Kommentar

kontertext: Oh Sport, du bist ein Krieg (1)

Nika Parkhomovskaia, Inna Rozova © zvg

Nika Parkhomovskaia / Inna Rozova /  Absurde Verhältnisse im Sport. Der Ausschluss russischer Sportler und Sportlerinnen ist eher ein Ablenkungsmanöver.

Im Juni 2024 brach bei den Fecht-Europameisterschaften im schweizerischen Basel ein lokaler Skandal aus: Die Ukrainerin Olena Kryvytska (Degen) weigerte sich nach dem Kampf, der georgischen Fechterin Maia Guchmazova die Hand zu geben.

Der Trend für ein solches Verhalten in diesem Sport hatte die ukrainische Säbelfechterin Kharlan gesetzt: Ein Jahr zuvor, im Juli 2023, bei den Weltmeisterschaften, verweigerte  sie der Russin Anna Smirnova den Handschlag. Kharlan wurde disqualifiziert, aber schnell wieder zugelassen, und danach schlugen die ukrainischen Sportbehörden vor, die «shake hands» zwischen ukrainischen Sportlern und Vertretern Russlands oder Weissrusslands abzuschaffen. Eine offizielle Entscheidung zu diesem Thema gibt es jedoch bis heute nicht.

Und wenn sich Russen und Weissrussen im Tennis, wo ein Händedruck ein traditionelles, aber nicht obligatorisches Element ist, irgendwie an die neue Situation gewöhnt haben, dann ist im Fechten, wo der Händedruck ein obligatorischer Teil des Spiels ist, noch sehr unklar, was die Sportler*innen tun müssen. Die Unfähigkeit der Funktionäre, schnell und angemessen auf die Situation zu reagieren, führt zu solchen unangenehmen Momenten. Guchmazova, deren Grossmutter Georgierin ist, wurde in Russland geboren (2), vertritt Georgien jedoch seit 2017, also lange vor Beginn des grossen Angriffs auf die Ukraine, und hat nichts mit ihrer ehemaligen Heimat zu tun. Ehemalige Russen vertreten sehr viele verschiedene Länder von Kasachstan bis Frankreich und der Schweiz (3). Bedeutet das, dass sie alle jetzt in ihren Rechten beschnitten werden sollten?

Gold im Kampf gegen sich selbst

Russland verhält sich nicht weniger absurd – allerdings nicht auf der Ebene der einzelnen Sportler, sondern auf der Ebene des Staates. Im Juni, während sich weltweit Tausende von Sportlern auf die Olympischen Spiele in Paris vorbereiteten, veranstaltete Russland ein alternatives Sportereignis – die sogenannten BRICS-Spiele (4). Es wurde offiziell angekündigt, dass Vertreter aus rund 100 Ländern an diesen Spielen teilnehmen werden. Auch die Flaggen Deutschlands, Grossbritanniens und anderer «unfreundlicher» Länder wurden bei der Eröffnungszeremonie durch die Gegend getragen. Natürlich kamen die Sportler aus diesen Ländern nicht nach Russland, und China schickte eine Delegation drittklassiger Sportler.

Infolgedessen konkurrierten die Russen miteinander und gewannen die meisten Medaillen. Das Sinnbild dieser Spiele war ein Foto des russischen Synchronschwimmers Alexander Maltsev, der nur mit sich selbst konkurrierte und eine Goldmedaille gewann. Dabei ist das ganze eine sehr traurige Geschichte, denn Maltsev ist viermaliger Weltmeister und sechsmaliger Europameister. 2024 werden männliche Synchronschwimmer zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen antreten, aber Maltsev wird nicht dabei sein, denn Männer dürfen nur in Gruppen oder zu zweit auftreten, und Russen dürfen nicht an Team-Ereignissen teilnehmen.

Die Situation, die die Funktionäre des Internationalen Olympischen Komitees geschaffen haben, ist in ihrer Absurdität mit all den oben genannten vergleichbar. Bereits am 28. Februar 2022, wenige Tage nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, empfahl das IOC den einzelnen Sportverbänden, Athleten aus Russland nicht an internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu lassen. Die meisten folgten dieser Empfehlung, und Hunderte russischer Athleten wurden sozusagen in ihrem Land eingesperrt. Die Eile dieser Entscheidung war sicherlich auf die Neuartigkeit der Situation, die Ungewissheit über die Zukunft und die allgemeine Nervosität zurückzuführen, zeigte aber auch einmal mehr, dass der Sport schon lange kein Friedensstifter mehr ist, sondern sich in ein «Schlachtfeld» verwandelt hat.

Weit weg ist die Politik

Was haben die russischen Athleten in dieser Situation getan? Einige verurteilten den Krieg – in der Regel waren das diejenigen, die durch ihren Status, ihr Geld und ihre Möglichkeiten geschützt waren. Die meisten Sportler schwiegen, und das ist überhaupt nicht überraschend: Man muss verstehen, dass der Profisport in Russland ein eher marginales Feld ist, und abgesehen von Elitesportarten wie Tennis, Ski Alpin und dergleichen rekrutieren die meisten anderen Sportarten ihren Nachwuchs aus nicht so wohlhabenden Familien.

In einigen Regionen (zum Beispiel in Dagestan) ist der Profisport eine der ganz wenigen Möglichkeiten, für sich und seine Familie zu sorgen. Viele Sportler sind extrem weit von der Politik entfernt, sowohl weil das Training die meiste Zeit in Anspruch nimmt, als auch weil die Menschen in Russland im Allgemeinen ziemlich unpolitisch sind.

Die Zeit verging, und als klar wurde, dass der Krieg nicht so schnell enden würde, begann ein Massenexodus. Athleten, die die Möglichkeit hatten, eine andere Sportbürgerschaft zu erlangen, zerstreuten sich über die ganze Welt. Und hier haben wir es mit einer Doppelmoral zu tun: Kaum jemand überprüfte seine politische Position und seine Einstellung zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Viele verliessen das Land nicht, weil sie Griechenland oder Usbekistan vertreten wollten, sondern weil sie sonst keine Möglichkeit hatten, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen und ihre Sportkarriere fortzusetzen.

Auch die Verbände der Drittländer waren mit dieser Wende mehr als zufrieden – ohne Zeit und Ressourcen in langfristiges Training zu investieren, bekamen sie vielversprechende Athleten und mögliche Medaillen zur Verfügung gestellt. Und das Ausscheiden eines so starken Players wie Russland aus der Welt des Sports erhöhte die Chancen derer, die zuvor viel weniger Chancen hatten.

Seltsames IOC

Obwohl sich die Position des IOC im Jahr 2023 etwas gemildert hat und Russen in einer Reihe von Einzelsportarten in neutralem Status antreten durften, verschärften die bevorstehenden Olympischen Spiele den Konflikt erneut. Das IOC konnte sich lange Zeit nicht über die Regeln für die Zulassung von Russen einigen und bisher sind sie nicht ausreichend transparent.

Einige Anforderungen erscheinen völlig unrealistisch, zum Beispiel das Ansinnen, dass Sportler in keiner Weise mit Sportklubs der Armee verbunden sein dürfen. In einer Reihe von Sportarten wie Schiessen, Ringen usw. leisten aber die meisten Sportler ihren Militärdienst in einem Sportclub der Armee. Andere Anforderungen scheinen völlig merkwürdig: An der Eröffnung der Spiele nicht teilnehmen zu dürfen, nicht einmal unter neutraler Flagge, obwohl man zum nachfolgenden Wettkampf zugelassen ist, ist doch ziemlich seltsam.

Ablenkungsmanöver

Hitzige Diskussionen über die Teilnahme russischer und belarussischer Athleten sind ein bequemer Nebelvorhang, um die öffentliche Aufmerksamkeit von den Problemen abzulenken, die mit der Entwicklung des Profisports verbunden sind. Korruptionsskandale, die das IOC und das Olympische Organisationskomitee erschüttern, die stetig abnehmende Popularität der Olympischen Spiele, leere oder halbleere Stadien bei vielen Wettkämpfen – das sind systemische Probleme, die natürlich schwieriger zu lösen sind, als eine Hexenjagd zu organisieren.

Unterdessen zeigt das Beispiel des Vereinssports, dass das normale Zusammenleben russischer Spieler mit Spielern anderer Nationalitäten immer noch möglich und fruchtbar ist. So gewann beispielsweise Anna Vyakhireva 2023 zusammen mit den norwegischen «Vipers» die European Handball Federation European League und wurde zum MVP des Turniers gekürt. Viktor Kireev gewann mit den «Füchsen Berlin» die European Handball Federation League. Im französische Frauenvolleyballclub «Voléro» spielt die halbe russische Jugendnationalmannschaft.

Obwohl sie von ihren Nationalmannschaften verurteilt oder zum Teil sogar aus ihnen ausgeschlossen wurden, spielen der finnische Volleyballspieler Lauri Kalle Juhani Kerminen, der französische Basketballspieler Thomas Heurtel und der lettische Hockeyspieler Janis Kalniš weiterhin in Russland. Darüber hinaus spielte der ukrainische Tennisspieler Oleg Prikhodko im vergangenen Jahr bei drei ATP-Turnieren mit seinem Freund Jan Bondarevsky aus Russland zusammen und sagte, dass ein Mensch nach seinen Taten und nicht nach seiner Nationalität beurteilt werden sollte.

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FUSSNOTEN
(1) «Oh Sport, du bist die Welt!» ist ein sowjetischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 1981 über die XX. Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau, gedreht auf Ersuchen des Internationalen Olympischen Komitees. Auf Russisch sind Welt und Frieden dasselbe Wort.
(2) Interessanterweise wurde Kryvytska selbst nicht in der Ukraine, sondern in Rostow geboren, das heute zu Russland gehört.
(3) So kündigte beispielsweise Alexandra Kosteniuk, eine russische Schachgroßmeisterin, an, dass sie die Schweiz bei Wettkämpfen vertreten werde, kurz nachdem sie einen offenen Brief an Präsident Wladimir Putin unterzeichnet hatte, in dem sie ein Ende des Krieges in der Ukraine forderte.
(4) BRICS+ Kurzbezeichnung für ein Bündnis aus Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Iran, Ägypten und Äthiopien.


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