Kommentar
kontertext: Die Kunst der Stillen
Die Recherche des Journalisten Moritz Weber für die Sendung «Kontext» im Radio SRF deckte vor etwas mehr als einem Jahr bemerkenswerte Zahlen auf: Etwa ein Drittel der Musiker*innen, die in Berufsorchestern spielen, nehmen vor Auftritten regelmässig Betablocker ein. Aufgrund einschränkender Nervosität vor Konzerten, der hohen Anforderungen, einer negativen Fehlerkultur und von Perfektionismus leidet ihre psychische Gesundheit. Dass die Bedingungen, unter denen Kunst manchmal zustande kommt, ein strukturelles Problem sind, zeigen die Zahlen und Berichte dieser Recherche.
Nicht ins «System» passen
Mich haben die Aussagen der Betroffenen berührt, denn sie sprechen ein Tabu an. Nicht alle, die professionell Kunst machen, können mit Druck, Wettstreit, Premieren-Talks, Vernissagen, Selbstdarstellung und Selbstvermarktung umgehen. Auch mich betrifft das Thema in gewisser Weise; Veranstaltungshinweise in eigener Sache lösen bei mir Unbehagen aus, genau wie das vielbeschworene «Netzwerken». Wettbewerb und konkurrierendes Verhalten machen mir Angst, und vor vielen oder fremden Menschen zu reden bringt mich in Bedrängnis und manchmal sogar in Not.
Was ist das für ein System, in das ich offenbar nicht passe? Der Kunstbetrieb unterscheidet sich, zumindest in einem Aspekt, von anderen Wirtschaftszweigen nicht wesentlich: Wer von der Kunst leben will, muss, neben stetiger Produktion derselben, sich der Logik der Sichtbarkeit, der Vermarktung, der Selbstdarstellung und der Konkurrenz fügen. Eine gewisse Agilität im Umgang mit Medien, Publikum und Veranstalter*innen, sprich: als Künstler*in zu performen, schadet hierbei auch nicht.
Neben chronischen Krankheiten, körperlichen und psychischen Einschränkungen, Fürsorgeverantwortung, der falschen sozialen oder kulturellen Herkunft können auch Introversion und Schüchternheit künstlerische Werdegänge verhindern. Die, welche sich trotz ihrer Schüchternheit beruflich behaupten, kennen vermutlich das Gefühl, etwas an ihnen sei grundlegend falsch. Der Versuch, das Gefühl des Nichtgenügens mit der Einnahme von Medikamenten, Alkohol oder dem ständigen Übertreten eigener Grenzen zu ändern, kostet auf lange Sicht die mentale und körperliche Gesundheit. Dabei bereichern die Stillen unsere Kunst in Bildmotiven, als Filmcharaktere oder Figuren in der Literatur. Sie legen den Fokus auf die unsicheren und verwundbaren Aspekte unseres Lebens.
Schüchternheit in der Literatur
In literarischen Werken gibt es zahlreiche introvertierte und schüchterne Gemüter, etwa die Protagonisten von Franz Kafka, Marieluise Fleisser oder die Figuren von Robert Walser. Ihre emotionale Gehemmtheit wird je nach Entstehungszeit und Kontext als eine erstrebenswerte Eigenschaft wahrgenommen und nicht als eine, die es zu korrigieren oder gar auszumerzen gilt.
In der zeitgenössischen Literatur kommen neue schüchterne Stimmen zu Wort: In Deniz Ohdes’ Roman «Streulicht» (Suhrkamp 2020) wird die Erzählerin, eine junge Frau aus einer westdeutschen Arbeiterfamilie, trotz ihrer Intelligenz kurz vor dem Abitur nicht versetzt und muss «die Schulform verlassen». Ihre Noten verschlechtern sich drastisch, als ihre Mutter den Vater von einem Tag auf den anderen verlässt und das prekäre Familiensystem auseinanderbricht. Ihr Lehrer ist derweil überzeugt, dass «Aussieben» in der Schule selbstverständlich ist. Das Abitur wird sie später mühevoll in der Abendschule nachholen, um danach ein Studium zu beginnen. Die Protagonistin versucht in einem bedrückenden Umfeld mehr schlecht als recht erwachsen zu werden und sich von ihren Freunden und ihrer Familie zu emanzipieren.
Die Spannungen in ihrer Herkunftsfamilie, der Vater ein Alkoholiker und Arbeiter, die türkischstämmige Mutter Putzfrau und Hausfrau, sind gross. «Wir werden unter Beobachtung stehen» und «Wir dürfen dann nicht mehr so laut sein», mahnt der Vater, als die Familie in Begriff ist, in eine neue Wohnung einer Arbeitersiedlung zu ziehen. Von der Erzählerin wird erwartet, dass sie den Kopf einzieht. Sie soll keine Aufmerksamkeit auf sich lenken und die Wut des Vaters und die Passivität der Mutter still absorbieren.
Bereits als Kind lernt sie, sich zu ducken unter der Abwertung und der Gewalt, die ihr in der Schule und zuhause entgegenschlägt. In einer Szene erinnert sich die Protagonistin an ihren zwölften Geburtstag. Sie bringt einen Kuchen in die Schule mit, den ihre Mutter gebacken und in Alufolie eingeschlagen hat. Eine Klassenkameradin schaltet sich ein: «Was ist das, ein Dönerspiess?, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heisse Herdplatte streift, ein siebter Sinn, der sich zu meinem sechsten Sinn für die Stille gesellte.» Der Roman legt nahe, dass die namenlose Erzählerin aufgrund ihrer Herkunft und den Zuschreibungen von aussen zu der introvertierten und schüchternen jungen Frau wurde, der alles aus den Händen zu gleiten droht.
Das Potential der Stillen
Introvertierte Anteile werden zu einem grossen Teil vererbt. Aber nicht alle Introvertierten sind auch schüchtern. Es gibt introvertierte Schauspieler und Politikerinnen, die sich gerne in einem ganz bestimmten Rahmen exponieren. Äussere Faktoren, wie sie beispielsweise in Ohdes Roman beschrieben sind, können wiederum schüchterne Persönlichkeitsanteile begünstigen. Schüchternheit ist in der Regel ein Verhalten, das erlernt wird, und auch extravertierte Menschen können in gewissen Situationen schüchtern sein. Schüchternheit hat unter anderem mit der Angst vor Bewertung zu tun, und dahinter stehen oft prägende Erfahrungen in der Kindheit oder in der Adoleszenz, die schlimmstenfalls zu sozialen Ängsten führen können.
In unseren westlichen Gesellschaften ist, im Privaten wie in der Arbeitswelt, Extravertiertheit das Ideal. Laute Menschen, die sich gerne zeigen, stellen in unserer Kultur und in unserer Gesellschaft oftmals die sogenannten «Leistungsträger». Von den «Scheuen» wird erwartet, dass sie sich diesem Extraversionsideal anpassen. Jetzt aber, wo wir ans Ende der Wachstumsideologie kommen, entsteht vielleicht dieser kleine Riss, ein Moment der Verletzlichkeit, wo eine neue Erzählung beginnt.
Viele von uns wissen nicht erst seit der Covid-19-Pandemie, welche Tätigkeiten und Eigenschaften wirklich wertvoll («systemrelevant») für unsere Gemeinschaften sind. Es braucht mehr Leute, die sich kümmern, und nicht zuletzt auch die Zeit und die Anerkennung dafür. Werte wie Reichtum, Status, Ruhm und Dominanz werden vermutlich den Fortbestand der Menschheit nicht sichern. Möglicherweise sind es gerade die Introvertierteren, die uns neue Wege aufzeigen können.
Schmerzhafte Anpassung
Menschen unterscheiden sich in ihrer Konstitution und in Körperformen, in Haar- und Hautfarbe, in Herkunft und Klasse, in Gesundheit und Beeinträchtigung, in Alter, sexueller Orientierung, kultureller Prägung, Geschlechtsidentitäten, Glauben – und in ihrem Temperament. Einige Auswirkungen dieser Unterschiede liessen sich nivellieren, nämlich jene, die Ungerechtigkeit zementieren – Mentalitäten und Ideologien also, die vor allem marginalisierte Gruppen sowie Frauen abwerten und ein Dominanz- und Überlegenheitsdenken fördern.
Wir könnten weiter die exorbitanten Unterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten, auch global gesehen, ausgleichen. Respektive: Was wir ausgleichen auf der einen, bleibt verschieden auf der anderen Seite. Denn wo unsere Gesellschaften Ungerechtigkeit oft unwidersprochen zulassen, müssen unsere Persönlichkeiten zur Steigerung von Produktivität doch einheitlich funktionieren.
Wieso sind wir bereit, uns für eine sogenannte Leistungsgesellschaft zu verbiegen, die vor allem Müll und Profit für Wenige generiert? Wir leisten schmerzhafte Anpassungen für eine Chimäre, von der wir uns abwenden könnten, wenn wir das wollten. Dabei müssten wir keineswegs auf Fortschritt verzichten, aber dieser dürfte nicht weiter auf Kosten unserer Lebensgrundlage geschehen. Konkurrenz ist bei weitem nicht der einzige Ansporn, der uns zu Höchstleistungen antreibt, und komplexe, demokratische Gesellschaften sind auch dann noch möglich, wenn wir die Wirtschaft neu ausrichten.
Oft vergessen wir unsere eigene Vulnerabilität; aber wir sind abhängig und eingebunden in grössere Systeme. Das Gleichgewicht der Atmosphäre, die wir atmen, wird hergestellt von unendlich vielen Akteuren, organischen und anorganischen, ohne die es kein menschliches Leben auf der Erde gäbe. Wir brauchen von klein auf Pflege, Liebe und Fürsorge. Vielleicht helfen uns gerade die verletzlichen, schüchternen und manchmal introvertierten Anteile in uns, um diese Fragilität und Verbundenheit besser zu begreifen.
Eva Seck, geb. 1985, ist freie Autorin und zugewandte Hörerin des Podcasts «Beziehungskosmos», der sich in einer Folge ebenfalls der Introversion widmet.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Danke für diesen wichtigen Beitrag. Stille Menschen haben oft mehr zu sagen als laute.
«Vielleicht helfen uns gerade die verletzlichen, schüchternen und manchmal introvertierten Anteile in uns, um diese Fragilität und Verbundenheit besser zu begreifen.»
Ein Mangel an Bewusstheit um diese Verbundenheit und Abhängigkeit mag eine wesentliche Ursache für viele wesentliche Krisen unserer Zivilisation sein. In der Aufregung und im Lärm des ständigen Wettbewerbs wird diese Verbundenheit selten offenbar, die eigene Verletzlichkeit scheint hinderlich. Umso wertvoller die introvertierten Anteile in uns, sofern wir sie zulassen, und die stillen Menschen – aber eben auch die Stille selbst.
Ja, ein wichtiger und mutiger Beitrag, der mich berührt.