Kommentar
kontertext: Lars macht das Maul auf
Die Leasingraten für den Wagen sind derart gestiegen, dass Lars eine halbe Stunde opfert, um seinen Berater zu erreichen. «Herr Plüss ist nicht mehr bei uns», sagt nach vielen Anläufen die Dame. Dann stellt sie sich mit den Worten vor: «Ich bin gerne für Sie da.»
Reizend gesagt. Auf Lars’ Frage erklärt sie, in seinem Vertrag gebe es eine Klausel, derzufolge… Schon schwindet seine Aufmerksamkeit. Es geht um die Laufzeit seiner Police, den Libor-Zinssatz und etwas, das sie «regulatorisches Umfeld» nennt. Solches Fachchinesisch sorgt verlässlich dafür, dass Lars den Elan verliert, der Sache auf den Grund zu gehen. Und das dürfte auch der Zweck der Übung sein. «Bezahlen und verschmerzen», pflegte seine Mutter zu sagen, wenn sie am Monatsende die Scheine aus der Lohntüte auf kleine Couverts verteilte.
Vom Zinse verweht
Er hat die Rechnung auch seiner Freundin gezeigt. Stine rät ihm schon länger, ein kleineres Modell zu fahren – er lege damit ja nur noch die paar Kilometer zur Arbeit zurück. Aber Lars hängt an diesem Wagen, egal wie teuer er ihn kommt. Der Geruch der Sitze, das Brummen des Motors, das alles ist Teil jenes guten Lebens, das er nicht mehr führt – wie das eigentlich gekommen ist, weiss er nicht so genau.
Das Auto ist nicht die einzige Baustelle, auch die Miete kennt nur eine Richtung. Als im Vorjahr von Zinssenkungen die Rede war, hat Lars eine Anfrage über das Kontaktformular gestartet, aber die Verwaltung hat nie reagiert. Als er anrief, schützte die Sachbearbeiterin IT-Probleme vor und erklärte sich für unzuständig. Wenig später kam postalisch die Info, man gedenke zu renovieren: Nasszellen und Küchen. Es werde zu keinen Kündigungen, aber zu Preisanpassungen kommen.
«Preisanpassungen», ein nettes Wort für den Raubzug auf Lars’ Geldbeutel. Ob er überhaupt eine neue Küche will, hat keiner gefragt. Auch der Strom ist längst ein Problem, obwohl er sparsam zu leben versucht. Würde er aktuelle neben ältere Rechnungen legen, stünde sein Herz still. Anschlussgebühr, Netzentgelt, Durchleitungskosten, Investitionszuschlag: Die Abrechnung kommt so verwirrlich daher, dass jeder Nichtbürolist die Segel streicht.
Neulich ging eine Meldung über die Boni der Stromhändler durch die Medien. Die sollen sich mit Spekulationen am Spotmarkt eine goldene Nase verdienen. Lars hat keine Ahnung, was ein Spotmarkt ist, aber eines ist sicher: Auch hier steht er an der Basis der Nahrungskette. Als vor drei Jahren der Russe losschlug, sind die internationalen Preise sprunghaft gestiegen – geschenkt. Aber seither sind sie wieder gesunken. Offenbar gibt es tausend Gründe, dies nicht an die Endverbraucher weiterzugeben; und keiner von den Politikern, die behaupten, für die einfachen Leute da zu sein, tut etwas.
Lars hat den Eindruck, diese Konzerne verfolgten alle dasselbe Prinzip: Nach oben anpassen, nach unten aussitzen, bis den Protestierenden die Luft ausgeht. Wer wohl den längeren Atem hat? Niedliche Frage. Die «Freiheitlichen» halten sich in der Sache auffallend still – man ist der Depp, egal wie man wählt.

Protest-Folklore
In der Firma erzählen viele die gleiche Geschichte: Ihre Eltern haben mit Gusto links gewählt. Selber sind die Kollegen fast alle übergelaufen, wohin auch immer, früher oder später. Viele gehen erst gar nicht mehr zur Urne – und sehen sich dann in der Zeitung als Politikverdrossene taxiert, als Leute, die zu dumm sind für die Komplexitäten der heutigen Politik. Echt motivierend.
Der Werkstattchef meint, die Roten machten nur noch Protest-Folklore. Bald ist Lars der Einzige, der da noch Mitgliederbeiträge bezahlt, obwohl er sich in dem Verein nicht mehr heimisch fühlt. Viele Parteikader sind Anwälte und Ingenieure und leben in Neureichenquartieren oder an unerschwinglichen innenstädtischen Lagen. Geht Lars dort auf Parkplatzsuche, sieht er ihre Vollstromer auf den Vorzugsplätzen stehen.
An der letzten Betriebsversammlung hat ein hohes Gewerkschafts-Tier eine Rede geschwungen. Der sah genau so geleckt aus wie die Firmenbosse, die ab und zu mit einem Grüppchen von Hofschreibern durch die Werkhalle streifen. Sogar der Werkstattchef hat nachher gesagt: «Der kann eine Beisszange nicht von einer Flachzange unterscheiden.» Und sie haben gelacht, obwohl das doch zum Weinen ist. Die Familien vieler Arbeitskollegen müssen auf die Sommerferien verzichten, während der CEO der Grossbank Millionen einsackt – und Lars’ Partei legt Gendersternchen unters Sprachmikroskop. Nicht, dass Urlaub ein Menschenrecht wäre, aber er fragt sich, wo da die Gerechtigkeit bleibt.
Wen also soll er wählen? Denn wählen wird er, das hat er seiner Mutter versprochen. «Wenn Leute wie wir schon mitreden dürfen, sollten wir auch das Maul aufmachen», hat sie gesagt. «Es wird uns noch früh genug gestopft.»
Kurt Irgendwer
Lars sieht sich in seiner Küche um. Soll also alles raus: Fliesen, Armaturen, Geräte. Obwohl’s noch prima funktioniert. Von wegen nachhaltig. Lars kocht selten, und wenn, dann ohne Aufwand. Aber das interessiert keinen, das geht wohl nicht einmal in die Statistik ein. Er ist ein Bagatellfall, seit er auf dieser Welt ist. Um mit dem Anwalt zu kommen, fehlt ihm das Geld. Man müsste mit anderen zusammenspannen, aber in der Siedlung starren sich die Mieter nur mürrisch an oder machen sich mit Waschküchenkram das Leben schwer. Mit den Etagennachbarn kann man kaum reden – die einen sprechen kein Deutsch, die anderen sind so alt, dass sie mit ihren Fernsehern die halbe Etage beschallen. Zu denen dringt man in Zimmerlautstärke nicht vor.
Dem Mieterverband ist Lars vor kurzem beigetreten, Stine hat ihm dazu geraten, aber da muss man zwei Jahre Mitglied sein, um Anspruch auf Rechtsbeistand zu haben. Auch hier also gilt: Ausser Spesen nichts gewesen.
Einer, der sich Mieterschützer nennt, Kurt Irgendwer, hat neulich eine grosse Quartierrede geschwungen und Abhilfe versprochen. Passiert ist nichts. Im Ständerat soll er sich für Windturbinen im Jura eingesetzt haben, dort, wo Lars gern auf Radtouren geht. Der Typ sei gefährlich, sagt Stine: «Ein Saubermann, kungelt mit Baumultis und Pensionskassen. Unsere Sorgen kümmern den einen Dreck, obwohl er behauptet, Christ zu sein.»
Christ, Moslem oder Buddhist, Lars ist es egal. Nur Lobbyist geht nicht. Im Interview hat dieser Kurt Irgendwer behauptet, «in der Mitte» zu stehen. Dass es dort Platz für einen wie ihn gibt, glaubt Lars nicht. Wenn also diese Feigenblatt-Partei keine Heimat für ihn ist und die Linke nicht mehr seine Sprache spricht, wen soll er dann wählen? Grüne etwa, die ihm erklären wollen, wie man auch mit einem Sparbudget nachhaltigen Urlaub macht? Oder wird es soweit kommen, dass er bei der einstigen Bauernpartei landet, die den Eindruck erweckt, sie vertrete «das Volk», aber von Milliardären finanziert wird?
Dieser Gedanke ist Lars unerträglich. Er will alles sein, nur kein Protestwähler. Er kennt diese Leute gut genug. Die möchten wieder so leben wie vor zweihundert Jahren – mit eigener Quelle, ohne Impfschutz, Bier vom Fass und die Frau am Herd, selbstgeschlagenes Holz verfeuernd im Kampf gegen den Brüsseler Vogt. Dabei hängen sie mehr am Handy als sonstwer, und von Flugscham keine Spur. Mit einigen davon steht Lars auf der Tribüne der Arbeiter-Elf, während die Ehefrauen die Mittelaltermärkte abklappern…
Lars legt die Strom-, die Miet- und die Leasingrechnung auf den Stapel und sagt bei sich selbst: Weder wirst du dich auf einen dieser Bildschirmberufe umschulen lassen, noch wirst du das Kochen lernen, nur weil man dir eine Edelküche hinklotzen will. Du wirst weiter deine Radtouren im Jura machen, auch wenn über den Bäumen die Rotorblätter wummern, wirst weiter deine Karre fahren, egal wie gehässig dich die Genossen von ihren hippen Bikes herunter anstarren.
Bist du damit schon jener Wutbürger, über den die Klugscheisser sich in Talkshows Abend für Abend das Maul zerreissen? Und wenn schon. Man wird wohl noch aussprechen dürfen, was einen beschäftigt.
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➞ Lesen Sie demnächst Teil 3: «Warum Lars die Chipspackung misshandelt».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Schön. Und traurig. Freue mich auf den nächsten Teil!
Ha, ha, habe laut gelacht ob all den amüsanten Beschreibungen als Kondensat und Ergebnis des Primats der Gier nach Profit der Parteien der Mitte und rechts davon. Anscheinend gehört der Lars nicht zur Schweizer Mehrheit. Oder vielleicht doch. Allerdings einer Mehrheit, die noch nicht gemerkt hat, dass sie die Mehrheit hätte. Oder es nicht merken darf. Dank den Geschichten der Mitte und rechts davon von der Sicherung der Arbeitsplätze und davon, dass die Reichen fast 50% der Steuern bezahlen. Aber die Reichen sind reich, weil die Angestellten für sie arbeiten.