Schwanensee Skulptur

Schwäne, wir warten auf Schwäne. © zVg

kontertext: In «Swan Lake» We Trust

Nika Parkhomovskaia/Inna Rozova /  Ohnmacht zwingt nicht unbedingt zum Schweigen: subversive Formen des russischen Widerstands gegen das Putin-Regime.

Zum Jahreswechsel 2022/23 schickten sich viele russischsprachige Bürgerinnen und Bürger Postkarten ohne Text, nur mit Bildern tanzender Schwäne aus dem Ballett «Schwanensee» von Pjotr Tschaikowsky. Damit wollten sie weder eine Hommage an die russische Kultur versenden, noch deren Gedeihen im kommenden Jahr befördern. Erst recht wollten sie nicht protestieren gegen die Unterdrückung der Kultur, die seit Beginn des Ukraine-Krieges zu einer Obsession der russischen Propaganda geworden war. Es war vielmehr eine nonverbale Art, sich gegenseitig den aufrichtigen Wunsch nach dem Tod des Präsidenten zu bekräftigen.

Das Ballett «Schwanensee», das 1876 geschrieben wurde und zunächst ein Misserfolg war, wurde im 20. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Symbole der grossen russischen Kultur, sowohl innerhalb des Landes als auch in der Welt. Noch heute ist es fast überall live zu sehen, von Paris bis Sydney, von Berlin bis New York. Russische Tänzer machen auf ihren Tourneen die Pas de deux aus Tschaikowskis Stück zum Hauptbestandteil ihres Programms, und es gibt viele Parodien des «Schwanensees», darunter ein absolut grossartiger Tanz von Rudolph Nurejew mit Miss Piggy aus der Muppet Show oder ein urkomischer Schwanensee Akt II (besser bekannt als der Tanz der kleinen Schwäne), der von Les ballets Trocadero de Monte-Carlo aufgeführt wurde. Auch prominente, zeitgenössische Choreographen haben das berühmteste russische Ballett immer wieder neu interpretiert: Bei Mats Ek glichen die Schwäne eher dem hässlichen Entlein, weil er sie durch kahlgeschorene, grotesk agierende Tänzerinnen und Tänzer darstellen liess.

Matthew Bourne schuf eine Liebesgeschichte unter Männern; und Alexander Ekman hat viele Kubikmeter Wasser auf die Bühne gebracht. Doch während die meisten Ausländer Tschaikowskis Meisterwerk als faszinierendes Märchen mit schöner Musik und eleganten Tänzen betrachten, sehen es die Russen noch in einem ganz anderen Zusammenhang.

Das Ballet Schwanensee anstelle einer Todesmeldung

Als Leonid Breschnew, der langjährige Vorsitzende der Kommunistischen Partei, 1982 starb, wurden die Menschen nicht darüber informiert. Stattdessen unterbrachen die Fernsehsender abrupt ihre Sendungen und zeigten den «Schwanensee». Später, als die Trauer offiziell ausgerufen wurde, wurden alle Unterhaltungsprogramme gestrichen, und die Zuschauer mussten sich das Tschaikowsky-Ballett wieder und wieder ansehen. Das lag nicht daran, dass die feierliche, tragische Musik am besten zum Anlass passte, sondern daran, dass Machtwechsel in der UdSSR immer mit Rivalitäten unter potenziellen Nachfolgern verbunden waren, sodass niemand wusste, was passieren würde und wer der nächste Generalsekretär sein könnte. Ausserdem hatte Breschnew so lange regiert (1), dass die Menschen sich ganz verlassen fühlten und die Behörden sie von jeder Art von politischen Diskussionen abhalten wollten. 1984 und 1985 wiederholte sich die Situation: Als die nächsten Parteiführer – Juri Andropow und Konstantin Tschernenko – kurz nacheinander starben, zeigten alle Fernsehsender im Land wieder den «Schwanensee». Seitdem wurde die weltberühmte Tschaikowsky-Musik mit dem Tod eines sowjetischen Führers assoziiert, der nicht demokratisch gewählt worden war.

Schwanensee Potkarte
Russische Neujahrsgrüsse 2023.

Im postsowjetischen Russland wurde die ganze «Schwanensee»-Anekdote völlig vergessen. Und obwohl Wladimir Putin mit den Jahren diesen alten «ewigen Führern» immer ähnlicher wurde, wollten die Regimegegner nur, dass er sich zurückzieht und abtritt. Doch der 24. Februar 2022 änderte alles. Jetzt wurden seine imperialen sowjetischen Ambitionen auch für diejenigen offensichtlich, die sie vorher nicht gesehen hatten. Und viele Menschen – nicht unbedingt in der Ukraine – wünschten sich, Putin möge zur Hölle fahren und den Löffel abgeben. Da jedoch jede öffentliche Äusserung, die nicht den Vorgaben der offiziellen russischen Propaganda entspricht, gefährlich ist und zu Geldstrafen oder einer Verhaftung führen kann, bedienen sich die Menschen, um ihrem Hass Ausdruck zu verleihen, aus Sicherheitsgründen oft einer Sklavensprache. Nicht nur die älteren Generationen, die den Zerfall der Sowjetunion miterlebt haben und sich an den Tod der Führer erinnern, sondern auch die jüngeren haben sich sofort an die Geschichte des Tschaikowsky-Balletts im Fernsehen erinnert.

Anlehnung an die Hymne der Perestroika

Der erste Videoclip «Wir suchen Schwäne, die tanzen» erschien im März 2022 im russischen Internet; er zeigte die Szenen des gewaltsamen Todes der blutigsten Diktatoren mit einem grossen Fragezeichen über Putins Todesaussichten am Ende. Wenig später wurde in den russischen sozialen Medien das Lied «Schwäne, wir warten auf Schwäne» weitherum verbreitet. Mit den Worten «Wir sind so müde von diesen Schlampen auf dem Bildschirm…» wagte dieses Lied nicht nur eine deutliche Ablehnung der offiziellen russischen Propaganda. Seine eigentliche Brisanz lag noch ganz woanders: «Schwäne, wir warten auf Schwäne» ist nämlich eine Umdichtung der Zeile «Veränderungen, wir warten auf Veränderungen», und diese Formulierung ist Teil eines berühmten Liedes von Victor Tsoi (2), das in den späten 1980er Jahren als inoffizielle Hymne der Perestroika galt. 

Und wenn anfangs Menschen, die mit der aktuellen Situation unzufrieden waren, sich vor allem verbal über Schwäne lustig machten, so hat sich unterdessen sogar die Musik von Tschaikowsky mit einer sehr präzisen politischen Bedeutung aufgeladen. Als Beispiel: Seit das Justizministerium die populäre Politologin Ekaterina Schulmann zur «ausländischen Agentin» erklärt hat, beginnt sie alle ihre Online-Sendungen (Titel: «Status») mit einer lustigen Adaption des «Schwanensees». So versteht ihr Publikum, was sie meint, aber gleichzeitig gibt es keinen rechtlichen Grund, sie für diese kluge Geste zu bestrafen.

Vielleicht aber, wer weiss, wird Wladimir Putins Regime doch noch unter dem Zeichen des Schwans in die Geschichte eingehen. Zum Jahreswechsel 2022/23 hat das «Schwanenthema» neben dem Spott über das Tschaikowsky-Ballett noch eine andere, recht unvermutete Entwicklung genommen. Sowohl Ukrainer als auch Russen berufen sich auf die Theorie der schwarzen Schwäne, die besagt, dass ganz unvorhersehbare, scheinbar nebensächliche, politische, wirtschaftliche oder soziale Ereignisse zu riesigen Konsequenzen führen können (3). Während der Ex-Präsident und glühende Kriegsbefürworter Dmitri Medwedew den USA mit einem Bürgerkrieg droht, sagen ukrainische Politstrategen voraus, dass die schwarzen Schwäne nach Russland fliegen und Putins Regime stürzen werden.

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1) Er kam an die Macht, kurz nachdem Chruschtschow 1964 abgesetzt worden war.
2) Viktor Tsoi (21. Juni 1962 – 15. August 1990), sowjetischer Sänger und Songschreiber, Mitbegründer von «Kino», einer der populärsten und musikalisch einflussreichsten Bands in der Geschichte der russischen Musik. Sein Lied «Changes» wurde 1986 uraufgeführt und ist eng mit der Perestroika-Bewegung verbunden. Heute gilt es als Widerstandshymne der russischen und weißrussischen Opposition.
3) Nassim Nicholas Taleb ist ein libanesisch-amerikanischer Essayist und Statistiker. Sein Buch «The Black Swan», 2007 erschienen, wurde von der Sunday Times als eines der 12 einflussreichsten Bücher seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet!

Übersetzung aus dem Englischen von Felix Schneider.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Nika Parkhomowskaia ist eine russische Wissenschaftlerin, Kritikerin, Kuratorin und Theaterexpertin. Die Sprachforscherin und Kulturjournalistin Inna Rozowa hat für verschiedene russische Medien geschrieben. Beide leben seit 2022 in Westeuropa. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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6 Meinungen

  • am 9.02.2023 um 11:07 Uhr
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    Darf ich daran erinnern, dass Schwanensee im allgemeinen Russlandhass massenweise abgesagt (gecancelled) wurde? Man kann mit Schwanensee-Postkarten also auch sehr gut gegen westliche Zensur und Hysterie protestieren 😉

  • am 9.02.2023 um 13:00 Uhr
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    Moin, moin ~
    peinlich, peinlich nur …
    Was möchten, wünschen sich Nika Parkhomovskaia, Inna Rozovadiese und all die anderen? Den Tod eines Menschen,den Tod von Putin … Was erhoffen sie sich sich davon? Davon ist leider nicht die Rede und ich möchte auch keine Mutmaßungen anstellen …
    Aber die Andeutungen lassen m.E. nichts Gutes bzw.Besseres für die Russen und die Menschheit ahnen …
    Dessen ungeachtet wünsche ich mir, dass Infosperber zukünftig keine Beiträge mehr veröffentlicht, in denen der Wunsch nach dem Tod eines Menschen gewünscht wird.
    HerzLichsT ut Ostfreesland, Ulrich ~

  • am 9.02.2023 um 13:36 Uhr
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    Putin mag ein brutaler Machtmensch sein, genießt aber nach wie vor sehr großen Rückhalt. Also weiterdenken: wenn Putin fällt, was ist dann? Was passierte im Irak, in Ägypten, in Libyen, Syrien als die Diktatoren fielen / fallen sollten? Bürgerkrieg der härtesten Art. «Failed states» mit Sklavenmärkten. Islamismus. Was passierte 1918 als Russland im Bürgerkrieg und der Sieg der Bolschewiki keineswegs abzusehen war? Ausländische Interventionen, ausländische Unterstützung für Bürgerkriegsparteien, jeder wollte ein Stück vom russischen Kuchen. Deutschland, Frankreich, England, Japan, USA waren erpicht auf ein schwaches Russland. Was passiert also, wenn Putin fällt? Wahrscheinlich wiederholt sich der Terror der Jelzin-Jahre. Nur diesmal mit gut bewaffneten Oligarchenarmeen und dem leistungsfähigsten A-Waffen-Potential der Erde. Vielleicht auch wieder mit den üblichen «Guten» aus der westlichen Welt, die sich die Ressourcen krallen und von Demokratie schwatzen.

    • am 11.02.2023 um 14:53 Uhr
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      Ja, richtig! Weiterdenken. Weiterdenken: was passiert, wenn Putin stürzt? Russland erstreckt sich über 11 Zeitzonen, verschiedene Völker gehören zu Russland. Und Russland verfügt über grosse Ressourcen, die man noch so gerne ausplündern würde. Man muss Putin deswegen nicht mögen. Welchen Staatschef ‚mag‘ man schon. Aber man müsste dringend von A nach B denken, vor allem die europäischen Nachbarn Russlands. Aber die scheinen allesamt nicht viel aus der Geschichte gelernt zu haben. Plündern fremder Schätze ist einfacher.

  • am 9.02.2023 um 16:22 Uhr
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    Interessant – Tschaikowski und russische Kulturschaffende werden in vielen europäischen Ländern boykottiert, besonders auch in der Ukraine, wo sogar die ganze russische Literatur und Sprache, z.B. Puschkin, auf die Boykottliste geraten ist. Auch Polen, die baltischen Staaten und Finnland, das früher eine sehr offene Kulturlandschaft hatte, zeichnen sich durch solche Aktionen gegen die russische Kultur aus.

    • am 10.02.2023 um 07:30 Uhr
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      … und endlich intensive Bemühungen für Frieden auf allen Ebenen
      und nicht Boykotte und Waffenlieferungen …
      Kriege und Tötungen sind nie eine Lösung …
      Es leiden immer die Falschen, nämlich das einfache Volk – das bezahlt die Zeche …

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