Kommentar
kontertext: Ins Meer damit!
Seit Donnerstag, 24. August 2023, wird in Fukushima kontaminiertes Wasser ins Meer geleitet. Modellfall für eine verbreitete Methode: Man verdünnt das Übel und empfiehlt das Vergessen. Das Codewort dazu lautet vernachlässigbar. Es klingt so präzis und bedeutet doch nur: «Wir wissen es nicht.» Rund um die nach wie vor kühlungsbedürftigen Reaktoren soll eine kostengünstige Lösung legitimiert werden durch den Verweis auf Grössenverhältnisse – dort die Unendlichkeit des Meeres, hier die verbliebene Strahlung. Jahrzehntelang hat die Betreiberfirma TEPCO Gewinne privatisiert, nun sollen die Kosten dem Meer überantwortet werden, der Allgemeinheit.
Seit Jahrzehnten schiessen Staaten und mächtige Organisationen Satelliten ins All. Noch nicht so lange wird ernsthaft diskutiert, was mit diesen komplexen Geräten geschieht, wenn sie funktionsuntüchtig werden. Zuvor hatte die Weite des Weltraums als Ausflucht gedient, um das Entsorgungsproblem zu ignorieren. Seit Menschen und Apparate in der Umlaufbahn immer mehr von Kollisionsrisiken bedroht sind, ist diese Logik des Verdrängens nicht mehr opportun. Der problematische Begriff ‹Umwelt› bezeichnet nicht nur den Raum, der uns umgibt, sondern ebenso ein grosses Ganzes, unergründlich, weit und nicht zu greifen. Stoffe, die kurzfristigen Nutzen versprechen, sollen sich darin verlieren. Erstmals wurde das am Beispiel von DDT zum Problem, inzwischen sind die Stoffe der PFAS-Gruppe ins Bewusstsein gerückt. Viele weitere werden folgen, von denen niemand weiss, wie sie sich auf lange Sicht verändern. Die Pegel steigen – nicht nur der Ozeane.
Planetares Unbewusstes
Als Einzelwesen sehe ich die Erde nicht als Gegenüber, ich ahne sie um mich. Zwar kenne ich von Bildern her ihre äussere Gestalt, doch als Himmelskörper ist sie in meinem Leben nicht zu greifen. So wird die Biosphäre, vom Ich her gesehen, zur ‹Umwelt›. Der Begriff setzt eine Trennung zwischen den Bewohner*innen und dem Bewohnten voraus – die Natur rückt von mir weg in einen abstrakten Raum. Dort draussen herrscht das allmächtige Rauschen der Sphären als quasi göttliche Dimension, worin alles Bedrohliche sich verliert und relativiert. Das grosse Ganze als Wal, der meine Ausscheidungen schluckt, als wär’s Plankton.
Lässt das Flugzeug Kerosin ab, stelle ich mir vor, wie unter mir die Flüssigkeit zerstäubt. Doch von der Erde her zu hoffen, die Partikel seien verschwunden, nur weil sie unsichtbar bleiben, ist Wunderglaube und passt wenig zu einem Wesen, das sich für aufgeklärt hält.
Der grösste zusammenhängende Lebensraum der Erde sind die Ozeane. Mit dem vielen Unliebsamen, das man ihnen anvertraut hat, sind sie zu einem planetaren Unterbewussten geworden, einem Massenspeicher des Verdrängten. Wie wenig der Mensch vor den Produkten seines Tuns sicher sein kann, auch in den weitestgespannten Zusammenhängen, zeigt sich an plastikübersäten Stränden und auf hoher See, wenn die Strömung schwimmende Partikel zu Abfallteppichen zusammenführt. Nicht auszuschliessen, dass ich beim Baden mit Molekülen aus dem Kühlkreislauf von Fukushima in Berührung komme.
Ozeanisch in ihrem Schwebetanz sind auch die Lüfte: Als der Physiker John Tyndall in den 1870er Jahren die Brechung des Lichts in der Luft mass, stellte er fest, dass sie unsichtbare Staubteilchen enthalten musste. Seither haben bildgebende Verfahren den Blick immer weiter in die Untiefen des Mikroskopischen hineingeführt. Mit jedem Atemzug inhaliere ich Kosmen aus kleinsten Partikeln – aus der Umwelt wird die Inwelt; das Ungewusste erobert meine Alveolen.
Hinter die Fassade
Schon immer haben mich die Rückseiten von Nobelhotels fasziniert. Für die Gäste ist alles Glanz und Politur, die Zimmer sind aufgeräumt, die Armaturen blitzend, die Tischtücher weiss. Doch nur wenige Meter hinter der Fassade des Luxus türmt sich alte Wäsche, der Müll bauscht Säcke, aus Abluftgebläsen hechelt Pestilenz, Kompostbehälter zeugen vom Abfall-Tribut der Haute Cuisine. Als Gast muss ich nur um das Gebäude gehen, um den Preis meines Komforts zu sehen.
Nun hat der Planet keine Rückseite für die vielen Schlacken, die im Premium-Alltag eines mitteleuropäischen Lebens ausgefällt werden. Das Rezept: Man verbannt sie aus dem Gesichtskreis der Nutzniesser – man überantwortet sie dem grossen Ganzen.
Soll dort die Zeit arbeiten, die «alle Wunden heilt»? Das mag für Bagatellfälle und monokausale Probleme möglich sein, doch im Räderwerk komplexerer Systeme läuft die Uhr nicht so linear, dass alles sich in einen intakten Ausgangszustand zurückdrehen lässt: Blessuren summieren sich, irgendwann wird aus vielen kleinen eine grosse, klaffende Wunde. Diese kumulativen Prozesse sind in Umweltbelangen konsequent unterschätzt worden. Gerade machen sie sich massiert bemerkbar.
Märchen und Mythen lehren: Was immer du vergessen oder verdrängen willst, fällt auf dich zurück. Redensarten und Sprichworte zeugen von diesem Wissen, auch das Konzept des jüngsten Gerichts enthält eine Ahnung von dem grossen Schlussstrich, der auch ein buchhalterischer Bilanz-Moment ist: Soll und Haben auf der Planetenwaage.
Schicksalsmechanik
In den Wind Gestreutes kehrt zum Urheber zurück – jeder Raucher erlebt es, wenn ein Windstoss seine Augen tränen lässt. Was du hinter dir lassen willst, baut sich vor dir auf, gerade wenn du glaubst, ihm entkommen zu sein. Von dieser Schicksalsmechanik handelt bereits die Ödipus-Sage in ihren ersten Passagen. Sie erzählt vom Versuch eines Sterblichen, seinem Schicksal zu entgehen, wodurch es sich eben gerade erfüllt – durch seine Hand, an seinen Nächsten, an ihm selbst.
Ob das Schicksal auf göttliche Prinzipien oder Statistik zurückgeführt wird, spielt in Fukushima keine Rolle. Wichtig ist nur, dass hier auf die Dimension eines Systems – der Weltmeere – verwiesen wird, um Unbequemes zu verschleiern: Nichts Emittiertes verliert sich, alles bleibt erhalten, im Erdmantel, im Wasser und in der Atmosphäre des Planeten. Wer sagt: «Von nichts kommt nichts», muss auch sagen: «Kein Bestehendes kann sich in nichts auflösen.» Schon Lukrez beschreibt in seiner Schrift De rerum natura um 55 v. Chr., wie Materie sich in Kreisläufen der Metamorphose unverlierbar bewegt und bewegt.
Die Natur nimmt alle freigesetzten Stoffe auf – der Verweis auf die Grösse des Bezugsrahmens ist bedeutungslos, wenn man an die Logik der Summierung denkt. Je globaler die Systeme, in denen Wissenschaft und Wirtschaft operieren, desto schwerer fällt es, Technologiefolgen an Orte auszulagern, wo sie unbeachtet bleiben. Das mag mit elektronischen Bauteilen und Batterien noch für einige Jahre möglich sein, doch sobald in China die Technisierung der Haushalte europäische Ausmasse erreicht, wird von dem, was ich weggesperrt haben möchte, so viel an den Tag kommen, dass ich mich nicht mehr auf die Nachtseite meines Lebensgebäudes flüchten kann; auch nicht mit sehr viel Geld. Wie Ödipus werde ich sehen, dass es kein Entrinnen vor den Folgen des eigenen Tuns gibt – was mir aus der Erde, dem Wasser und der Luft entgegenkommt, bin ich selbst.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Atommüll in den Meeren: Es ist alles seit Jahrzehnten noch viel schlimmer: Verklappung von Atommüll ab den 1960er-Jahren – in den 1990er-Jahren hat man mit diesem Wahnsinn zwar aufgehört, aber die Fässer rosten am Meeresgrund vor sich hin, und niemand kümmert sich darum…
https://fair-fish.net/de/was/lebensraum/atommuell/