Kommentar
kontertext: Die Schrift an der Wand
Plötzlich sticht der Schriftzug ins Auge: «TOD DEM IMPERIALISMUS!», ruft die Schrift und eine Strassenecke weiter tönt es in altkommunistischer Strenge: «PROLETARIER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH!» – beides mit Hammer und Sichel versehen. Ein meterhohes «RJB» auf einer Klinkerfassade ganz in der Nähe lässt sich als Hinweis auf die Urheber lesen: Revolutionäre Jugend Basel.
Daneben in Blau «EVEDA». «EVEDA» steht auch gross auf der Sitzbank vor dem Kiosk an der befahrenen Kreuzung, und wenn abends der Rollladen runterlärmt, erscheint darauf wie ein Sternbild «URONE», der zudem einige Meter daneben auf einer Mauer prangt, in ballonartiger Prachtschrift. Etwas weiter die Strasse hinunter, wo ein Regenabfluss im Asphalt verschwindet, weist jemand von der Dada-Fraktion extra darauf hin: «Röhre!»
Das Spektrum der Aufschriften reicht von Nicknames und Akronymen über Scherze bis zu Ironie mit tieferer Bedeutung.
In den letzten 16 Monaten gab es ausreichend Gelegenheit, die eigene Umgebung und die angrenzenden Quartiere neugierig zu durchwandern, unbekannte Grünflächen zu entdecken, neue Skaterbahnen für die Kleinen – und eine Menge Schriften auf allen möglichen Wänden und Flächen. Die Behörden tun schon lange einiges, um das, was in ihren Augen Buchstaben-Müll ist, zu entsorgen. Und die Privaten gehen mit abwaschbaren Anstrichen, Reinigungsaktionen oder Anzeigen gegen die unbestellten Beschriftungen und Beschmierungen vor. Wenn sich die Schadenssumme auf 60’000 Franken oder mehr beläuft, können Gerichtsverfahren den Taggern und Sprayerinnen richtig weh tun.
Sie haben sich deshalb vor allem auf weniger sensible, quasi herrenlose Flächen verlegt, auf Unterführungen, Garagentore und Zufahrten, auf Warenautomaten, Abfalleimer, Pfosten, Verkehrsschilder und EW-Verteilkästen. «URONE RST SUR SOEK AMOS kwar», menetekelt es von Wänden und Sitzbänken. Zuweilen tobt der Wettkampf um ein Plätzchen auf engstem Raum. Beliebt sind Nebeneingänge und Servicetüren, deren Quadrierung wie ein Bilderrahmen funktioniert, in dem sich die Grafomanen oft ganz ordentlich eintragen, denn Drüberschreiben ist tabu.
Manches ist bewusst unlesbar, viel Lesbares ist unverständlich, Phantasienamen und rätselhafte Akronyme in bunter Mischung. «URONE» ist wieder da. Wer sind SOEK, AMOS, PAX, BÜQER? Was ist «kwar« oder «RST»? Das meiste sind Nicknamen. Der unentbehrliche Urban Dictionary, ein Online-Lexikon der Szenen- und Slangsprachen, unterrichtet uns, dass «kwar» unter anderem für «queer» steht und «RST» für ein schnelles sexuelles Erlebnis (Resolved Sexual Tension). Man müsste dem Dechiffrierwahn verfallen, wollte man die Hunderte von Kürzeln und Ziffernfolgen entziffern, die in einer Stadt auftauchen. Es sind Codes für Angehörige von Bewegungen, Szenen, Crews, urbanen tribes, sichtbar und verschlüsselt.
Die Grundformel dieser Inschriften lautet schlicht: «Ich war hier» – und je mehr ein Tagger, eine Sprayerin «hier war», desto mehr IST sie. Hier gilt die alte Erkenntnis: Das Medium ist die Botschaft. In der Antike wurden gediegenere Formulierungen benutzt: «Pacatus hic cum suis mansit Pompeis» («Pacatus hat sich hier mit seinen Angehörigen in Pompeji aufgehalten»), steht auf einer pompejischen Wand. Im Zweiten Weltkrieg verbreitete sich ein legendäres Graffito um die Welt. Auf Fahrzeugen, Gegenständen und Denkmälern wurde der Satz «KILROY WAS HERE» hinterlassen – als Meme für den allgegenwärtigen GI, den universal soldier. Wo Soldaten hinkamen, war immer schon KILROY dagewesen als Garant des Überlebenswillens. KILROY ist das moderne Urbild aller Ich-war-hier-Einträge, mit denen sich die flüchtigen Individuen in der Masse als Existenzen behaupten möchten.
In den wilden Grafotopen des öffentlichen Raums spielt sich Ähnliches ab wie in den Biotopen: Es geht um Präsenz, Wettstreit, Kooperation, Reichweite. Einige Spezies sind äusserst invasiv und markieren ihre Territorien penetrant. Manche scheinen enger liiert: Wo «URONE» und «EVEDA» sind, ist meist «SPANK» nicht weit. Vor «KECO», «QUIET» (mit spiegelverkehrtem E) oder «ANGRY» ist man nirgendwo sicher, CareCazeCubeCureCute klingt es durch die Strassen. Phantasie- und Prachtschriften wecken Aufmerksamkeit wie das Prunkgefieder eines Vogels, andere benutzen riesige Lettern oder unzugängliche Stellen, beispielsweise hoch oben auf einer Brandmauer, um sich fame zu erwerben.
Eigentlich geht es bei diesen Aktionen immer um eine Art Performance: Umgebung checken, Schreibzeug bereithalten, mit schnellen Bewegungen die Inschrift auftragen, verschwinden. Sprayen und Taggen ist eine physische Darbietung, wir Passanten werfen erst nach der Aufführung flüchtige Blicke auf die Ergebnisse der unsichtbaren nächtlichen Tänze.
Die grosse Masse der Inschriften, geschätzt über 90 Prozent, sind Namenszüge oder Buchstabenfolgen. Die Grenze zwischen blossen Markierungen und eigentlichen Botschaften ist allerdings verschwommen. So ist das in vielen Variationen auftretende «ANGRY» zugleich Nickname und Aussage, der Writer gibt sich eben als Zorniger.
Wie sich Aliase, Botschaften und Szenensymbole vermengen, zeigt sich an dem uns inzwischen wohlbekannten «URONE»: Der Name dürfte sich auf die Spielfigur «Champion of the Naaru» aus dem erfolgreichen Computergame «World oft Warcraft» beziehen, in dem es wie seit Urzeiten um den Kampf zwischen Gut und Böse geht. Dass die Gamerszene stark in die Sprayer-Community hineinwirkt, hängt mit dem Einfluss solcher Spiele auf junge Menschen zusammen. Der weltweite Umsatz der Games lag 2020 mit 24 Milliarden US-Dollar doppelt so hoch wie der Umsatz der gesamten Kinoindustrie.
Und wie steht es mit den überraschenden Sprüchen an den Wänden, den Aphorismen, den Obszönitäten? Sie bilden die Minderheit der Auf- und Einträge, haben aber eine lange Tradition.
«Futui coponam», kritzelte vor 2000 Jahren ein Römer in eine Mauer («Ich habe die Wirtin gevögelt«). Die Lust an der Zote ist uralt, erweitert ständig den Schatz primitiver Ausdrucksmöglichkeiten und erzeugt Sprüche und Reime, wie sie Peter Rühmkorf in seinen Exkursen in den literarischen Untergrund («Über das Volksvermögen», 1967) gesammelt hat: «Goethe sprach zu Schiller / Hol aus dem Arsch nen Triller».
Die verkümmerte Einwortsprache der Pornofilme ist auf diesem Gebiet weit verbreitet, viel mehr als «FUCK«, «SUCK«, «CULO» steht oft nicht da. Die Vulgärsprache ist stark maskulin geprägt: Immer wieder «PENIS«, ein «PENIS« steht in der Täfelung der Holzbrücke über die Birs (weisser Spray auf Holz), hundert Meter weiter antwortet immerhin ein fröhliches «VIVA LA VULVA!» (Silber auf Stahl).
Überraschend ist «Hey Mis Figschnitzel» (Filzstift auf Stahl), das ein User auf dem Pfeiler eines Bahnperrons angebracht hat, beinahe zu grübeln gibt «Sophies Big Schwanz», in kleiner Handschrift an eine MacDonald-Filiale gekrakelt (Kugelschreiber auf Verputz). Auch die Anhänger des Analen kommen zu Wort: «STUPIDO NO POPO« (Filzstift auf Glas) oder «#POPOPIRAT» (Farbstift auf Holztisch) zeugen davon.
Auf dem Gebiet der politischen Verlautbarungen stösst man meist auf die immergleichen Evergreens («PRIVAT LEBE GIBT’S NICHT!», «REVOLTE HEISST LEBEN», «NE TRAVAILLEZ JAMAIS») oder auf Pöbeleien («NUR COVIDIOTEN TRAGEN MASKEN», «Kill Nazis NAZI Fuck off»). Jede Sprache läuft Gefahr, in Klischees zu erstarren oder grossmäulig zu wirken, die politische wohl besonders. Es ist darum interessant zu beobachten, dass auch die Wände der Stadt Zeugnis vom Bemühen um einen lebendigen Stil ablegen.
Das tumbe «FUCK» wird neuerdings oft durch ein «ORF» ersetzt, was nichts mit dem österreichischen Fernsehen zu tun hat, sondern als Rest der Verballhornung «Fuck orf!» nun fürs Ganze steht («you orfin’ dude»). Auch das schwer erträgliche «FTP» (das übrigens in Irland als «Fuck The Pope» gelesen wird) hat eine listigere Variante gefunden: «STILL NOT LOVING POLICE». Neben altbekannten Parolen wie «Kapitalismus = Krieg» überrascht der Rat: «LERNT VON LEONIE KASCHER!» – es ist dies eine Hommage an die aus Polen stammende anarchistische Jüdin (1890–1957), die während des 1. Weltkriegs in der Schweiz an der Zimmerwalder Konferenz und an der Gründung der KPS beteiligt war, nach dem Generalstreik des Landes verwiesen wurde und in der Sowjetunion mehrere Lageraufenthalte überlebt hat.
Aus den Dosen feministischer Sprayerinnen stammt nicht nur das eindeutige «STOPP FEMIZIDE!», oft liest man den Merksatz «NI UNA MENOS» («Nicht eine weniger»), meist in Phantasieschrift geschrieben, die man erst entziffern muss.
Die in Lateinamerika im Kampf gegen den Skandal der Femizide entstandene Parole ist ein gutes Beispiel für einen Slogan mit schillernder Bedeutung. Natürlich meint er in erster Linie: «Keine weitere mehr» («Ni una más» gibt es auch). «Nicht eine weniger» liest sich aber vertrackter, hebt stärker den Verlust jeder einzelnen hervor, meint vielleicht auch, dass mit jedem Mord an einer Frau nicht «nur eine weniger» da sei, sondern eigentlich alle Frauen im Visier sind.
Und immer wieder tauchen alltägliche, witzige, philosophische Botschaften auf, etwa der Hinweis «AB HIER BITTE LÄCHELN» oder das rätselhafte «IT AINT OVER YET», der Gruss «HALLO KIRCHE» auf einer Tür der Peterskirche und ganz in der Nähe, rund um die Seitenfläche eines EW-Verteilkastens geschrieben «EHEN AUF DEM GROSSEN HIMMELSZELT», etwas weiter entfernt ein kurzes, trauerndes Innehalten «RiP STeFF» – rest in peace.
Nicht nur weil uns viele Spraysprüche appellativ ansprechen («NEVER TRUST A POLITICIAN!»), sind sie Teil einer öffentlichen Kommunikation. Auch ein freundlicher Gruss unter Kollegen («Küs, How you’Re DOING?»), eine nützliche Mitteilung («Hab’s Poulet!») oder die Erinnerung an eine Abmachung («Marco meld dich») sind Fetzen einer alltäglichen Unterhaltung.
Ein schönes Beispiel für einen solchen Austausch findet sich in der Nähe des Zentrums für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie der Uni Basel. Die witzige Pointe «NO GOD · NO MASTER · NO VARTIS» (mit dem Seitenhieb auf den Pharmamulti) wird konterkariert von einem vielsinnigen «No concita Wurst, no Laodizea». Will das sagen: No Pseudo-Promis, no Meisterdenker? Ist es Dadaismus oder Gagaismus? Der feministische Aufruf in Blau zur Rückeroberung der Stadt («WITCHES AND BITCHES TAKE BACK THE TOWN! 14. JUNI») passt ganz gut zum autonomistischen Ton, der hier vorherrscht. Daneben wurde das stadtweit notorische «OK COOL» unwillig als Einmischung durchgestrichen: Halt’s Maul! Schliesslich mischt sich mit «WOPH» ein Gamer oder eine Gamerin ein, die offensichtlich gerne «War of Philippine Heroes» spielt, das den Heldinnen und Helden der philippinischen Unabhängigkeitskämpfe gewidmet ist.
Im Glücksfall entsteht durch das Zusammenspiel solcher Botschaften eine Art Graffiti-Chat, der sich auf Wänden, Pfeilern und Mauern als ein in stetem Wandel befindliches soziales Medium ausbreitet, physisch und analog. Man muss nur ein Auge dafür haben.
Der Autor dankt Martin Schäfer, Niggi Schäfer, Alfred Schlienger und Claudius Sieber für Hinweise. Wo nicht anders vermerkt, stammen die Fotos vom Autor.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Christoph Wegmann, geboren 1948, lebt in Basel. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und unterrichtete an Gymnasien und in der Erwachsenenbildung. Im Mai 2019 erschien im Berliner Quintus Verlag seine Bildstudie «Der Bilderfex. Im imaginären Museum Theodor Fontanes».
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Erstaunlich, wie selbstverständlich man es hier findet, dass öffentliche oder private Flächen den Schnellsten und Frechsten als Unterlage für Proklamationen zur freien Verfügung stehen. Die nicht einvernehmlich angebrachten Graffiti sind Schandmale. Sie sind Manifeste der Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen Raum. Das Resultat ist eine allgemein Entfremdung diesem Raum gegenüber und seine Entwertung. Am deutlichsten kennt man das von der Subway in New York – bis man dann in den 1990ern unter Rudy Giuliani aufräumte. Das wenige an Originalität wird durch dumpfes, massenhaftes Nachäffen zunichte gemacht. Aus Zürich mag ich mich erinnern, dass in einem Quartier vor einigen Jahrzehnten systematisch Tötungsaufforderungen gegen eine leicht erkennbare Person (Inhaberin eines Detailhandesgeschäfts gleichen Namens) auf Privatfassaden und -gesprayt wurden. Ich kann gut ohne das Zeugs leben und finde den kulturellen Gewinn gering.
Wie sehr müssen die Spayer*innen die Stadt hassen, um sie so hässlich zu machen?
«Wir sprühen nicht vor Freude»
war ein amüsanter Spruch auf den zahllosen hässlichen Betonflächen der Großstadt Köln gesprüht – dagegen war der Näglis Knochenmann auf einer Kirchenmauer recht fantasielos
https://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Naegeli#/media/Datei:St._C%C3%A4cilien_K%C3%B6ln_-_Totentanz_-_Harald_Naegeli_(7900-02).jpg
Die Städte werden in rasantem Tempo mit Betonmauern zugestopft und moderne Kirchen- Kulturbauten werden ‹denkmalgeschützt› obwohl sie wie Flak-Türme ausschauen (ich habe 30 Jahre in der Kölner Universitäsbibliothek gearbeitet, wo Treppenhäuser im Rohputz gebaut waren)
PS Was ist eigentlich mit Streetart-Künstlern wie Basquiat
https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Michel_Basquiat
Manuel Pestalozzi meint (von mir geringfügig angepasst): «Erstaunlich, wie selbstverständlich man es hier findet, dass öffentliche oder private Flächen den Schnellsten und Frechsten als Unterlage für Proklamationen zur freien Verfügung stehen. Die die Luft verpestenden, die körperliche Unversehrtheit von Fussgängern fortwährend gefährdenden und Motor-aufheulenden Autos sind Schandmale. Sie sind Manifeste der Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen Raum. Das Resultat ist eine allgemein Entfremdung diesem Raum gegenüber und seine Entwertung.»
Anders ausgedrückt: Sind Autos, die praktisch jeden ‹öffentlichen› Flecken der Stadt besetzen (so wie andere Häuser…) und daher ‹erforderlich› machen, dass alles zubetoniert wird, nicht doch vielleicht die weitaus grösseren Schandmale (als die – zwischen den Autos – gelegentlich noch wahrnehmbaren Graffitis) … wenn man sich einmal von seinem gewohnten Denken etwas zu lösen versteht? Fragen wir einmal die – noch nicht in engen Denkmustern verhafteten – Kinder …
@Stephan Kühne (Antwortbutton funktioniert leider nicht) – Im Gegensatz zu Graffitis sind Autos nicht anonym und beweglich. Wenn sie nicht an den für sie vorgesehenen Plätzen abgestellt sind oder die eingeforderten Parkgebühren nicht entrichtet werden, kann man sie schnell und gründlich entfernen. Die Politik regelt das bekanntlich. Gehorsam und bei dessen Verweigerung Bestrafung werden beim Autoparken weitherum als eine Selbstverständlichkeit betrachtet.