Kommentar

kontertext: Der Zaungast und die Freiheit des Blicks (1)

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Das Streaming-Zeitalter regelt Zugangs- und Verbreitungsrechte rigid. Umso rarer ist der freie Blick. Der Zaungast verkörpert ihn.

Die Grossanlässe jagen sich, Taylor Swift mobilisiert die Massen, neulich soll die Münchner Innenstadt von Schlagerfans derart geflutet worden sein, dass sich kaum noch ein Stehtisch finden liess. An der Olympiade in Paris füllen auch Randsportarten die Arenen, Supportergruppen bereisen kreuz und quer den Kontinent – wer sie mit Landesfarben dekoriert in die Stadien strömen sieht, ist versucht, von einer Orchestrierung der Massen zu sprechen. Das Ticketing und die Abriegelung der Stadien ist hochtechnisiert, und über Senderechte wird so hart verhandelt wie einst über den Verlauf von Landesgrenzen.

Dagegen bin ich neulich beim Gang durchs sommerliche Quartier einer Gruppe von Schulbuben begegnet. Sie waren auf einen Zaun geklettert, um einer Darbietung beizuwohnen, von der ich als Passant wenig mitbekam: Pfiffe, dazwischen Anfeuerungsrufe und ab und zu das Prallen von Stollenschuhen auf einen Ball. Geblieben ist mir das Bild der gereckten Bubenhälse und die nackten Füsse, die sie zwischen Zaunlatten zwängten, um in der erhöhten Position Stand zu finden. Entscheidend schien mir, dass sie den Zaun nicht überklettert hatten – sie respektierten ihn als Absperrung, doch nutzten sie ihn, um bessere Sicht auf dasjenige zu erlangen, was er umgrenzte.

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Das Wort Zaungast scheint aus der Zeit gefallen zu sein, als beschriebe es einen ausgestorbenen Vogel, einen Nischenbewohner, der zwischen den Revieren der Grossen von Brosamen lebt. Zwar missachtet er bestehende Regelungen, doch ist seine List nicht die eines Parasiten. Er pickt nicht in fremden Gefiedern. Weder lebt er von Abfällen, noch entwendet oder zweckentfremdet er etwas. Und so erregt er keinen Abscheu – er ist nur stiller Mitesser an einem Tisch, wo es, mehr zufällig als gewollt, kein Gedeck für ihn gibt. Während Trittbrettfahrerinnen eher Widerwillen erregen, weil sie sich gezielt eine Leistung erschleichen, sucht der Zaungast nur gute Beobachtungsverhältnisse, womöglich ohne daran zu denken, dass andere für dasjenige bezahlt haben, was er frank und frei geniesst.

Auch Gaffer wirken neben ihm unangenehm, da ihre Triebfeder die Sensationsgier ist. Der Zaungast möchte nur mitschauen. Doch seine Schaulust ist nicht triebgesteuert wie jene des Voyeurs: Er ist am Geschehen interessiert und betrachtet dieses aus wenig privilegierter Position. Er agiert spontan, eine flagrante Leichtigkeit gehört zu seinem Erscheinen. Sie lässt ihn schemenhaft auftauchen und wieder von der Bildfläche verschwinden, nicht zu fassen für die Ordnungskräfte. Aus entfernter Warte nimmt er an der Darbietung teil, ohne jemandes Platz einzunehmen oder die Sicht zu versperren. In der Regel wird er toleriert, aus dem Instinkt für ein ungeschriebenes Recht heraus, das man ‹Betrachtungsfreiheit› nennen könnte. Nach seinem Geschmack dürfte die sichtbare Welt, soweit sie öffentlich ist, als Allmende gelten, vielleicht eine der letzten in der heutigen Zeit.

Auch der Zaungast an der Stadionumrandung, wie alte Fotografien ihn zeigen, überwindet die Grenze nicht. Er ist lediglich ein Stück hochgeklettert. Die Mühe, mit der er seine Position hält, scheint die Mehrheit derer zu entschädigen, die für ihren gedeckten Platz bezahlt haben. Dass aber der Zaungast frei sieht und das Privileg des visuellen Mundraubs geniesst, dafür gibt es keine Kompensation. Sein Tun mag mit milden Mahnworten quittiert werden, aber das ist es schon. Nein, man hat ihn nicht eingeladen, und doch nennt man ihn weiterhin Gast. Mehr als den Verschleiss der Anlagen fürchtet man wohl, er selbst könnte bei der Kraxelei zu Schaden kommen.

Ein Einbrecher ist er nicht, er benützt keine Drahtschere, nur die Athletik seines Körpers. Er wird den Zaun unversehrt lassen – einzig sein Blick verletzt die Grenze. Also ist sein Vergehen ein immaterielles: Er betrachtet ohne Lizenz, hat sich auf eigene Faust einen Eindruck verschafft. Was aber könnte verzeihlicher, ja anmutiger sein als das Entwenden von Anblicken? In dieser Räuberrolle sähe ich so liebenswerte Figuren wie Robert Walser, Simplicissimus, Parzival – oder die ‹Hexe›, die als hagazussa wortgeschichtlich eine Zaunbewohnerin ist, vertraut mit den Dämonen, die ausserhalb der umhegten Gemeinschaft ihre Kreise ziehen.

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Doch unsere Zeit, in der selbst Plätze an der Bar oder der Toilettengang online gebucht werden sollen, kennt den Zaungast fast nur noch vom Hörensagen – zu scharf sind die Demarkationen gezogen, und oft ist an die Stelle der Abschrankung die Paywall getreten. Allenfalls die Hackerin, der Schwarzfahrer oder diejenigen, die fernsehen, ohne Konzession zu zahlen, sind an seine Stelle getreten. Heutige Zäune – als rechneten ihre Errichter bereits mit der Übertretung – sind wehrhaft und mehr und mehr mit bewegungssensiblen Warnleuchten gesichert. Offenbar glaubt man nicht mehr daran, dass die blosse Erinnerung an die Grenze genügt, um potentielle Eindringlinge zur Räson zu bringen. So markiert der Zaun nicht bloss einen Übergang, er sichert ihn und setzt ihn durch. Immer lauter fordern nationalkonservative Kräfte, dass auch aus den grünen Grenzen Gelände werden, die an die Sperrzonen um Gefängnisse oder AKWs erinnern.

Umso mehr hat mich der Anblick der kraxelnden Knaben gefreut – es dürften auch Mädchen sein! Gern sähe ich sie für ihre arglose Neugier belohnt mit einem noch etwas weniger wehrhaften, noch etwas symbolischeren Zaun.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Beat Sterchi und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

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