Kommentar
kontertext: Mein Sicherheitsgefühl
Es gibt eine Erinnerung, die manchmal in Albträumen zurückkommt. Ich stehe eingeklemmt in einer dichtgedrängten Menschenmenge auf dem überfüllten Perron einer Londoner U-Bahn-Station und werde, wenn ein Zug wieder Reisende mitgenommen hat, nach vorne geschoben, bis ich in der vordersten Reihe stehe. Zehenspitzen an der Bahnsteigkante. Wenn jetzt auch nur einer im Gedränge hinter mir seinem Vordermann einen leichten Schubs gibt, falle ich aufs tief liegende Gleis und habe keine Chance, wieder hochzuklettern, bevor der nächste Zug aus dem Loch auftaucht und auf mich losfährt.
Niemand schubste. Rückblickend habe ich die Angst in dankbare Zuversicht verwandelt. Keiner der vielen mir unbekannten Leute hat sich danebenbenommen. Und die Situation, die ich nur einmal erlebte, war ja eine alltägliche während der Hauptverkehrszeit, ohne dass oft von Stürzen aufs Gleis berichtet worden wäre.
Sicherheitszuversicht?
Auch nach der täglichen Zeitungslektüre, wenn ich von all den Horrorberichten aus Nah und Fern aufblicke, wundere ich mich, dass auf unseren Strassen nicht täglich geschossen wird. Viel ist heute von der Gefährdung der Sicherheit die Rede. Was ich im Nahbereich meines Alltags erlebe, ist aber eher ein erstaunliches Ausmass an Zivilisiertheit.
Gemessen am Zustand der Allgemeinheit muss mit meinem Sicherheitsempfinden etwas nicht in Ordnung sein. Ich höre, die Verstärkung und der Ausbau von Polizei und Militär komme in der Bevölkerung gut an. Bei mir ist das nicht so. Ich glaube zwar nicht mehr, wie in meiner Jugend, dass die Polizei «eigentlich» überflüssig sei, aber ich betrachte sie im Wesentlichen als notwendiges Übel und sehe selbst jene Einsätze, die auch ich inzwischen befürworte, mit Skepsis. Wo Polizei nötig ist, stimmt etwas mit unserem Zusammenleben nicht.
Natürlich sehe ich mit Entsetzen, wie die Kriege sich vermehren und näherkommen, wie die Sicherheitsrisiken in aller Welt zunehmen. Aber was soll der sozial- und umweltschädliche Ausbau der Schweizer Armee dagegen helfen? Wenn es so weit sein wird, dass China sich Taiwan unter den Nagel reisst, soll dann unsere Armee gegen China eingesetzt werden?
Mir will einfach nicht in den Kopf, dass Arbeitsverbote oder die Kürzung von Sozialleistungen für Flüchtlinge zu meiner Sicherheit beitragen sollen. Unbeschäftigt herumhängende junge Menschen in prekären Verhältnissen sollen die Stabilität meiner Umgebung absichern?
Ist Mama an allem schuld?
Vielleicht liegt es ja an frühkindlichen Prägungen, dass mein Sicherheitsempfinden so abnorm ist. Als männliches Einzelkind in einer jüdisch geprägten Sozialisation war ich bedingungslos geliebter Prinz. Die Erziehung war darauf ausgerichtet, systematisch Ängste zu besänftigen, sie war vom Glauben an Vernunft und Rationalität geprägt. Meine Mutter hielt Gewitter für wunderbare Naturereignisse und bewunderte sie mit ihrem Kind in den Armen. Ihre Begeisterung für Paris, die in den 30er Jahren begründet wurde, beruhte u.a. darauf, dass dort, wie sie sagte, die «schönsten» Mädchen – sie meinte weisse Französinnen – mit den «schönsten» Schwarzen Jungs sich «in der Métro» küssten. Dies bekundete sie zu einer Zeit, in der People of Color noch durchaus als Bedrohung empfunden wurden.
Allerdings könnte es auch sein, dass jenseits individueller Gegebenheiten mit dem Sicherheitsbegriff etwas nicht stimmt. Die Sicherheitsrisiken, die ich empfinde, kommen im Sicherheitsdiskurs kaum vor. Ich bin z.B. Mieter. Das ist ein Sicherheitsrisiko. In einer Studie der Zürcher Kantonalbank lese ich, dass in der Schweiz in den vier Jahren von 2018 bis 2022 mehr als 2000 Mehrfamilienhäuser leergekündigt wurden. Betroffen waren knapp 30’000 Personen. Das ist immerhin eine mittlere Kleinstadt.
Sicherheitswarnlampen leuchten bei mir auf, wenn ich lese, dass unsere nationalen Parlamente die Militärbudgets um 500 Millionen erhöht haben und der Entwicklungszusammenarbeit dafür um die 250 Millionen wegnehmen wollen. Die beiden Massnahmen zusammen ergeben schon einen Sinn: einen profitfördernden, zynischen, unmenschlichen Sinn. Die Reduktion der Entwicklungszusammenarbeit erhöht das Konfliktrisiko. Erhöhtes Konfliktrisiko macht Gewalt und Militäreinsätze wahrscheinlicher, was wiederum das Konfliktrisiko steigert.
Gleichzeitig beschliessen dieselben Schweizer Parlamente, dass die UNRWA ab nächstem Jahr gar kein Geld mehr bekommt. Eine bessere Förderung des Terrorismus lässt sich kaum denken. Konsequent wäre, das eingesparte Geld gleich der Hamas zu überweisen, verbunden mit der Auflage, dass diese ihre Ausrüstung künftig in der Schweiz kauft.
Kommunikation stärkt Sicherheit
Meine Gefühle der Sicherheit und der Unsicherheit haben etwas mit Kommunikation zu tun. Um ihr Geschäft der Dämonisierung und der Angstmache betreiben zu können, brauchen Populisten Personen und Verhältnisse, die nicht so genau bekannt sind und nicht so genau beschrieben werden. Gegen bekannte und exakt erfasste Gefahren kann man sich besser wappnen. Eine wesentliche Sicherheitsvorkehrung scheint mir daher eine funktionierende Öffentlichkeit. Damit meine ich weder die wissenschaftlichen Fachöffentlichkeiten, noch Social Media, an denen ich nur am Rande beteiligt bin, sondern die zwischen den beiden angesiedelte, mittlere Öffentlichkeit des instruierten und interessierten Citoyens, der Citoyenne. Gerade diese Öffentlichkeit ist aber von Privatisierung und Monopolisierung bedroht. Und genau das destabilisiert mein Sicherheitsgefühl.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Ich lese da etwas, was meinem Empfinden sehr entspricht und ich selten (oder bisher nirgends sonst) in dieser Verknüpfung der Themen so lese. Herzlichen Dank für diesen Beitrag!
Tout à fait d’accord avec vous; je ne comprends pas que nous nous laissions mener par le bout du nez avec des arguments de peur et des gesticulations « militaristes », en remettant en cause notre neutralité (pas celle des pleutres et des profiteurs) permettant de maintenir et favoriser le dialogue indispensable dans notre monde déchiré.
Merci votre contribution sensible et totalement indispensable aujourd’hui!
Ich teile Felix Schneiders Einschätzung in grossen Teilen.
Die Politiker dieses Landes verstehen nicht viel von Sicherheitsdenken im klassischen Sinn. Sie sind die Wächter des Budgets der CH. Darüber wird am Viehmarkt gestritten. Das können sie gut.
Komplexe Denkprozesse zu verstehen, wie hier beschrieben, hat in unserer Politik leider keinen Platz.
Wir sind immer noch ein Volk der Viehhändler. Zum Glück gibt es immer mehr Ausnahmen:)
Ich glaube, in Ihrem Text deutliche Spuren von Resignation und gegenseitigem Ausspielen von unterschiedlichen Gefahren zu erkennen. Wäre dies die Grundhaltung einer Mehrheit, so entstünde damit ein weiteres Sicherheitsrisiko, vor dem ich mich fürchten müsste.
Die CH Sicherheits-PolitikerInnen-Kaste ist ein verschworenes Völkli. Wer da ander’s denkt und diese Aufrüstung in Frage stellt wird aus dem Club ausgeschlossen und geächtet. Dieses Völkli ist nie bereit, über das Panzer-Geschütz-Rohr hinaus zu denken weil diese sonst aus ihrem Ballon raus müssten.
Danke für diesen schönen, unaufgeregten Text!