Kommentar

kontertext: Lasst uns Hemmungen bilden!

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Schamgefühle verhindern eigennütziges Verhalten. Darum brauchen wir mehr davon. Versuch der Ehrenrettung für ein verpöntes Gefühl.

In einem Lied von Mani Matter, popularisiert durch Stephan Eicher, werden Hemmungen auf emotionale Weise besungen als eine kulturelle Gabe, die den Menschen erst zum Menschen macht: Wil sie Hemmige hei. – Es gibt auch ganz rationale Gründe, sich auf diese intime Empfindung zu besinnen. Sie ist veränderbar insofern, als nur ein kleiner Teil dessen, was man unter Hemmungen versteht, angeboren ist. (Das Kleinkind greift unbefangen in seinen Kot. Erst sein Umfeld bringt ihm bei, sein Geschäft hinter geschlossener Tür zu verrichten.)

Schon viele Emanzipationsbewegungen haben versucht, mit der Gehemmtheit Schluss zu machen. Sie wollten das Individuum befreien aus der Geiselhaft der Moralsysteme, die das Gewissen bewirtschaften. Schon Jahrzehnte fordern sie zum Outing auf, zu Wagnis und Tabubruch. Bis heute ist die Zielperson solcher Libertinage der durchschnittlich trieb- und aggressionsgehemmte Mensch aus besserem Haus, für den das Deutsche ein drastisches Sprachbild bereithält: Er ist «verklemmt» – seine Türen sind verrammelt, er verharrt freiwillig in Strukturen, die ihn einsperren.

Alte Tabus, neue Tabus

Als Martin Luther King sein wirkmächtiges Mantra I have a dream in die Welt hinausrief, traute er sich, vor einer grossen Menge die erste Person Singular an die Spitze seiner Losung zu setzen. Er hat von sich gesprochen und ein grosses Kollektiv erreicht. Zur selben Zeit hat der Feminismus andere Schranken ins Visier genommen. Sie liegen im Innern, da sie anerzogen, eingepflanzt und eingeübt sind. Oft bewirken sie, dass Herrschaftsstrukturen nicht in Frage gestellt werden, weil die Einzelne in ihrem Habitus dazu neigt, sich und ihre Bedürfnisse hintanzustellen.

Also soll sie ausbrechen aus dem Korsett der Konvention und lernen, ihr Leben gross zu träumen und selbstbestimmt zu führen, auf die innere Stimme zu hören und sich Ausdruck zu verschaffen. Heute rufen queere Bewegungen zu expressivem Anderssein und beherztem Ausleben von Interessen und Bedürfnissen auf. Viele Therapieformen stärken das Individuum im Konflikt mit den übermächtigen sozialen Apparaten, und dabei lautet die Devise: Sei dir selber wichtig! Beschäftige dich mit deiner Vergangenheit! Löse innere Knoten und überwinde deine Hemmungen! Empowerment und Gegenzauber als Lebensaufgabe.

Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, auf diesem Weg wurden Verkrustungen sichtbar gemacht, Ungleichheiten beseitigt, Konflikte entkrampft und Machtstrukturen gelockert. Doch eine ähnlich lange Tradition wie der Versuch, sich aus Fremdbestimmung und moralischen Zwängen zu befreien, hat auch die Kritik am hemmungslos-unersättlichen Bedürfniswesen Mensch, am Egoismus als treibender Kraft der Märkte, am Konsum-Hedonismus, am selbstverliebten Trash talk in den Sozialen Medien und den Eitelkeiten vieler selbsternannter Masterminds, die sich für Auserwählte einer Leitkultur halten.

Besonders am Pranger steht jenes Bereicherungsverhalten, das einhergeht mit Investmentbanking und Börsenhandel. Wer sich an der hier ausgelebten Gier stört, mag sich wünschen, es hielten mehr Schamgefühle Einzug auf den Teppichetagen. Innere Hemmschwellen sollen vermeiden, dass ein paar wenige das Wohl der Allgemeinheit schädigen.

Ist es Moralisiererei, hier an den Anstand zu appellieren? Seit die Schäden deutlicher zutage treten, ist es mehr ein politisches als ein ethisches Desiderat, Egoismen einzuhegen und an ihrer Stelle Bescheidenheit oder gar Verzicht zu fordern: Das von ererbten Gütern zehrende, seine Privilegien bewirtschaftende Ich soll Fesseln angelegt bekommen. Wirksamer wäre es allerdings, wenn nicht Gesetze und Verbote dies bewirkten, sondern ein verändertes Bewusstsein – warum nicht in Gestalt neuer Schamgefühle, in Gestalt von Tabus, die erst noch zu erfinden sind?

Juden- und Blondinenwitze

So lange ist es nicht her, dass ich irritationsfrei männliche Sammelbegriffe benutzte, Völkerkundemuseen voller Raubgut durchstreifte, Kurzstreckenflüge zum Spottpreis buchte, über Blondinenwitze lachte, unbefangen in männlich besetzten Jurys Einsitz nahm oder in der winterlichen Schweiz Spargeln aus Israel verzehrte. Einen Judenwitz aber hätte ich schon damals nicht erzählt – und auch kaum über einen gelacht. Zu gross waren meine Hemmungen. Nicht nur vor jüdischen Menschen hätte ich mich geschämt, auch vor mir selbst.

Ich erinnere mich leibhaftig, wie alle Farbe aus dem Gesicht meiner Mutter wich, als ein Nachbar lachend über seine Frau sagte: «Sie kann putzen bis zur Vergasung.» – Meine Mutter war nicht Jüdin, sie kam nicht aus Deutschland und meines Wissens hatte niemand, den wir kannten, Angehörige im KZ verloren. Aber meine Mutter war sprachlos über die Aussage unseres Nachbarn, und zuhause legte sie dem Neunjährigen, der ich war, ans Herz, keine solchen Ausdrücke zu verwenden. Würde je wieder jemand sich so ausdrücken in meiner Gegenwart, solle ich keine Hemmungen haben, das Thema anzusprechen. Das nannte sie Zivilcourage – ich konnte körperlich spüren, wie aufgebracht sie noch Tage nach dem Gespräch über jene Worte war.

Vielleicht schämte sie sich auch ein wenig für sich selbst, denn sie hatte keine Widerrede geleistet. Darauf sprach ich sie an, und noch einmal wich die Farbe aus ihrem Gesicht, als sie sagte: «Unser Nachbar weiss es nicht besser. Und es ist immerhin unser Nachbar. Wir müssen mit ihm auskommen, vielleicht noch jahrzehntelang.»

Neulich bin ich für einen Atelieraufenthalt nach London gereist. Lange zögerte ich, den Flug zu buchen, der mich unanständig billig, recht unkompliziert und mit viel Gepäck hinzubringen versprach. Die Bequemlichkeit obsiegte, und ich sagte mir: «Dafür bleibst du die ganzen sechs Monate dort und reist nicht für Jobs zurück.» Ich rechtfertigte mich vor mir selbst, da sich an dieser Stelle offenbar neue Hemmungen in mir eingenistet hatten; vor zehn Jahren wären sie schwächer ausgeprägt gewesen.

Flugscham und heilige Kühe

Eingetroffen im Atelierhaus, fiel mir rasch auf, dass ich mit meinem Reisestil in der Minderheit war. Die meisten Mitbewohner*innen hatten den Zug über Paris genommen, einen Tag auf Achse verbracht, eine Selbstverständlichkeit für sie. Und auf einmal verstand ich meine Bequemlichkeit nicht mehr. Wie viel Unnützerem hatte ich schon ganze Tage gewidmet? Ich verspürte Gruppendruck – zum wohl ersten Mal, ohne ihn abzulehnen, wie ich es bisher meist getan hatte, wenn es galt, sich konform zu einem Trend zu verhalten.

Hier ging es nicht um einen Trend, sondern um eine einleuchtende Notwendigkeit. Wir haben es besprochen. Die Bahnbewegten gingen rücksichtsvoll mit mir um, aber sie taten sich nicht schwer, mir zu zeigen, wie sie über diese Dinge dachten. Da schämte ich mich – und ärgerte mich nicht über diese Verlegenheit. Im Gegenteil, ich schämte mich ja für das Richtige.

Es ist an der Zeit, solche Hemmungen weiter auszubauen. Auf einmal spüre ich, dass sie etwas Integres sein können, nicht aus moralisch Eingepflanztem, sondern aus dem Empfinden kommend, und ich spüre neue Schamgefühle in mir heranwachsen. Ich erkenne, dass gesellschaftliche Entwicklungen offenbar schon länger mein Innenleben umgekrempelt haben. Habe ich in Zukunft die Website einer Airline geöffnet und jemand betritt den Raum, werde ich wohl betreten den Browser schliessen und ausschauen, als hätte ich nach etwas Unanständigem gesehen.

Und so ist es ja auch. Was anderes als Hemmungen und Schamgefühle werden mich in Zukunft daran hindern, aus Bequemlichkeit und wider besseres Wissen unvernünftig zu handeln? Meine Scham zeigt dabei nicht, dass ich ein verklemmter Mensch bin. Sie zeigt nur, dass die Ära der Fliegerei, trotz obszön tiefer Preise, zu Ende geht – und dass ich Teil einer Gruppe geworden bin, die das akzeptieren will.

Vermutlich wird es in Zukunft also weniger darum gehen, die falsch gesetzten Tabus der Vergangenheit zu brechen, als gemeinsam neue aufzubauen: solche, die das Kollektiv schützen vor dem Überschiessen von Eigennutz und Gedankenlosigkeit. Aber entmündigt es nicht das Individuum und seinen freien Willen, auf Hemmungen zu setzen?

Vielleicht kommt diese Frage zu spät. Lange genug hat man versucht, die Folgen des westlichen Lebensstils auf anderem Weg einzugrenzen, und ist gescheitert. Unsere drängendsten Probleme regelt der Markt jedenfalls nicht: Solange gemeingefährliches Verhalten erschwinglich ist, wird es die Mehrheit weiter schädigen. Es sei denn, innere Schranken verhindern dies.

Hemmungen und Scham: Man schreibt sie gern der christlichen Moral zu und hält sie für spiessig. Aber sind sie das? – Es hängt davon ab, worauf sie sich beziehen. Sehe ich in Indien heilige Kühe über Kreuzungen gehen, werde ich keine Lust auf Tafelspitz haben. Betrete ich eine Moschee, ziehe ich gelassen die Schuhe aus, obwohl Reinlichkeit mich sonst amüsiert. Unter exiltürkischen Freunden stolpere ich über das in mir abgelagerte Wort getürkt. Offenbar bin ich im Begriff, ein paar neue rote Linien zu ziehen. Die Zeit baut mein Empfinden um.

Unter diesen Vorzeichen mutet die letzte Strophe aus Mani Matters Lied fast prophetisch an: «Und we me gseht, was hütt dr Mönschheit droht / So gseht me würklech schwarz, nid nume rot / Und was me no cha hoffen isch alei / Dass si Hemmige hei.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 21.07.2023 um 15:31 Uhr
    Permalink

    Die Unverschämtheit gewisser Wirtschaftsführer hat seit dem Entstehen des Neoliberalismus anfangs der achtziger Jahre dazu geführt, dass die kapitalistische Welt in ein ungehemmtes Wachstum getreten ist, in dem keine Regeln gelten, ausser diejenige zu gewinnen und möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften. Auf der Strecke bleiben die Schwächsten der Gesellschaft und der neuen «Weltordnung» (Afrika vor allem) und die Natur. Wenn ich CEO’s und Verwaltungsräte reden höre, dann in einer Sprache des Krieges und Kampfes. Da existiert kein Platz für Scham und Bescheidenheit: neue Märkte erobern, die Hegemonie erlangen, China und Russland zurück drängen etc.

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