Kommentar

kontertext: In Lars wächst still die Wut

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Manchmal hat er das Gefühl, nur gegängelt zu werden und eine DIN-A4-Existenz zu führen. Der Werdegang eines Wutbürgers. (Teil 1)

Wird Lars nach seinem Beruf gefragt, sagt er wahrheitsgetreu: Dreher. Noch immer schwingt ein Echo des alten Berufsstolzes mit, obwohl der Werkstatt­alltag ganz anders aussieht. Eigentlich stimmt die Bezeichnung nicht mehr. Mit CNC* ist alles anders geworden, der Mensch ist für die Maschine da, nicht umgekehrt. Steigt die aus, steht alles still, fehlt dagegen Lars, läuft das meiste weiter wie zuvor. Das grosse Rad muss in Bewegung bleiben, ein Dreher ist ersetzbar, die Steuerungstechnik nicht. Lars weiss, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch seine Arbeit von Greifarmen verrichtet wird, auf den Zehntelmillimeter genau, Tag und Nacht, bei jeder Temperatur.

Früher hat man ihm nachgesagt, seine Schweissnähte seien die schönsten, wenn es denn mal etwas zu schweissen gab. Da war Dreher ein angesehener Beruf – nichts, worauf man sich etwas einbilden musste, aber doch etwas Respektables. Darum legte man Wert auf die Berufs­bezeichnung, einige liessen sie sogar ins Telefonbuch schreiben. Heute gibt es kein Telefonbuch mehr, und in der Firma wird Lars behandelt, als wäre er nur teurer Ballast. Er ist ein Kostenfaktor, geduldet, solange die Roboter noch nicht zu dem ertüchtigt sind, was er kann, übrigens mühsam erlernt über längere Zeit.

Mit angezogener Spassbremse

«Der Roboter kriegt keinen Schnupfen», hat der Chef gesagt. Krankwerden ist also keine Option für einen Dreher – liest Lars doch mal etwas auf, findet er in der Apotheke zwei Fantasieposten auf der Rechnung: «Medikamenten-Check» und «Bezugs-Check», als Strafe fürs Vorweisen eines Rezepts. Was das sein soll, kapiert kein vernünftiger Mensch. Lars weiss nur: Ende des Monats kriegt er keinen Lohn-Check draufgepackt, sondern Abzüge, dass die Ohren wackeln.

Lars haut nicht über die Stränge, er trägt Kleider von der Stange, sieht die Gra­tis-Sender, kauft Dutzendprodukte in Aktion, er hat keine teuren Hobbies, und die Kneipenabende sind gestrichen, seit Stine und er sich freitagabends bekochen. Zum Glück gibt’s das Problem Foodwaste, so weiss Lars, warum er jeden zweiten Abend Resten isst.

So lebt es sich mit angezogener Spassbremse. Dass sein Sender keinen europäischen Clubfussball mehr zeigt, hat er verschmerzt, so wie er weiter Empfangsgebühren bezahlt für Dinge, die er sich nie ansehen würde: weinende Tennis-Millionäre bei der Siegerehrung oder Kunstsendungen, in denen besprochen wird, ob ein Mensch eine Topfpflanze oder ob eine Topfpflanze ein Mensch sein kann. Und dazwischen das Dauergewitter der Wer­bung, wo tausend nutzlose Dinge gefeiert werden, die sein Budget bedrohen. (Er spart ja nicht für Tauchurlaub in Costa Rica, sondern für die Steuern.)

Kein Wunder, werden die Mattscheibenzeiten länger. Manchmal fragt sich Lars, ob eigentlich noch er entscheidet über sein Leben – oder ob es an seiner Stelle der Geldbeutel tut. Alles an seinem Verhalten kommt ihm vorgespurt vor, von der Werbung suggeriert, von Gesetzen abgesteckt und vom Budget beschnitten: Kurz­urlaub, Fast Fashion, Dutzendfutter und Billigwein. Sport, Drama, seichte Pointen und True Crime. Fettarme Nahrung, leichte Musik und Safer Sex – das übliche Programm. Lars führt eine DIN-A4-Existenz. Sogar sein Kinn sieht bald so aus wie das in der Aftershave-Werbung – schaut er sich noch länger diese Windel-Spots an, wird er inkontinent. Über diesen Spruch hat Stine gelacht und ge­sagt, er solle doch Comedy machen. Sie hat auf das dunkle Bullauge des Fern­sehers gezeigt und gesagt: «Was die da bieten, kannst du auch.»

Einen über den Durst

Ja, vielleicht kann er das auch, aber will er es denn? Lars erinnert sich an den Staatskundeunterricht. Da hat der Lehrer stolz verkündet: «Dies ist ein freies Land, es besteht Chancengleichheit.» Der Lehrer war Sohn eines Lehrers, be­tonte aber, dass auch Kinder von Nichtlehrern Lehrer werden könnten. Einmal hat er Lars angeschaut und gesagt: «Obwohl deine Mutter Näherin ist, kannst du studieren, wenn du dich genug am Riemen reisst.»

Dieses «Obwohl» findet Lars heute beleidigend. Seine Mutter war eine patente Frau, sie hat das Beste aus ihrer Lage gemacht. Und Lars hat sich angestrengt, um sie stolz zu machen. Aber in Kneipen hat er sich wohler gefühlt als in den Fressbeizen der Neureichen. Er hat immer die Nähe von Menschen gesucht, die seine Sprache sprachen, so wie Stine, so wie die Werkstattkollegen. Das waren oft Habenichtse wie er. Er mag weder gestelzte Ausdrucksweisen noch gelecktes Auftreten. Ein einziges Mal in seinem Leben hat Lars eine Krawatte getragen: an der Beerdigung seiner Mutter.

Und doch hadert er heute mit seinem Lohn. Er reicht nirgends hin, obwohl Lars sich am Riemen gerissen hat, wie der Lehrer es verlangt hatte. Aber besser, man hält die Klappe – wer sich beschwert, muss mit Nachteilen rechnen. «Das ist die alte Geschichte vom Kaninchen und der Schlange», sagt Toni, der Werkstattchef. «Und glaub bloss nicht, was die von der Gewerkschaft erzählen. Die kochen nur ihr eigenes Süppchen.» Wer Forderungen stellt, ist vorgemerkt und könnte der Erste sein, den man schasst, wenn es mit der Bude abwärts geht. Und es geht ja schon abwärts. «Der Chinese schläft nicht», warnt der Patron bei jeder Gelegenheit. «Die Produkte des Chinesen gehen zwar schneller kaputt, trotzdem verdrängen sie uns vom Markt.» Am Firmenessen kamen dann Durchhalteparolen, aber erst nach dem dritten Glas.

Einen über den Durst zu trinken, auch ein Rezept, das immer weniger aufgeht. Von allen Seiten prasseln Gesundheitsempfehlungen auf Lars ein. Neulich hat ein Fernsehdoktor das Feierabendbier mit Asbest verglichen: eine Zeitbombe, absolut tödlich! Greift Lars nach seinem Lieblingsmüsli, sieht er zuerst diese neuen Warnkleber: Achtung, Zucker! Lebensgefahr! Nicht mal etwas Süsses darf man sich gönnen. Aber keine Angst, ausser Stine sorgt sich niemand wirklich um seine Gesundheit. Es geht nicht darum, wie er sich fühlt – man sorgt sich um die Kosten, die er verursachen könnte, und möchte, dass er seine Leistung bringt. Das System sieht ihn als Rädchen im Getriebe, nicht als Person.

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Das Kontaktformular ausfüllen

Nur wenn’s um die Begleichung von Rechnungen geht, ist er persönlich angespro­chen: Nun kennt man auf einmal seinen Namen und weiss, wo er wohnt. Weil er ab und zu mal einen Zahlungstermin verpasst, legt man eine Broschüre bei, mit Piktogrammen garniert, als wäre er geistig behindert: «Unverbindliche Schuldenberatung». Will Lars sich aber gegen den Verzugszins wehren, statt mit Leuten zu quatschen, die ihm «helfen» wollen, findet er weder Adresse noch Telefonnummer. Stattdessen soll er das «Kontaktformular» ausfüllen und dann warten, bis man auf ihn zukommt – bis die Schlange Zeit findet, sich mit einem Kaninchen namens Lars zu befassen.

Lars hält sich für einen friedliebenden Menschen. Die Mutter hat ihm Hilfsbe­reitschaft beigebracht. Wenn die da oben nur für sich selber schauen, dann hilf deinesgleichen, hat sie gesagt. Heute wird von «Solidarität» geschwafelt und von «Lastenausgleich», während die Multis alles, was geht, nach Polen ausla­gern, um noch ein paar weitere Rappen rauszuquetschen. Marge nennt sich das in deren Sprache.

Ja, Lars hält sich für einen friedlichen Menschen, aber er spürt, wie in seinem Innern ein Mitbewohner heranwächst, der sich von der Galle ernährt, die Lars produziert. Es ist die Wut, die noch nicht genau weiss, worauf sie sich richten soll, ausser auf sich selbst und seinesgleichen.

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*Computerized Numerical Control (computergestützte numerische Steuerung), ein elektronisches Verfahren zur Steuerung von Werkzeugmaschinen

Lesen Sie demnächst Teil zwei: «Lars macht das Maul auf».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

5 Meinungen

  • am 8.04.2025 um 11:31 Uhr
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    Wunderbar geschrieben, bravo! Zugleich sehr amüsant und tief deprimierend. Fast eine Einladung zur «Überwindung des Kapitalismus» 🙂

  • am 8.04.2025 um 11:44 Uhr
    Permalink

    Ja, die Automatisierung hat dem Menschen vieles voraus. Aber eines (noch) nicht: Ein Roboter darf nicht wählen. Aber auch diesen Vorteil macht in der «Demokratie» (was ist das?) die Mehrheit mehr als wett, indem sie gegen ihre eigenen Interessen entscheidet. Oder warum sonst haben wir Wohnungsnot und Verkehrsfluten und krankes Krankenwesen und Artensterben und Mikroplastik im Gehirn und bald 6G und Burnout und zunehmend zu wenig Wasser (vor allem sauberes) und . . . sind sooo glücklich?

  • am 8.04.2025 um 11:56 Uhr
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    Bravo. Gut geschrieben und zusammengefasst das Leben des Mittelstandes in der Postmoderne. Leben in einer Gesellschaft, geschaffen von der liberalen Freiheit, vom Mann als Unternehmer vor allem, der angeblich jeden Tag aufsteht und anpackt, von der angehängten Politik der Demokraten. Von Demokraten einer kaufbaren Demokratie als Feigenblatt für die Diktatur der wirtschaftlich Mächtigen. Kein Wunder kommt dem Bürger an der Maschine langsam die Galle hoch und spült immer mehr Arbeiter nach rechts. Nach rechts als persönliche Frustbearbeitung, die Gesellschaften gleichsam so zerreisst, wie die aufgehende Schere der Einkommen und Vermögen. Die Fahrt geht ins Verderben und der Führerstand ist voll von Profiteuren. Von Profiteuren, geblendet von der Gier des Profits nur für sich.

  • am 8.04.2025 um 18:40 Uhr
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    Auf den Punkt! Top!

    • am 9.04.2025 um 11:53 Uhr
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      Ein Lebenslauf aus dem 21. Jahrhundert: Die Sicherheiten sind weg, die Verlustängste sind gross. Die Rettung und das Heil wird am rechten politischen Rand versprochen. Wie einfach für diese Kreise Ressentiments als Tatsachen zu bewirtschaften! Ich bin gespannt auf den zweiten Teil.

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