Kommentar
kontertext: Die grosse Kumpanei
Dass Internet-Firmen auf du und du mit mir und meinem Geldbeutel sind, habe ich akzeptiert. Dass Studierende den Dozenten mit «Hallöchen!» ansprechen: geschenkt. Sie betrachten es als ihre Pflicht, bei der Lehrperson Schwellenängste abzubauen, denn sie wirkt etwas verkrampft. Auch das Du als Verkehrsform der Internet-Piraten, die Rechte an einer Goldmine in Sierra Leone ausloben, ist ein Basso continuo auf meinem Account. Ihre Zuschriften beginnen förmlich und nehmen an Privatheit gegen Ende zu. Ich soll zum Cousin ihrer kleinen Raubzüge werden. Und die Online-Drogerie hat sich offenbar mein Geburtsdatum gemerkt. Man sagt: «Gönn dir was Schönes!» und gratuliert mit einem Gutschein für Prostatapräparate; offenbar ein altersgerechtes Angebot.
Dies alles ist leicht auf Distanz zu halten, solange es die Delete-Taste gibt. Ohnehin hängt meine Lordschaft nicht sonderlich an Honorativen. Nun aber, da selbst das Kulturradio sich anschickt, in die Gilde der Duzer überzutreten, stellen sich Fragen. Ein veritables Reformgewitter, ‹Transformation› genannt, erschüttert seit Jahren den Sender. Bewährte Journalist:innen sollen lernen, wie man am Mikro Nähe schafft, wie man barrierefrei gendert, wie man mit kleinen Ausrufen der Freude, des Erstaunens oder des Unmuts die digitalen Ureinwohner erreicht. Mit viel O-Ton und Hörerstimmen soll ‹Radio zum Anfassen› entstehen. Denn Information an sich ist nichts, sei sie noch so gut recherchiert. Nicht nur bei der grossen Schlagernacht geht es um Emotionen, auch bei Nanotechnologie. Hier sogar ganz besonders, bei sowas Sprödem.
Interna aus den Testikeln der Sendeanstalt erreichen mich. Da soll sich eine PR-Agentur um die ältere Belegschaft kümmern. Weil diese noch immer den gebildeten Intellekt ansprechen will, wird ihr wieder und wieder erklärt, dass der Mensch ein emotionales Wesen ist. Wer es erreichen wolle, müsse eine Plattform der inneren Beteiligung schaffen. Gelinge das nicht, werde man bald ins Leere senden.
Die Drohung wirkt.
Ich frage mich, ob vielleicht ich jene Leere bin, in die das Kulturradio jahrzehntelang gesendet hat. Trotzdem, was soll verkehrt sein an dem Versuch, Menschen zu erreichen und Begeisterung zu wecken gerade da, wo die Themen etwas spröder sind?
Für den informationsbezogenen Hörer heisst das: Er wird jetzt frischfröhlich angeduzt. Statt ihn zu informieren, wird ein kleines Live-Hörspiel zum Thema Meeresbiologie aufgeführt. Dass ich keine Gefühlsansprache brauche, um wissen zu wollen, was den Mantel- vom Zitterrochen unterscheidet, spielt keine Rolle. Dass das Format an mir vorbei umgestaltet worden ist, tut keinem ausser mir weh. Keinem? Ist da vielleicht nicht doch intelligibles Leben draussen am Empfänger? Die Frage verhallt. Stattdessen höre ich mir Fake-Dialoge über das Higgs-Teilchen an, in denen zur Sprache kommt, dass Edinburgh, der Ort von Mr. Higgs’ Wirken, einst ein ‹Hotspot der Teilchenphysik› gewesen sei. Das Rezept lautet: Einer spiele den Laien und stelle die dümmstmöglichen Fragen; die andere antworte möglichst simpel. Das Ganze würze man mit Trivia. Alle paar Sätze streue man einen Modebegriff ein. Und das Publikum spreche man in einem volkstümlichen Plural direkt an: «Wenn ihr euch jetzt fragt, was das bedeutet: Bingo! Das ist noch immer offen. Bis heute saust das Higgs-Boson grundlos zwischen euch und eurem Hund herum. Besser gesagt: Der Grund ist noch nicht gefunden.»
So ähnlich hört sich das neue Sciencegekasper an – Sternstunden des unfreiwilligen Humors. Die Redakteurin, die daran teilnehmen muss, ist mir bekannt. Jahrelang hat sie sich erfolgreich bemüht, komplexe Zusammenhänge prägnant darzustellen. Nun ist sie gezwungen, mit aufgesetzten Gesprächspassagen etwas aufzupeppen, das keiner solchen Aufpeppung bedarf: eine Auswahl der neusten Forschungsergebnisse, mit ein Grund, weshalb ich dieser Sendung treu geblieben bin. Inzwischen heisst sie nicht mehr Wissenschaftsmagazin, sondern Forschung kompakt, Wissen kompakt oder so ähnlich.
Hauptsache kompakt.
Das Format geht mir auf den Geist, aber das Schicksal der Newsfrau beschäftigt mich. Nach Jahren gründlicher Arbeit wird sie zum Nummerngirl degradiert. Von Info-Häppchen zu Info-Häppchen muss sie die Ahnungslose mimen – sie muss in eine Rolle schlüpfen, wenn sie ihren Job behalten will. Viele ihrer einstigen Kolleg:innen haben es vorgezogen zu kündigen.
Von diesem Aderlass gibt sich die Ressortleiterin unbeeindruckt: Es sei halt anspruchsvoll, bewährte Formate näher an die Menschen heranzuführen, sagt sie im Gespräch mit einem hauseigenen Jugendsender. Wer nicht bereit sei, die Sprache der Hörenden zu sprechen, habe in diesem Medium keine Zukunft.
Also will die Sendeanstalt sich mir öffnen. Zuerst möchte sie erfahren, wo ich stehe und welche Bedürfnisse ich habe. Sie versucht mich anzusprechen und einzubeziehen: Sie schaltet Spots. Auf der Website poppen immer wieder Dialogfelder auf, doch die Fragen sind so plakativ gestellt, dass ich reflexartig den Browser schliesse.
Das Radio will näher an mich heran, aber will auch ich es näher an mir haben? Wenn ich Nähe suche, gehe ich in die Kneipe. Da bin ich einer jener vielen, die zu allem eine Meinung haben, egal, wie wenig sie davon verstehen. Hier brauchen wir kein Wissen, um uns ein Bild zu machen. Es genügt, dass wir uns enervieren. Und so enervieren wir uns lautstark und finden andere, die sich enervieren wie wir, nur nicht lautstark, sondern tief in ihrem finsteren Innern. Und so wachsen wir zur Gruppe der Enervierten heran, die spätestens zur Polizeistunde wieder aufgelöst wird.
Am Stammtisch muss niemand sich qualifizieren, um seine Meinung kundzutun. Auch ich rede in der Sprache der einfachsten Übereinkunft. Es herrscht das Prinzip Nähe, ich bin Sender und Empfänger zugleich. Befeuert von etwas Alkohol, entsteht ein lebensfrohes Durcheinander von profunder Unwissenheit: Klar, Einstein war ein cleverer Kerl, spielte Geige und landete als Pazifist in Amerika. Klar, Nanotechnologie hat etwas mit Kleinheit zu tun, so wie dieses Neutronen-Dings.
Aus der Kneipe kann man fliehen; das Radio kann man abschalten. Aber ich zahle keine Gebühren dafür, dass es Kneipen gibt. Dort stört mich zwar oft die Lautstärke – dass das Meinen die fehlende Kenntnis übertönt. Aber weil es Kneipen und Kneipen gibt, kann ich mir eine leisere suchen. Radiostationen gibt es auch viele, doch der Kultursender war lange vom Anspruch umweht, im heimischen Äther das Nonplusultra in seinen Ressorts zu sein – nicht ganz zu Unrecht. Darum war ich sein Hörer: Ich wollte Information, Kontext, Zusammenhang. In diesem Wunsch war ich wenig empfindlich: Hatte die Redaktion mir etwas voraus, war das keine Majestätsbeleidigung. Im Gegenteil, eher erwartete ich, dass eine Wissenschaftsjournalistin mehr von der Materie verstand. Dann fühlte ich mich beschenkt, nicht belehrt.
Von Higgs über Senegals Wasserkrise bis zum empfindlichen Ökosystem der Mangroven: Noch ein paar Minuten halte ich durch, um den Beitrag über das Schicksal der Seekühe in Florida abzuwarten. Ich höre, wie Anwohner sie mit Salat füttern, um sie vor einem Sterben zu bewahren, das die Lebensweise des Menschen herbeigeführt hat. Und dann ist das Magazin zu Ende. Um auf die Schwäche meines Kurzzeitgedächtnisses Rücksicht zu nehmen, werden noch einmal die ‹Take-aways› abgespult, unterlegt mit einer schmissigen Salsa-Textur. Und bevor die Musikredaktion übernimmt, heisst es noch: «Hey, wenn du an unserem Sommerquiz teilnimmst, kannst du ein brandneues DAB-Radio gewinnen. Das bringt dir Wissen kompakt glasklar in die Stube. Die Frage lautet: Wer hat das Higgs-Teilchen erfunden?»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für diesen treffenden Kontertext. Sie beschreiben sehr schön und genau die stetig ausgreifende «Convenience» – UnKultur der Sendungen von SRF 2. Ich habe dort das Aufpeppen und Kürzen guter Wortsendungen auch schon beklagt: Reaktion null, trotz der expliziten Aufforderung «Schreiben Sie uns!» Und dass die kompetenten Redakteure und Redakteurinnen da mitmachen (müssen?) ist einfach traurig. Wahrscheinlich braucht es hundert und tausend Menschen, die den Konzeptern und Chefinnen schreiben, dass sie nicht für dumm verkauft und auf durchschaubare Weise «gescheit» unterhalten werden wollen.
Sie sind nicht allein. Ich schalte schon reflexartig ab, wenn die Wissenschaftssendung kommt, obwohl mich die Themen interessieren. Ich halte mich ersatzweise an die Podcasts von SWR-2-Wissen, die noch nicht so schlimm sind.
Der Hintergrund des neuen Tonfalls ist eine Empfehlung der US-Consulting-Firma McCampbell, derzufolge die (bereits beschlossene) Stillegung des Kultursenders am besten mit dem Hörerschwund begründet werde. Dazu müssten die Hörer erst vertrieben werden, und bei einem Kultursender klappe das am besten mit der Infantilisierung des Publikums.
Hm. Hr. Mettler hat generell recht. Aber ab dem zweiten Teil schimpft er eloquent, was auch nervig ist. Tatsächlich fühle auch ich mich nicht mehr bei Radio SRF Kultur «zu Hause». Auch ich bemerke den schleichenden Verlust der Evidenz, zumal bemerkbar durch Sendezeit-Kürzungen (Kontext) oder der Zunahme von nordischem Hochdeutsch sprechenden Moderatoren/Redaktoren. Dies, wohl ebenfalls aus Spargründen, weil qualifiziertes Personal (und Hörspiele) aus dem hohen Norden eben billiger zu haben ist??? Der schweizerische «Stallgeruch» geht so verloren. Das Nordlicht färbt ab: Zumal auch Hr. Mettler von «Kneipe» statt von Beiz und von Redakteurin statt Redaktorin schreibt. Nicht zu schweigen vom oft auf SRF Kultur gehörten «Heruuseforderig»…Das hier ist keine «Altersfrage», sondern eine Frage des Gesellschafts-Bewusstseins.
Wenn es heute zur Kultur geworden ist respektlos mit seinen Mitmenschen um zu gehen hab ich wohl was verpasst. Mir egal! Ich bin wie ich bin, spreche fremde nach wie vor in der Sie-Form an und gedenke nicht mich an den vorübergehenden Mode-Umgangsformen der heutigen «Kultur?» zu beteiligen. Oder soll ich wie zu meiner Jugendzeit rufen: «Hey Alter?»
Wenn ein Sender meint mich für zu dumm zu halten seiner wissenschaftlichen Sendung folgen zu können, bitte. Ich muss mir das ja nocht gefallen lassen und dort weiterhin hören…
Mir scheint, da hat sich jemand mit guten Kontakten eine Daseinsberechtigung geschaffen, scheint auch immer öfters in Mode zu kommen….
Besten Dank. Wir werden offenbar alt. Fakten werden unbedeutend, Perzeptionen aber umso mehr.
Wann schlägt das Pendel zurück ?
Michel Mettler spricht mir in seinem Beitrag von A-Z aus dem Herzen.
Früher konnte man sich bei Radio DRS 2 Wissen auf Universitätsstufe aneignen.
Oder einen Tag bei Gartenarbeit mit Einstein verbringen.
Oder eine informative 1-2-stündige Sendung über «das Hochstapeln» etc. geniessen.
Ich vermute, dass es mit der neuen Beitragsform nicht unbedingt um die Nähe zum Volk geht, sondern ums Sparen. Diese neuen Sendungen – vor allem mit dem Einbezug des Gratis-Publikums – sind wesentlich billiger, als ein gut recherchierter Beitrag.
Es fällt mir des Öftern auf, dass vielen jungen Leuten die Ernsthaftigkeit der älternen Generationen fehlt. Der «SMILE» ist wichtiger geworden als die Qualität des Beitrags.
Zudem müssen die mal neu geschaffenen Ploderi-Moderatorinnen finanziert werden. Der legendäre HPG hat mir mal gesagt: Wenn die SRG sparen müsste, dann sollten wie früher die RedaktorInnen die Beiträge präsentieren und die Moderatoren könnten eingespart werden!
Absolut einverstanden mit Michel Mettler. Ich erinnere mich mittlerweile fast bei jeder Sendung von Radio SRF 2. Ganz offensichtlich haben Leute, die keine Ahnung von seriösem Radio haben, nun das Sagen über jene, die es bisher alles in allem doch gut gemacht haben. Noch höre ich diesen Sender, aber jedes Mal denke ich ans Abwandern…
Zum Glück gibt es mittlerweile ernstzunehmende Produkte wie die «Republik», die ich mir bei Anfällen von Lesefaulheit wunderbar vorlesen lassen kann, neuerdings sogar von professionellen Stimmen!