet nicht, dass sie sehr beliebt oder mehr Leuten als einem kleinen Kreis von Amateuren bekannt wären.

Die nationale Marke fehlt

In der Schweiz angekommen überraschte es uns irgendwann, dass hier Literatur für die nationale Identität scheinbar keine Rolle spielt. Es gibt kaum Strassen oder Denkmäler, die Schriftstellern oder  Dichterinnen gewidmet sind, und selbst in den Läden werden Bücher nicht in «einheimische» und «nichteinheimische» Autoren kategorisiert. Beim bewussten Herumhören stellten wir fest, dass Zitate aus literarischen Werken oder Filmen, anders als in Russland, im Alltag kaum verwendet werden.

Bei alldem hatten wir nicht das Gefühl, dass die Kultur für die Schweizer unwichtig wäre: Die Schweiz hat erstklassige Kunstmuseen, nicht nur in den grossen Städten und nicht nur staatliche oder städtische, sondern auch private; es gibt hier eine ansehnliche Anzahl interessanter Theaterregisseure von internationalem Ruf und einen modernen, vielfältigen Zirkus.

Nun ist es nicht so, dass dieser Teil der Schweizer Kultur in Russland völlig unbekannt wäre – wir haben dort Aufführungen von Christoph Marthaler, Stefan Kaegi, Milo Rau und Daniele Finzi-Paska gesehen – aber irgendwie haben wir diese Künstler nicht als Schweizer behandelt.

Es ist uns immer noch ein Rätsel, ob sich die Schweiz kulturell als etwas Eigenständiges oder als Teil eines gesamteuropäischen Kontextes versteht. Ist die fehlende Förderung eines kulturellen Produkts unter der «nationalen» Marke eine Folge der Schweizer Bescheidenheit oder eine Bestätigung dafür, dass Kultur als nationales Identitätsmerkmal nicht so wichtig ist wie beispielsweise Banken oder Natur?

Sport

Der russische Sport wurde in den letzten Jahren eher mit Dopingskandalen als mit Siegen in Verbindung gebracht, dennoch hält sich Russland weiterhin für eine mächtige Sportnation. Auch dieser Mythos bildete sich in den Jahren der Sowjetunion, obwohl echter Breitensport in der Sowjetunion nur bis zum Zweiten Weltkrieg wirklich populär war.

Später konzentrierte sich die staatliche Sportverwaltung auf den Hochleistungssport, und der frei zugängliche Massensport wurde hauptsächlich von  Kindern betrieben. Erwachsene kauften sich bestenfalls ein Paar Ski und fuhren damit in den Wäldern der Umgebung herum. Zudem war Sport klassen- und geschlechtsspezifisch: Frauen stand es weniger an, sich für Sport zu interessieren, ausser vielleicht für Eiskunstlauf oder Rhythmische Gymnastik. Sport galt vor allem als Unterhaltung für das einfache Volk, während er für Wissenschaftler, Kunstschaffende und Vertreter der Nomenklatura nicht wirklich standesgemäss war.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR änderte sich die Situation: Tennis und alpiner Skisport – zuvor nicht sehr populär – wurden jetzt zu Elitesportarten, und Unternehmer begannen, damit Geld zu verdienen. Gleichzeitig wurde die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die schon in der Sowjetunion bestanden hatte, eklatant: Die Menschen in der Masse waren kaum sportlich aktiv oder wenigstens interessiert, aber sie wurden ständig ermutigt, die eigenen, die russischen Sportler und Sportlerinnen zu bejubeln.

Was Schweizer Sportler betrifft, so kennen alle, die sich in Russland auch nur ein bisschen für Sport interessieren, Roger Federer. Man nahm ihn auch immer als superpositiven Schweizer Helden wahr, und selbst Fans von Rafael Nadal, die Federer für langweilig hielten, anerkannten das Können und die höflichen Umgangsformen des Schweizers im Tenniscourt.

Viele Menschen in Russland erinnern sich ausserdem an die ehemalige Weltranglistenerste Martina Hingis, und einige wissen, dass das wichtigste russische Tennisturnier, der Kreml-Cup, vom Schweizer Geschäftsmann Sasson Kakshouri gegründet wurde. Wintersport aber ist – mit Ausnahme von Skilanglauf, Biathlon und Eishockey – in Russland ziemlich unbeliebt, so dass sich selbst die Namen von Superstars wie Simon Amann und Lara Gut dort kaum verbreitet haben.

Erfolg ohne Beliebtheit

In der Schweiz angekommen, sehen die Dinge für uns etwas anders aus. Porträts von Roger Federer zieren ein Basler Tram, und Bücher über ihn gibt es in jeder Buchhandlung, aber in Bern wurde uns gesagt, dass er nur in seiner Heimatstadt ein Held sei, und andernorts zu viel Aufhebens um ihn gemacht werde.

Eine solche Verortung kam für uns ganz überraschend – wir haben lernen müssen, dass Wendy Holdener aus Schwyz und Camille Rast aus dem Wallis stammt. Es scheint also, «national» kommt nur bei Mannschaften vor, während einzelne Athleten eher ihre Städte oder Kantone repräsentieren. 

Nicht überrascht hat uns, dass die breite Bevölkerung hier alpinen Skisport massenweise als Hobby betreibt und dass sehr viele alpine Spitzenwettkämpfe im Fernsehen gezeigt und angeschaut werden. Was uns jedoch überraschte, war, dass die Popularität einer bestimmten Sportart gar nicht so sehr von den Erfolgen der einheimischen Sportler abhängt. Wir haben den Eindruck, dass Curling nicht sehr populär ist, obwohl die Erfolge der Schweizer Teams in dieser Sportart offensichtlich sind. Das Gleiche scheint für Bob, Skispringen und Freestyle-Ski zu gelten. 

Was die Russen und die Schweizer gemeinsam haben, ist ihre Liebe zum Fussball und zum Eishockey. Was sie allerdings unterscheidet, ist ihr Engagement für körperliche Betätigung und die Art und Weise, wie sie ihre Sportler unterstützen: Die Schweizer sind viel aktiver, man sieht sehr oft Menschen mit Fahrrädern oder in Wanderkleidung und im Winter auch mit Skiern oder Boards. Es scheint, dass Sport ein Teil des Alltags ist.

Was die Fans betrifft, so gehören die Schweizer Fans zu den angenehmsten und ruhigsten. Im Gegensatz zu den Russen, die ihre Sportler nervös und lautstark unterstützen, sie bei Siegen preisen und bei Niederlagen in den Dreck treten, schaffen es die Schweizer, im Stadion für eine festliche Atmosphäre zu sorgen und aus tiefstem Herzen Spass zu haben. 

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Aus dem Russischen von Elvira Hauschild Horlacher, Redaktion Felix Schneider.


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Keine
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