Kommentar

kontertext: Die Brandkatastrophe fasziniert

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Die Baustelle der Notre-Dame in Paris zieht Touristen an. Vielleicht ist sie ein Symbol für die Katastrophen unserer Zeit.

Parvis heisst der Platz vor der Westfassade der Notre-Dame in Paris. Er ist tagtäglich mit Touristen gut gefüllt. Die Stadt hat darauf eine steil ansteigende Tribüne aus Holz gebaut. Wie in einem Stadion sitzen da Touristinnen und unterhalten sich in allen Sprachen der Welt oder sie schweigen still in sich versunken. Was machen die Menschen hier? Es gibt eigentlich nichts zu sehen. Die Türme der Notre-Dame sind so fern, dass sie auf Postkartengrösse schrumpfen, und geht man näher, so steht man vor einem hohen Bauzaun. Die gigantische Baustelle selbst sieht man besser von den drei anderen Seiten.

Es sei wegen der Atmosphäre, sagt mir eine Touristin aus Ostdeutschland. In Bezug auf die Notre-Dame braucht sie sogar das Wort «heilig», betont aber gleichzeitig, sie sei nicht religiös und gehe nie in die Kirche. Ich erzähle ihr, dass es in der Cité de l’Histoire, ganz im Westen der Stadt, und neuerdings auch direkt unter unseren Füssen, im Boden unter dem Parvis, das Spektakel «Eternelle Notre-Dame» gebe: Da kann man sich in einen Avatar verwandeln und in eine virtuelle Realität eintreten. Da spaziert man durch die Notre-Dame und durch die Jahrhunderte. Da schlendert man über eine Baustelle irgendwann im 13. oder 14. Jahrhundert und beobachtet die Arbeiter bei ihrer Arbeit. Das Ganze unter der kundigen Führung eines katholischen Geistlichen. Die Frau zeigt sich beeindruckt von der Technik, bleibt aber skeptisch bezüglich der Führungsperson.

Der Gottesschrecken

Der Eindruck, es herrsche vor der Notre-Dame eine besondere Atmosphäre, und das Stichwort «heilig» liessen mich zu einem religionswissenschaftlichen Klassiker greifen. Der evangelische Theologe Rudolf Otto schreibt in seiner 1917 erschienen Studie,  «das Heilige» (so auch der Titel seines Werkes) sei nicht zu erklären, sondern nur zu erfahren, zu erleben, und das gehe oft leichter in Gemeinsamkeit mit anderen zusammen – wegen der bekanntlich auch von Freud beobachteten Gefühlsansteckung. Er beschreibt auch verschiedene Formen der Ergriffenheit: Das demütige Verstummen, aber auch den «Gottesschrecken», die Begegnung mit dem «Mysterium tremendum», dem Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöse. Die Konfrontation mit Jahves Zorn, mit einer unerklärbaren, jeder Rechenschaftspflicht enthobenen Übergewalt, die sich in Unglück, Katstrophen, Brutalitäten und Ungeheuerlichkeiten aller Art äussern kann, übt eine eigene Faszination aus. Und hier in Paris vor der Kathedrale ist es, als sei die Jungfrau Maria durch das brutale Feuer-Martyrium des Laurentius gegangen.

Nicht nur für Gläubige

Als ich das nächste Mal auf dem Parvis de Notre-Dame bin, mischt sich ein Gaukler unter die Menge. Er zieht sich eine Gummimaske über den Kopf, die sein Gesicht grässlich entstellt, krümmt seinen Oberkörper zum Buckel und hinkt erbärmlich. Zumindest die französischen Touristen verstehen sofort und posieren mit ihm zum Selfie vor der Kathedrale. Er spielt Quasimodo, den Glöckner von Notre-Dame aus Victor Hugos oft verfilmtem Roman «Notre-Dame de Paris». Victor Hugo hat mit diesem Roman Notre-Dame uminterpretiert vom kirchlichen zum republikanischen Symbol. Das wirkt sich bis heute aus: Ich erinnere mich gut wie ich selbst und viele meiner Bekannten, auch Laizisten, Antiklerikale und Atheisten, geheult oder zumindest eine Träne verdrückt haben, als sie in jener Aprilnacht des Jahres 2019 im Fernsehen die Notre-Dame de Paris brennen sahen.

Victor Hugo erzählt in der Vorrede zu seinem Roman, wie er in der Kathedrale an versteckter Stelle eine Wandkritzelei entdeckt: «Ananke» steht da in griechischen Lettern. Und er schliesst seine Vorbemerkung mit dem Satz: «C’est sur ce mot qu’on a fait ce livre» («Aus diesem Wort aber ist dieses Buch entstanden», übersetzt Else von Schorn). Ananke ist in den Tragödien der Griechen das unpersönliche Schicksal, die oberste, blinde Macht, der selbst die Götter gehorchen müssen. Sie hat Quasimodos Seele in seinen missgestalteten Körper gezwungen, sie herrscht über Liebe, Mord und Totschlag im Roman, und gegen sie muss Freiheit sich behaupten. Ananke ist nichts anderes als die säkularisierte Form des Mysterium tremendum.

Zeitgemässe Heiligkeit

Auf dem Bauzaun hat die staatliche Stelle zur Renovation der Notre-Dame in Zusammenarbeit mit National Geographic eine lange Serie von Fotos und Texten des belgisch-amerikanischen Fotografen Tomas van Houtryve ausgestellt. Hier wird die Baustelle in eine Aura getaucht, die man als zeitgemäss inklusiv bezeichnen könnte. Das spezifische Vokabular einer bestimmten Religion wird vermieden, Gläubige möglichst aller Religionen sollen angesprochen werden. Auch Ungläubige oder Nicht-Religiöse sollen über die Sakralisierung von Begriffen wie «Geist», «Leistung» und «Ambition» oder via vieldeutige Metaphern emotional gepackt werden.

Wiedergeburt

Der Fotograf bekennt, dass die Konfrontation mit der verwundeten Notre-Dame bei ihm starke Emotionen ausgelöst habe, die er über seine Fotos und Texte weitergeben wolle. Von einer Renaissance, einer Wiedergeburt der Kirche ist mehrmals die Rede. Eine Tendenz zur Personalisierung ist unverkennbar. Eine wichtige Rolle spielen dabei die populären Chimären, die Groteskfiguren, die der Architekt Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert bei seinen Renovations- und Ergänzungsarbeiten in die Kirche setzte. Sie verkörpern die Notre-Dame, drücken gleichzeitig auch die Furcht vor dem Mysterium tremendum aus. Eines der Fotos auf dem Bauzaun zeigt, wie die Monster, im Kreise sitzend, umgeben von verkohltem Holz und geschmolzenem Blei, traurig in die Tiefe auf die Trümmer der Kathedrale blicken. 

Die Gerüstbauer von heute erinnern den Fotografen, so bekennt er, an die Maurer der gotischen Kathedrale von einst. Über acht Jahrhunderte hinweg sieht er Arbeiter und Architekten, Handwerker und Planer, Experten und Handlanger, Pilger und «amoureux du patrimoine» in einem beruhigenden, schützenden historischen Kontinuum vereinigt – zielgerichtet auf das «objectif fixé par le président de la République», nämlich die Wiedereröffnung der Kathedrale am 8. Dezember 2024.

Auf alt gemacht

Für eine Reihe grossformatiger, schwarz-weisser Porträtfotos von Personen, die am Wiederaufbau beteiligt sind, griff der Fotograf van Houtryve auf ein altes, kompliziertes und delikates Fotoverfahren zurück, das sogenannte «nasse Kollodiumverfahren», weil Nadar, ein zu seiner Zeit sehr berühmter Fotograf, mit diesem Verfahren 1878 ein Porträt von Viollet-le-Duc gemacht hatte. «Les échos du passé» nennt van Houtryve diese Arbeiten, die «la longue lignée des bâtisseurs de Notre-Dame de Paris», die erwähnte historische Kontinuität, auch ästhetisch erfahrbar machen sollen: «Ces photographies, qui représentent ces femmes, ces hommes et les chimères emblématiques de la cathédrale, font le lien entre passé et présent, entre ceux qui construisent et ce qui est reconstruit.»

Ein bemerkenswertes Phänomen besteht nun darin, dass der Rückgriff auf die historische Fototechnik die Fotos selbst enthistorisiert. Die Porträtierten sind sorgfältig, ebenfalls nach zeitgemässen Kriterien der Inklusion und der Pluralität ausgewählt. Da erscheinen nebeneinander zum Beispiel Fayçal Ait-Said, Kranführer, und Amelie Strack, Restauratorin. Und sie erscheinen herausgehoben aus ihrer Arbeitsrealität. Weit und breit ist da weder Kran noch restaurationsbedürftige Figur zu sehen. Aus dem schwarzen Nichts treten die Köpfe hervor, ins schwarze Nichts blicken sie. Da sie auf eine glänzende Oberfläche aufgezogen sind, spiegelt sich die Umgebung vielfach um ihre Köpfe herum. Sie wirken wie visionäre Erscheinungen aus einer anderen Welt. 

Der nichtgenannte Anwesende

Das Wort Gott kommt in den Texten am Bauzaun nicht vor. Aber die Anspielungen auf ihn, das Heilige oder Numinose sind zahlreich. «Miraculeusement» wurden alle Statuen im Fundament des Vierungsturmes wenige Tage vor dem Feuer zu Restaurationszwecken aus der Kirche entfernt. «Sacrés et sublimes» sind die Gewölbe und die farbigen Scheiben der Kapelle «Notre-Dame-des-Sept-Douleurs», weil sie die Katastrophe fast ganz unversehrt überlebt haben. Und als der Fotograf von oben durch das Loch blickt, das der Absturz des Vierungsturmes in die Kirchendecke gerissen hat, sieht er die Trümmmer am Boden in ein sanftes Licht getaucht, das vom Altar her in den Raum dringt. Des Nachts aber, wenn die Arbeiter die Baustelle verlassen haben, ist die Kathedrale «fantomatique»: gespenstisch, geisterhaft. Der Wind fährt heulend durch die kaputte Decke und bewegt die knatternden Sicherheitsnetze aus Plastik. Selbst im Dunkeln erscheint noch «la beauté de la cathédrale».

Etwas fehlt

Die ganze Inszenierung auf dem Bauzaun erwähnt mit keinem Wort die Brandursache, die wohl auch noch immer nicht wirklich geklärt ist. Ob gerade diese Unklarheit zum Faszinosum des Notre-Dame-Brandes beiträgt? Steht das blinde, rational nicht aufgeklärte Brandopfer in Paris für die vielen uns unbegreiflichen Katastrophen der Gegenwart?

PS: Momentan ist der Parvis mit Zelten zur Promotion für französisches Brot zugestellt und die Ausstellung am Bauzaun ist unzugänglich.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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Eine Meinung zu

  • am 18.05.2024 um 12:24 Uhr
    Permalink

    Wow! Wunderbar formulierte Assoziationen auf gebildetem Hintergrund und ein Schluss, der auch mit dem Gedicht «Die Vergänglichkeit» von Johann Peter Hebel vergleichbar ist. Die Tränen der Betrachter der Brandruinen sind aber auch Tränen des Bewusstwerdens, dass der Wiederaufbau ein letztes Aufbäumen der christlich-abendländischen Kultur ist, bevor sie in Vergessenheit gerät. So wie die anderen Kulturen mit den Pyramiden in Gizeh, der Akropolis usw. bleiben nur Steinhaufen – oder verschmutzte Weltmeere, Wetterkatastrophen, vergiftete Atmosphäre usw. «Glück» hat, wer schon alt ist. Aber unsere Kinder und Kindeskinder…

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