Kommentar

kontertext: Liegezeiten

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Zu Allerheiligen ein Wort, angewandt auf Verstorbene, Brotteig oder Wein – es changiert zwischen Erdhaftem und Transzendenz.

Mein Herkunftsdorf E. besuche ich eigentlich nur, wenn ich nach dem Grab meines Vaters sehe – in Abständen, die mein Gewissen belasten. Oft finde ich das Grab einigermassen verwildert vor. Die Gemeindegärtnerei bestückt es mit ein paar formelhaften Pensées und überlässt den Rest den Hinterbliebenen und der Natur.

Von Efeu überrankt zu werden, hätte ihm wohl gefallen. Er hatte ja durchaus eine romantische Ader. Stelle ich mir das dunkelgrüne Blattwerk vor, unter dem seine leiblichen Überreste liegen, nachdem ich so lange nicht mehr hingegangen bin, geht mir durch den Sinn, wie manchmal beim Vorlesen von Märchen eine fast eichendorffsche Verträumtheit seines Charakters zum Aus­druck kam.

Und nun dieses Wappen auf einem Briefumschlag. Seit wann ist die Leitung zwischen E. und mir tot? Fast ein Jahr muss es sein. Solche Post lässt nichts Gutes erahnen. Ist das Grab verwüstet? Gab es Wasserschaden? Oder klagen Anrainer über allzu heftiges Absamen? Mit Argwohn betrachte ich das Dorf­emblem auf dem Couvert, eine gewellte Linie, umweht von Wölkchen. Ein Strafzettel kann es nicht sein – E. liegt nicht an meinem Weg.

«Aufgrund der abgelaufenen Grabruhezeit», lese ich, «wird ab 26. Oktober dieses Jahres auf dem Friedhof eine Grabräumung vorgenommen. Gemäss Artikel 18 des Friedhofsreglements beträgt die normale Liegezeit 25 Jahre.»

Liegezeit: Wird so etwas nicht bei schwierigen Schwangerschaften verordnet? Oder deutschen Versicherten attestiert in der «Liegezeitbescheinigung»? Neu­lich ist mir das Wort auf einer Brottüte begegnet, wo es die Bekömmlichkeit der Backware bewarb: «Sackstarke Liegezeit». Da fiel mir wieder ein, wie sehr ich als Gymnasiast mit meinen Liegezeiten die Geduld der Familie strapaziert habe: Im Sommerurlaub brauchte es schon einen kollektiven Effort, um mich gegen Mittag aus den Federn zu kriegen. Schlaftrunken tappte ich zum Tisch, und die Mahlzeit fühlte sich an wie eine familiäre Pflichtübung: kein Appetit, nirgends, und kein Schulkamerad, der mit mir die Weltflucht aus der August­hitze teilte. Fast alle waren sie Richtung Süden aufgebrochen, während ich hier Liegezeit sammelte und alle Ferienkurse sausen liess. Tauchten sie später braungebrannt im Klassenzimmer auf, gab ihr Teint zu verstehen, dass auch an ligurischen Stränden die Liegezeit entscheidend sei.

Zwangsräumung

Was soll ich nun anfangen mit dem, was von meinem Vater übrig ist? Man fordert mich auf, das Grab zu räumen, und ich weiss nicht, wie das gehen soll. Wie tief muss ich graben? Wird schweres Gerät benötigt? Oder muss ich nur ein paar klägliche Stiefmütterchen roden und den Grabstein abholen lassen? Doch wohin mit diesem Ungetüm, auf dem noch halbwegs lesbar die liebste römische Maxime des Verstorbenen steht? Soll mir zum Ende seiner Liegezeit aller Tiefsinn eines Lebens auf die Füsse fallen: vita brevis, ars longa, per aspera ad astra, sic transit gloria mundi?

Zu solchen Fragen wahrt der Brief taktvolles Schweigen, als würde er sich an Habitués richten. Allerdings bleibt ein Hintertürchen offen: «Nach Ablauf der gesetz­ten Frist wird die Grabräumung kostenpflichtig durch das Bauamt der Gemein­de besorgt.»

Hatte ich nicht an jenem schönen Maitag auf der Beerdigung zu ihm gesagt: Nun bist du all die Abgabe- und Meldefristen los, die dir im Leben so zuwider waren? – Ein frommer Wunsch. Nach fünfundzwanzig Jahren soll er sich nochmals regen, um die Zwangsräumung zu überstehen. Wie viel gross­zügiger geht es da auf jüdischen Friedhöfen zu: Dort darf ein Grab mitsamt dem Gedenken ad infinitum vergehen. Soll ich also neben den Aschkenasim auch das alte Ägypten preisen, das noch weit längere Liegezeiten kannte, oder nüchtern den Schichtwechsel auf dem Totenacker der Moderne hinnehmen als Desiderat einer thanatologischen Ökonomie? Eines steht fest: Von der biologischen Liegezeit meines Vaters ist erst ein Teil verstrichen. In Erdzeitaltern gemessen: ein Lidschlag der Geschichte.

Verwandelt auferstehen

Anders als bei den Pharaonen geht es beim Brot nicht um den Übertritt in eine andere Sphäre sondern um stoffliche Verwandlung: Die Deutsche Handwerks­zeitung spricht von «langer Teigführung» und schreibt so gefertigten Backwa­ren bessere Verdaulichkeit zu. Je nachdem, ob ein Vorteig verwendet werde, lese ich, sollten Ruhephasen eingelegt werden. Bekommt der Teig diese Zeit, werden jene Zucker abgebaut, die Verdauungsprobleme hervorrufen können.

Als Weinfreund denke ich lieber an die grossen Tropfen dieser Welt: Auch sie sollen ihrer Bekömmlichkeit entgegenreifen. Die stellt sich ein, wenn im Kel­ler die Tannine langsam «abgeschmolzen» und die Holznoten mit jedem Jahr noch etwas besser eingebunden sind. Nun konturiert ein zeitlicher Abstand zu seiner Jugend den Geschmack des Weins. (In einem Menschenleben verhält es sich ähnlich und doch anders: Zwar mildert das Alter Temperamente ab, doch die Zeit meisselt den Charakter eher noch etwas schärfer heraus.)

In manchem Keller lagern Billigweine viel zu lang. In ihrer Jugend schmecken sie kantig und unausgewogen, also lässt man sie liegen, in der Hoffnung, ein gnädiger Erdgeist breite den Schleier der Milde über ihnen aus – und lasse sie später als etwas, das zu innerer Grösse gefunden hat, verwandelt auferstehen. (Nur ein Kellerwunder könnte solches bewirken.)

Beim Kauf dessen, was die Fachwelt «Vins de Garde» nennt, staune ich oft, in welche übertriebene Periodizität ich damit eintrete. Etliche meiner Flaschen, gerade die aus den besten Jahren, werden ihren Zenit lange nach meinem Tod erreichen. Der Weinpapst Robert Parker gebrauchte für sie den Begriff a wine for our children’s children. Schon jetzt aber stiften diese Gewächse eine etwas morbide, zu Lebzeiten kaum absehbare unterirdische Entsprechung zwischen Vater und Sohn: Wir beide werden sie nicht mehr kosten. Ihre Liegezeit erin­nert an die nächstgrössere Dimension, mit der uns spaltbares Material konfron­tiert (die Halbwertszeit und jene Abklingbecken, in denen Brennstäbe sich ver­strömen, bis sie transportfähig sind).

Friedhofsöffentlichkeit

Bei nächster Gelegenheit nehme ich einen Augenschein. Auf dem Gottesacker von E. scheinen die Jahrgänge einträchtig beisammen zu liegen, fast wie Mag­numflaschen in einem Regal. Von der Anhöhe betrachtet, präsentiert sich die Anlage blankgefegt, die Reihen wie an der Schnur gezogen. Weit und breit hat das Moos keinen Stich, und kaum einem Stein ist es vergönnt, etwas schiefer zu stehen. Das lässt mich an die Grabpflege meiner Mutter denken: Solange sie dazu imstande war, ging sie alle zwei Wochen hin, um Ungerades zu rich­ten, Überranktes freizulegen und Verblühtes zu entfernen. Als auch ihr eigenes Leben schwand, galten ihre Gedanken nicht dem ihren, sondern weiter dem Grab des Gatten. In dieser Hinwendung kam eine Sorge zum Ausdruck, die zu seinen Lebzeiten unterdrückt geblieben war – es hatte keine Sprache dafür ge­geben. Umso sichtbarer erstand sie nun im Totendienst auf. Das Vokabular des Gedenkens und die Gunst der Liegezeit brachten sie zutage. (Ausserdem war da auch der Blick der anderen, der Friedhofsöffentlichkeit. Auch vor der hatte man zu bestehen.)

Ich öffne das Gittertor. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass in E. der Wettstreit um das bestgepflegte Grab weitergeht. Ob es eine jährliche Prämie­rung gibt, bei der die goldene Grabgabel zu gewinnen ist? Oder doch nur ein Blumentopf? – Ich lasse den Blick schweifen und sehe, wie der immer schon widerspenstige Vater ein letztes Mal aus der Reihe tanzt. Der abgesunkene Stein und das immergrüne Wuchern auf seiner Ruhestätte legen Zeugnis ab – wider die sklavische Ordnung und für das Leben, das zu ranken beginnt, so­bald die ordnende Hand sich verabschiedet.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

2 Meinungen

  • am 1.11.2024 um 20:54 Uhr
    Permalink

    Auch wenn die Assoziationen zu Liegezeit sehr weit reichen und im Fall des Weins und der atomaren Halbwertszeit etwas Unbehagen auslösen, mag ich die Texte von Michel Mettler immer sehr. Es ist wie am Morgen noch im Bett liegen zu bleiben und die Gedanken frei wandern zu lassen. (Und dass der junge Mann noch Latein und Altgriechisch kann, freut mich natürlich besonders.)

  • am 3.11.2024 um 05:22 Uhr
    Permalink

    Ich will die literarischen Querverbindungen, die Michael Mettler um den BegrifF «Liegezeiten» herum herstellt,nicht weiter kommentieren.Aber hinsichtlich der «Grab-Liegezeiten» hat mich seine Reminiszenz daran erinnert, daß ich von meiner Mutter die Gewohnheit übernommen habe, Friedhöfe, wo auch immer, zu besuchen. Tatsächlich waren besonders die (ur)-alten, oft schon verwitterten, verfallenen, efeuübrwucherten Grabstätten für mich Ansatzpunke der Nachdenklichkeit – mehr als jeder noch so schöne Park. Also : Liegezeiten kann man verlängern.Kostet natürlich. Die jüdischen Grabstätten haben Ewigkeitsgarantie – eine schöne tiefsinnige Tradition – und manchmal ein städtebauliches Problem. Auch ein finanzielles? Ich weiß es nicht, aber ich habe in Syrien, im Irak moslemische Friedhöfe gesehen. Da donnerten z.T. Lastwagen auf staubiger Trasse hindurch. Ganz ohne Wertung : vielleicht ein Symptom für zwei ganz unterschiedliche Weltsichten?

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