Kommentar
kontertext: Das Schweizer Alphabet
In Russland sagt man, dass Tourismus nicht mit Auswanderung zu verwechseln ist. Tatsächlich ist es eine ganz andere Sache, ob man für ein paar Tage oder Wochen in ein Land kommt und hauptsächlich seine Fassade sieht oder ob man dort zu leben beginnt und auf Alltagsgewohnheiten, Bürokratie und nationale Besonderheiten trifft, die einem Menschen von aussen fremd und unverständlich erscheinen. Was hat uns also in der Schweiz am meisten überrascht?
Gemüse
Die hohen Lebenshaltungskosten in der Schweiz sind sprichwörtlich. Aber ebenso wahr ist: Die Kosten für Gemüse und Obst in der Schweiz sind mit den Preisen im benachbarten Deutschland und Frankreich vergleichbar und die Qualität ist oft besser. Generell ist es in der Schweiz einfach und bequem, Vegetarier zu sein. Darüber hinaus können Sie sich wöchentlich einen Gemüsekorb vom nächsten Bauern direkt nach Hause liefern lassen oder frisches Gemüse aus der Gegend auf Marktständen ganz in der Nähe der Wohnung kaufen.
Generell haben wir festgestellt, dass die Liebe zur Natur ein wichtiger Teil der Schweizer Identität ist. Sogar unsere Freunde aus der Stadt sind nicht abgeneigt, mit ihren Kindern in der Erde zu graben – dafür legen sie mitten in der Stadt kleine Gärten an, um gemeinsam mit ihren Nachbarn frische Kräuter anzubauen.
Humor
Egal wie sehr wir versuchen, den Schweizer Humor zu verstehen und irgendwie zu beschreiben, es kommt nichts dabei heraus. Eines ist klar – der Schweizer Humor unterscheidet sich sehr vom russischen. Im Theater lachen wir nie über das, worüber andere Leute im Publikum lachen, und wir dachten, das liege an mangelndem Sprachverständnis, der Schweizer Humor sei eben sehr intellektuell und auf Wortspiele versessen. Aber im Zirkus, wo es praktisch keinen Text gab, wurden wir einmal mehr davon überzeugt, dass wir uns über ganz andere Dinge amüsieren als das lokale Publikum.
Es scheint, dass der Schweizer Humor ziemlich hart, brutal und physiologisch ist, aber im Grossen und Ganzen bleibt er für uns unverständlich und undurchsichtig.
Identität
Eine der wichtigsten Fragen, die sich stellt, wenn man in der Schweiz lebt, lautet: Was bedeutet es, Schweizer zu sein (ausser, einen Schweizer Pass zu haben)? Es scheint uns, dass die verschiedenen Kantone der Schweiz wirklich sehr unterschiedlich sind, und das betrifft nicht nur Sprache und Religion, sondern auch z.B. Architektur, Stadtplanung, Lebenseinstellungen, Feiertage, Essen usw.
Wir haben dies im kulturellen Leben der deutschsprachigen und der frankophonen Teile des Landes bemerkt: Deutsche Theater-Tanz- oder Musikproduktionen kommen nach Basel und Zürich, und wenn wir unseren Lieblingsmusikern aus Frankreich zuhören möchten, müssen wir nach Fribourg oder Lausanne fahren. Wir waren auch überrascht zu erfahren, dass viele unserer deutschsprachigen Freunde häufiger Italien besuchen als die frankophonen Kantone ihres eigenen Landes.
Parks
Was uns bei unseren ersten langen Spaziergängen durch Basel am meisten überraschte, war die Schweizer Vorstellung von Parks. In Russland ist ein Park ein Platz mit vielen Bäumen und Menschen, die zwischen ihnen spazieren gehen. Tatsächlich besteht der Hauptzweck eines russischen Parks darin, im Grünen spazieren zu gehen oder zu sitzen. Im Gegensatz dazu gibt es in einem Schweizer Park fast keine Bäume, aber sein obligatorischer Bestandteil ist ein grosser Platz in der Mitte, wo man sich mit Familie, Freunden oder Bekannten treffen und verschiedene Aktivitäten ausüben kann, z.B. Feste feiern oder Jahrmärkte besuchen. Ausserdem gibt es eine grosse Anzahl Stühle und Tische (und irgendwo sogar einen Grill), an denen man ein Festmahl, eine Party oder ein Mittagessen abhalten kann. Mit der Zeit fanden wir in der Schweiz, insbesondere im frankophonen Teil, natürlich Parks im französischen Stil, die den russischen viel ähnlicher sind, aber die erste Verwunderung hat uns bis heute nicht verlassen.
Prostitution
Am meisten schockierte uns die legale Prostitution. Vielleicht ist dies eine Besonderheit von Basel als Grenzstadt, aber allein die Tatsache, dass das städtische Steueraufkommen auf diese Weise aufgestockt wird, wirft viele Fragen auf. Wir werden traurig, wenn wir durch Strassen gehen, in denen Frauen arbeiten, die gezwungen sind, ihren Körper zu verkaufen. Wir sehen auch, dass unter ihnen viele Angehörige aussereuropäischer – asiatischer oder afrikanischer – Länder sind. Und natürlich haben wir eine Frage: Ist dies die einzige Möglichkeit für sie, sich in der Schweiz anzupassen? Und warum überrascht diese Form der legalisierten Sklaverei überhaupt niemanden und gilt in einem zivilisierten Land als normal?
Als Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, wo die Gesetze äusserst vage und gleichzeitig viele Dinge streng geregelt sind, fragen wir uns oft nach den Grenzen des Erlaubten. Einerseits klingt das Prinzip „Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt“ gut und weckt den inneren Wunsch, damit einverstanden zu sein. Andererseits treffen wir am heiterhellen Tag mitten auf der Strasse auf Leute, die uns Drogen anbieten. Und wir erwachen mitten in der Nacht, weil Obdachlose Krawall oder Nachbarn laute Musik machen. Und wir sehen Häuser, die von hässlichen, hingeschmierten Graffitis verunstaltet sind. All das wirft Fragen auf. Es scheint uns, dass es eine ziemlich grosse Gruppe von Menschen gibt, die sich problemlos am Rande der Legalität aufhalten.
Säcke
Was den Neuankömmling zunächst schockiert und empört, sind die Müllsäcke. Wir erlebten mehrere Wellen der Verwunderung – zuerst, als wir erfuhren, dass die Müllsäcke in Basel unbedingt blau sein müssen, dann, als wir ihren Preis erfuhren, und schliesslich, als sich herausstellte, dass sie in jedem Kanton und sogar in jeder Stadt anders sind. Das Ergebnis: Wenn wir jetzt in ein anderes europäisches Land reisen, ist das Erste, was wir tun, herauszufinden, welche Müllsäcke dort in Gebrauch sind und wo wir sie kaufen können.
Ein anderer Sack, der uns auffiel, war der wasserdichte Schwimmsack. Als wir zum ersten Mal Leute mit ihren Säcken im Rhein schwimmen sahen, dachten wir, das sei eine Art lustige Attraktion oder ein sportlicher Wettbewerb. Als wir herausfanden, dass es für viele Leute nur eine bequeme Art war, sich in der Stadt zu bewegen, waren wir begeistert. Und obwohl wir uns noch nicht in den Rhein gewagt haben, betrachten wir mit Vergnügen die zahlreichen Modelle wasserdichter Säcke in den Geschäften.
Trödel
In Russland herrscht eine sehr zwiespältige Haltung gegenüber Second-Hand-Läden. Zu Sowjetzeiten galten Gebrauchtwarenläden als ziemlich beschämend, man ging aus Armut dorthin und konnte dort kaum Wertvolles kaufen. In der postsowjetischen Zeit tauchten gute westliche Dinge in Second-Hand-Läden auf, und die Leute – vor allem ganz junge Menschen – kauften dort begeistert ein. Mit der Zeit kühlte die Begeisterung ab, da sich die Kultur des Sekundärkonsums in Russland nicht wirklich entwickelte.
In der Schweiz kann man in zahlreichen Second-Hand-Läden und «Brockis» problemlos hochwertige gebrauchte Kleidung, Schuhe und Möbel kaufen oder derlei sogar kostenlos auf der Strasse mitnehmen. Nicht zu vergessen die zahlreichen Flohmärkte! Solche Käufe waren für uns anfangs psychologisch schwierig, aber nach und nach gewöhnten wir uns daran und erstanden ein paar nette Kleinigkeiten für die Küche und später sogar ein gebrauchtes Hemd.
Waschen
Eine in Russland geborene Person macht sich über ein Phänomen wie die gemeinsame Waschküche in Schweizer Miethäusern viele Gedanken. Wer in der Stadt wohnt, hat in Russland in seiner Wohnung eine Waschmaschine und spannt zum Trocknen seiner Wäsche in der Küche oder auf dem Balkon ein Seil. Daher empfinden wir es jedes Mal als exotisch, wenn wir in den Keller gehen und die Wäsche zuerst in einer gemeinsamen Waschmaschine waschen und sie dann neben der des Nachbarn aufhängen müssen. Aber natürlich sind wir uns der Tatsache bewusst und schätzen es, dass diese Praxis gut nachbarliche Beziehungen aufzubauen hilft. Im Allgemeinen sind die Nachbarn unseren Beobachtungen zufolge viel freundlicher, kommunikativer und interessierter am Leben der Mitbewohner als in Russland. In Russland neigen die Menschen dazu, entweder mit ihren Familien oder auf der Strasse unter völlig Fremden zu feiern. Sie unternehmen selten etwas gemeinsam mit ihren Nachbarn.
Je länger wir in der Schweiz bleiben, desto geheimnisvoller erscheint uns dieses Land. Als ob einem das Hauptgeheimnis der Schweiz umso mehr entgeht, je mehr Details man kennt. Wir fragen uns ständig: Warum koexistieren hier wunderschöne Naturlandschaften mit hässlichen Industriegebäuden? Wie kommt es, dass die Schweizer jede Veranstaltung in eine Party verwandeln, es aber gleichzeitig so aussieht, als würden sie die ganze Zeit arbeiten? Werden die Schweizer nicht ihrer eigenen Zurückhaltung und Gutmütigkeit überdrüssig (in Basel gibt es immerhin eine Fasnacht, aber was passiert anderswo)? Und gehen die Schweizer nicht ein wenig verloren in der grossen Zahl von Expats, die in ihr kleines Paradies strömen?
Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
Danke für diesen unterhaltsamen Beitrag. Es macht mich aber traurig, dass die beiden russischen Frauen auf Englisch schreiben mussten. In der deutschen Übersetzung tönt dann alles wie einfache Sprache, oder Schulbuchdiktion, viele Nuancen kommen in einer Zweitsprache nicht gleich gut rüber.
Lieber Felix Schneider. Haben Sie diese Stelle betreffend gemeinsames Waschhaus nicht etwa falsch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt oder wohnen Sie in einem Einfamilienhäuslein? «…dass diese Praxis gut nachbarliche Beziehungen aufzubauen hilft…» Meine Erfahrung und als früherer Mieter in Basel ist hingegen: «Das Waschhaus ist Kriegsgebiet!»…