Kommentar

kontertext: Die «Schiefgeborene»

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  So nannte sich Mariella Mehr in einem Gedicht. Erinnerungen an die jüngst verstorbene Schriftstellerin und ihr Werk.

Anhand von Mariella Mehrs Familiengeschichte ist zu sehen:  Wer im 19. und 20. Jahrhundert zu den Fahrenden gehörte, war verdammt. Das Verhängnis pflanzte sich von Generation zu Generation fort. Die bürgerlichen Verfolger liessen nicht locker, und die Kaputtgemachten gaben, kämpfend wie Fische auf dem Trockenen, die Kaputtheit weiter an ihre Kinder, so wie sie sie von ihren Müttern und Vätern empfangen hatten.

Mariella Mehr hat sich aus diesem Schicksal herausgearbeitet und wurde zu einer grossen Schriftstellerin. Ihren ersten Roman, «Steinzeit» (1981), schrieb sie noch, wie sie sagte, «für mich». Es war ein Schrei, dessen Echo die Autorin hören musste, um überhaupt erst ein Bewusstsein und eine Sprache zu entwickeln für ihre schreckliche Kindheit und Jugend, in der sie physisch und psychisch malträtiert, eingesperrt, für verrückt und schuldig erklärt wurde. Das grossartige Dokumentardrama «Kinder der Landstrasse» schrieb sie dann (1987) schon nicht mehr nur für sich, sondern für alle Fahrenden, als Sprecherin von Sprachberaubten, als Mahnerin gegen das Vergessen, als Militante für eine bessere Zukunft. Mehr ist hier schon meilenweit vom Oberflächen-Realismus mancher Politstücke entfernt. Ihre visuellen Bühneneinfälle gehen ins Groteske, die Vertreter und Vertreterinnen der Macht erscheinen als – durchaus differenziert gezeichnete – Monster, die rhythmisierte Prosa braucht den Vergleich mit Peter Weiss’ «Marat/Sade» nicht zu scheuen. So herzzerreissend und anklagend das Theater ist, es ist gleichzeitig ein Stück Geschichtsschreibung, nämlich das sozialpsychologisch präzise Porträt eines genuin schweizerischen Faschismus.

«Steinzeit» und das genannte Theaterstück sind die zwei einzigen autobiographischen Werke von Mariella Mehr. Ihr Werk gehört nicht in die Schublade «Betroffenenliteratur». Zwar blieb ihre Biographie immer der Hintergrund für ihr Schreiben, aber sie ging übers Konkrete radikal hinaus ins Wesentliche. Ihr Werk, das zur grossen Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, behandelt die Themen Gewalt, Freiheit und Liebe. Sie fragt nach der Entstehung von Gewalt, nach dem Wesen der Freiheit, nach der widersprüchlichen Beziehung zwischen Gewalt und Befreiung und nach den Möglichkeiten der Liebe. Es ist auch keineswegs so, dass in ihrem Werk zwischen Tätern und Opfern immer klar und einfach unterschieden werden kann. Da gibt es zum Beispiel einen Untersuchungsrichter, der versucht, die angeklagte Brandstifterin zu retten. Oder einen Pflegevater, der bittere Tränen weint, wenn er seine Pflegetochter «züchtigt», das heisst täglich mit dem Hosengürtel verdrischt.

Herausragend ist ihre Romantrilogie «Daskind», «Brandzauber», «Angeklagt», geschrieben 1995 bis 2002. Hinter den drei geschilderten Frauenschicksalen stecken drei sogenannt wahre Geschichten. Schreibimpuls war jeweilen, und das ist typisch für Mariella Mehr, die Unzufriedenheit mit den gängigen, in Zeitungen und Wissenschaft angebotenen Erklärungsmustern für das Verhalten der Protagonistinnen. Sie wollte es genauer, ideologiefreier, empathischer wissen: Wie entsteht kalte Wut? Wie entsteht heisser Zorn? Wie kommt eine Frau dazu, Brandstiftung zu begehen – ein Delikt, das als männlich gilt. Wieso werden Frauen zu Mörderinnen? Wie kommen sie dazu, physische und psychische Gewalt als Selbstverwirklichung zu empfinden?

Für ihre Romantrilogie hat Mariella Mehr eine Fülle verschiedener literarischer Formen und Sprachen erfunden. Der Roman «Angeklagt» ist der Monolog der Brandstifterin und Messerstecherin Kari Selb, die sich der Gerichtspsychologin präsentiert. Ihre Sprache ist trotzig-bitter, enthüllt ebenso vie,l wie sie verhüllt, und steigert sich zu einem den Satzbau sprengenden Rausch, in dem Kari die sexualisierte Gewalt, die ihr als Kind angetan wurde, noch einmal erlebt, während sie einen Frauenkörper zersticht. Ganz anders klingt die Sprache, wenn im Dorf, das kein Dorf mehr ist, über «Daskind» (so auch der Romantitel) geredet wird: unerbittlich festnagelnde Kurzformeln, die knallen wie Schüsse. Und je näher die Erzählung der Protagonistin kommt, desto geschmeidiger wird die Sprache. Die Autorin selbst hat ihre Literatur und ihre Sprachen in der Tradition des deutschen Expressionismus gesehen.  

«Elementarereignisse und grosse Kunst – die Gedichte der ‹Widerwelten› sind beides in einem», schreibt Kurt Marti im Vorwort zu einem von Mehrs Gedichtbänden und erläutert auch, was er an den Gedichten elementar nennt: «Ihre Heftigkeit, ja Dramatik evozieren in mir Bilder von nächtlichen Eruptionen eines Vulkans, der, aus seinem Innern bislang verborgene Feuergluten emporschleudernd, die Finsternis dieser Welt zerreisst und erleuchtet, unheimlich und schön, blutende Wunde und faszinierendes Wunder zugleich.»  Ja, Mariella Mehr war leidenschaftlich expressiv. Aber in ebendenselben Gedichtband «Widerwelten» schrieb sie als handschriftliche Widmung: «Da sind sie nun versammelt, meine Wider-(Sprüche)-Welten», und ein Gedicht des Bandes beginnt so:

Aufgefächert der Leib,

geöffnet jeder neuen Folter.

Das Denken aber geht seine

eigene Bahn.

Mariella Mehr in «Widerwelten»

Das Schreiben hat sie sehr wahrscheinlich vor einer kriminellen, selbstzerstörerischen und suizidären Karriere gerettet. Dem Schreiben voran aber ging das Denken. Sie wollte es wissen. Getrieben von der Angst, verrückt zu werden, entwickelte sie einen elementaren Aufklärungsfuror. Ihre Frage war: Warum werde ich gequält und bestraft, ich muss doch sehr böse sein – ich weiss aber nich,t warum. Sie notierte: «aus verwirrung am leben mit 13 zu lesen begonnen; nietzsche und karl may nachts unter der bettdecke». Und je mehr sie nachdachte und las, umso komplexer wurden ihre Gedanken und ihre Literatur.

Ihre Bibliothek im italienischen Lucignano, wo sie eine Zeitlang lebte, konnte sich sehen lassen. Sie liebte auch und gerade das Anspruchsvolle, Komplexe, zum Beispiel die Gedichte von Paul Celan oder Elisabeth Wandeler-Deck, die so ganz anders waren als ihre eigenen. Sie hatte durchaus Luxusbedürfnisse. Sie liebte schöne, ästhetisch anspruchsvolle Kunstbücher und Gesamtausgaben. Und da sie nie Geld hatte, wurde jeder, der Beziehungen zu Verlagen hatte, mit Wünschen eigedeckt.

In Italien entwickelte sie einen originellen, naturverbundenen Lebensstil. Pflegte Garten und Hof, kochte gelegentlich mit Hingabe alte, komplizierte Rezepte. Es konnte schon geschehen, dass ein Telefonat mit ihr durch schrille Schreie unterbrochen wurde und Mariella sich empörte: «Jetzt attackiert der Pfau den Hund, der angekettet ist. Das ist eine Gemeinheit!». Sie konnte charmant und anhänglich, gesprächig und witzig sein. Eine Meisterin kleiner Geschenke auch.

Und doch, und doch: Es ist kein Zufall, dass die Metapher vom Licht in ihren Gedichten eine grosse Rolle spielt. Sie blieb von der Dunkelheit bedroht, in späteren Jahren ganz konkret: Ihr Augenlicht schwand. Ihre Stabilität musste jeden Tag neu erkämpft werden, und das gelang wohl nur dank der grossen Liebe und unendlichen Geduld ihres damaligen Lebensgefährten. Grausame Abstürze gab es immer wieder: Depressionen, Aggressionen, Alkoholexzesse.

Mariella Mehrs Themen – Gewalt, weibliche Selbstbehauptung, soziale Aus- und Einschlussverfahren – sind von ungebrochener Aktualität. Der literarische Rang ihres Werkes scheint klar. Ihre konfrontative Grundhaltung allerdings passt nicht in eine Tendenz unsrer Zeit: sie ist politisch nicht korrekt. Vielleicht sollte ihr heutiger Verlag, Limmat, der eine grosse Aufgabe vor sich hat, wenn er ihr Werk präsent halten will, eine Trigger-Warnung herausgeben: Achtung, hier ist eine Autorin, die von sich sagte: «Ich tauge nicht fürs moderate Schreiben».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 11.10.2022 um 17:48 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Schneider
    Ja, Mariella Mehr war sprachgewalttätig. Aber muss man das nachahmen? Zumal wenn man mit der Thematik wohl weniger vertraut ist? Sicher, auch Mariella verwendete das Wort «Fahrende». Doch differenzierend sah und bezeichnete sie sich als Romni vom Stamme der Jenischen. 2016 war es soweit: der Bundesrat anerkannte die Jenischen und Sinti unter ihren Ethynomen. Das ist wichtig, u.a. weil 95% der Opfer von Kinder der Landstrasse einem Genozid zum Opfer vielen ohne einen Wohnwagen betreten zu haben. Sie schreiben in absoluten Buchstaben über «die Kaputtgemachten». Doch eine der Wahrheiten ist, dass es keine absoluten gibt. Auch nicht hier. Es gab und gibt Kaputtgemachte. Es gab und gibt Kämpfer:innen, wie Mariella, wie ihr Sohn, wie auch ich es für mich deklamiere. Viele(s) ist kaputt, doch selten so, wie es sich literarisch vermeintlich treffend beschreiben lässt. In Memoriam Mariella Mehr

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