Kommentar
kontertext: Zwischen Tod und Leben steht etwas Akkukapazität
Neulich im Zug habe ich mich gefragt, was sich über die Jahre am Waggon-Interieur geändert hat. Noch immer gibt es zwei Sitzreihen, nach wie vor sind die Polster farbig, und die Aschenbecher sind nicht wieder zurückgekehrt. Seit die Flotte durchklimatisiert ist, fehlen Fenstergriffe. Auf einigen Linien wurden die Klapp-Eimer unter den Abteiltischchen demontiert – die Bundesbahn geht in Deckung vor der Wegwerfgesellschaft. Wirklich neu aber sind nur die zahllosen Ladebuchsen für elektronische Geräte, integriert in Lehnen, Rück- und Seitenwände. Sie zeugen von einem grossen Hunger nach ambulantem Stromnachschub.
In einer bekannten Zen-Anekdote fragen Schüler:innen ihren Meister, warum er immer so zufrieden wirke. Der Meister antwortet: «Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich…» – «Das tun wir doch auch», erwidern seine Schützlinge. «Nein», sagt der Lehrer. «Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon. Wenn ihr steht, dann lauft ihr schon. Wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.»
Die Anekdote ist simpel, sie vereinfacht die ihr zugrundeliegende Lehre, und doch rührt sie an ein Problem, das bis heute die Vita Activa begleitet. Wessen Leben durchgeplant ist von Termin zu Termin, den mag mitunter der Verdacht beschleichen, er scheitere an der Grundaufgabe des Lebens: da zu sein, wo der Körper ist, statt imaginären Grössen nachzuhasten. Die gestrichelten Linien der Abstraktion machen aus dem Leben einen abgezirkelten Parcours durch eine immer nur projektive Wirklichkeit – ich bin da, wohin ich mich denke, und lasse meine physische Existenz hinter mir.
Vielleicht kennen Sie es auch, dieses quälende Gefühl, das Leben ziehe ungelebt an Ihnen vorbei, während Sie in Ihren hypothetischen Konstrukten sitzen? Aus einem Mangel an Gegenwart arbeitet man Aufgabe um Aufgabe ab, und so bleibt am Ende das Wichtigste ungenossen: die Zeitgenossenschaft, das Dasein an sich, unplugged, ohne Plan und Skizze, die Geistesgegenwart, nach der viele Denkschulen streben, oder die ›lange Zeit‹, von der die Dichtung im Modus der Wehmut handelt.
Auf Achse
Wie aber den Stecker ziehen? Einige meditieren, andere treiben Sport oder suchen die Gefahr; sogar das Knüpfen von Makramee-Eulen oder die Sitzung beim Therapeuten soll Linderung schaffen. Manchmal hilft auch eine paradoxe Intervention: Ich mache mit der Flüchtigkeit meines Daseins ernst und gehe auf Reisen. Wenn schon alles entschwebt in meinem Leben, werde ich halt Schmetterling, falterhaft unterwegs zwischen den Orten – nicht mehr hier, noch nicht dort. In diesem Dazwischen kann unversehens eine neue Gegenwart entstehen: Ich sitze im Zug und betrachte das Vorüberziehen der Landschaft. Wo ich herkomme, wähnt man mich am Ziel; am Ziel aber vermutet man mich noch zuhause. Für ein kurzes Intermezzo falle ich aus den Zeitgerüsten.
Doch auch dieses Dazwischen ist bedroht. Viele elektronische Features wollen, dass ich auch unterwegs der digitalen Allgegenwart des Netzes huldige. Weshalb sonst wurde solcher Aufwand getrieben, um Geräte portabel zu machen, die einst zimmergross waren? Doch nicht nur neueste Technologien arbeiten an der Erosion meiner Schienengegenwart, auch die alten Medien: Von überall her laden Gratiszeitungen mich ein, statt aus dem Abteilfenster zu sehen, globale Weltteilhabe zu üben. News und Posts zur neuen Schlankheitspille, zur Prostata des Königs und der Massenkarambolage bei Kassel wollen mich aufdatieren. Ich soll Dinge schärfer sehen als alle, die vor Ort waren. Ich soll als lebende Drohne über dem Geschehen schweben, in Permanenz verbunden mit allem Denk- und Adressierbaren.
Bisweilen ist mein Ausweg der Individualverkehr. Im Wagen bin ich von der Agenda abgeschnitten und telefonisch nicht erreichbar, ganz auf das Tun meiner vier Extremitäten und auf den Verkehr konzentriert – kein erhebender Anblick, doch immerhin gilt ihm für eine Weile meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Doch seit auch die Autoindustrie aufrüstet, ist es mit dieser Herrlichkeit vorbei: Nun will das Media Center mir meine Lieblingsmusik abspielen, es bombardiert mich mit Verkehrs- und Wetterwarnungen, lotst mich auf günstigere Wege und stellt Anrufe durch. Neuere Versionen sollen sogar meinen Gesundheitszustand analysieren können. Möglich, dass in einigen Jahren das Über-Ich des Bordcomputers meine Atemluft untersucht, die Wegfahrt verweigert, einen Arzttermin für mich bucht oder nach dem Unfall die Rettung verständigt.
Passivhören
Also doch besser der Zug? Hier wie dort ist die Botschaft klar: Mir soll die Zeit auf Achse verkürzt und eben jene lange Weile genommen werden, um die es mir beim Herumreisen geht. Zwar kann ich ungestraft das Handy zuhause lassen, doch höre ich im Zug keine Musik, höre ich die Musik der anderen, so wie ich in der Kneipe einst Passivraucher war. Ich werde in Konversationen eingeweiht, so privat, dass mich schaudert, und stelle fest: Auch wer das Netzwerk nicht aktiv bespielt, ist mit ihm verbunden. Von überallher blicken mich Steckdosen und USB-Ports an und rufen scheinbar vorwurfsvoll ein neues Zeitalter aus: «Zwischen dir und dem sozialen Tod steht nur etwas Akkukapazität. Sinkt sie auf Null, ist auch deine Existenz ausgelöscht. Dann gibt es dich nur noch unplugged – du weisst, was das bedeutet.»
Man müsste die Zen-Anekdote umschreiben. Die Frage an den Meister bliebe sich gleich: «Warum wirkst du so zufrieden, so ausgeglichen?» Auch die Antwort wäre noch dieselbe: «Weil ich aufgehe in dem, was ich tue, von Moment zu Moment.» Sogar der Einwand der Schützlinge könnte bleiben: «Das tun wir doch auch!» Nun aber hätte der Meister eine neue Antwort parat. «Nein, wenn ihr steht, checkt ihr euer Profil, wenn ihr geht, ladet ihr Fotos hoch, wenn ihr sitzt, beantwortet ihr Nachrichten, und wenn ihr esst, streamt ihr ›Content‹.» Ob dies ein altes Malaise oder ein neuer Reichtum ist, möge jede:r selbst beurteilen. Ich jedenfalls breche nun vom Schreibtisch auf, um fernab von Tablet und Telefon etwas unterwegs zu sein, zusammen nur mit mir selbst und dem, was das Abteilfensterkino spielt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wunderbare, achtsame Gedanken; herzlichen Dank, lieber Michel. Und dazu, die witzige Installation: herrlich!