Kommentar

kontertext: Das Leben, eine Erholungsreise

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Corriger la fortune: Wenn es beim Eingang zum Leben um Spielräume und Wunscherfüllung geht. Eine pränatale Schicksalsfantasie.

Vor der Schwelle stand ein Campingtisch, daran sass etwas mit Kapuze. Eine sonore Stimme drang daraus hervor. Sie fragte, was ich werden wolle: Mann oder Frau? Oder lieber etwas dazwischen?

Dieses Entweder-oder wirkte einengend, also wählte ich das Dazwischen.

«Eine gute Wahl» bestätigte die Stimme. «Später kannst du dich noch immer für eine Seite entscheiden, falls dir Festlegung doch lieber ist.»

Orientierung

«Das klingt kompliziert» sagte ich. «Beides zugleich oder keins von beiden – sogar das ist mir zu eindeutig.»

«Keine Sorge» sagte die Kapuze. «An vielen möglichen Geburtsorten gibt es Fachleute, die dich unterstützen. An einigen sogar ein Heer davon. Lass uns erst mal zu deiner sexuellen Orientierung kommen.»

Während sie auf dem Tischchen Eintrittspapiere ordnete, ging ich in mich. Ich wusste, was gemeint war, aber eher allgemein. Ich hatte von X-Chromosomen, Balztänzen und Pheromonen gehört, von Spermien, die in einer Nährlösung um die Wette schwammen, und von Zellen, die Verschmelzung probten. Aber etwas Persönliches ergab sich daraus nicht.

«Gib mir eine weltoffene, menschenfreundliche Orientierung» sagte ich, «für Einheimische gleich aufgeschlossen wie für Zugewanderte.»

«Das ist ein anderes Thema, dazu kommen wir noch» sagte die Stimme.

Dann wollte sie wissen, was für Eltern ich gern hätte: Sportlich? Religiös? Werte- oder konsumorientiert? Ein wechsel- oder gleichgeschlechtliches Paar? Oder lieber alleinerziehend?

«Das sind viele Fragen auf einmal» sagte ich. «Hauptsache, sie sind bildungsnah gebaut, aber mit Sinn fürs Praktische. Für das, was man «werktätig» nennt. Bloss keine Teflontypen in einer Villa mit Pool, sowas widert mich an. Zugegeben, ich hätte auch nichts gegen eine Mama ganz für mich allein. Aber was tun, wenn ihr irgendwann die Puste ausgeht?»

«Dann gibt es vielleicht Angebote für überforderte Elternteile» sagte die Stimme, «je nachdem, wo ihr lebt.»

«Lassen wir das mal offen» sagte ich, «reden wir lieber von der Geschichte. War es nicht jahrhundertelang so, dass man als Nachkomme von Bauern Bäuerin wurde und als Bauer starb?»

«Du schweifst ab» tönte es aus der Kapuze. «Du hast Fantasie, aber Mühe, bei der Sache zu bleiben. Wir sollten dir ein festgefügtes Umfeld schaffen.»

«Es ist ganz einfach» sagte ich: «Als Eltern will ich fantasiebegabte Leute mit Manieren, aus gutem Haus, aber keinesfalls blasiert; interessiert am Leben der Unterprivilegierten – und mit Reserven für ein Zwischenjahr, falls ich mich noch nicht für eine Studienrichtung entscheiden kann.»

Die Kapuze nickte: «Gute Idee. Dann lass uns mit deinem Namen weitermachen.»

Pigmente

Ich fand, den Namen sollten wir lieber den Eltern überlassen – etwas Fremdbestimmung ganz zu Beginn wäre nicht schlecht. Sowas formt den Charakter. Ich hatte mich ja für Menschen mit Stil ausgesprochen; die würden mich kaum Beverly nennen.

«Auch über Pigmente sollten wir reden» sagte die Stimme. Ein Lächeln oder Frösteln schien sie zu durchlaufen. Als ich fragend blickte, erklärte sie: «Dein genereller Typ. Richtung blond oder Richtung brünett.»

Die Kapuze rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Wahrscheinlich war damit auch die Hautfarbe gemeint.

Ich zögerte.

«Keine Bange, an den meisten Orten gibt es Tönungen. Nur ganz im Süden wohl nicht, da müsstest du dir die Farbe schon genauer überlegen.»

«Süden?»

«Oh, ich habe ganz vergessen, das mit der Heimat anzusprechen – ich meine: mit der Geografie.»

Nachdenklich betrachtete ich den Campingtisch. Von der Oberfläche blätterte die Beschichtung. Darunter zeigte der Rost sein Rot. Schon hier tat er also sein Werk. Das konnte ja heiter werden.

«Im Grünen möchte ich geboren werden, aber zentrumsnah. Mit unberührten Landschaften, Hochmooren, Savannen und Photosynthese. Aber auch eine Uni sollte erreichbar sein – auf Radwegen natürlich; dann hätte ich gern freundlich eingerichtete Flüchtlingsunterkünfte und ausreichend Lesestoff. Dies alles möglichst in einer mittelgrossen, rot-grün regierten Stadt. Auch ein Spital sollte in der Nähe sein.»

Mein Gegenüber schien unter der Kutte beschwichtigende Bewegungen zu vollführen. «Fürs Hochmoor müsstest du eine Randregion wählen und dann pendeln, vielleicht sogar den Führerschein erwerben.»

«So etwas Scheussliches werde ich niemals tun. Kann man denn diese Landschaftsstrukturen nicht umgestalten?»

«Die Grundlagen sind leider nicht verhandelbar: Schwerkraft, Geologie, Lichtbrechung. Wir müssen uns auf das Wie und Wo deines Lebens konzentrieren.»

Was das wohl zu bedeuten hatte? Ich spürte einen Unmut aufkeimen und sagte: «Das wird mir jetzt alles zu anstrengend. Warum lassen wir’s nicht einfach bleiben? Habe ich denn je gesagt, dass ich unbedingt zur Welt kommen will?»

«Du gibst rasch auf» sagte die Kapuze. «Ich denke, wir sollten etwas Kerneuropäisches für dich finden, wo es Waldorfkindergärten gibt. Begabte Tanztherapeut:innen. Anderswo könntest du dich schwertun.»

Kapital

Darauf fiel mir gerade nichts ein, und es entstand eine Pause. Die Gestalt scharrte mit den Hufen wie ein Zirkuspferd. Dann sagte ich: «Wenn da, wo du mich hinschicken willst, etwas schiefläuft – und ich bin sicher, dass das passiert –, dann möchte ich nicht daran schuld sein. Kannst du schauen, dass man andere für verantwortlich erklärt?»

«Später vielleicht. Lass uns erst mal klären, wo du geboren wirst.»

Das fand ich ganz nett: Auf diesen kleinen Globus mit seinen wunderlich geformten Erdteilen hinabzuschauen und ihn zu drehen, als sei das Leben eine Erholungsreise, von welchen Strapazen auch immer. Und dann mit einer Nadel irgendwo hinzustechen.

«Sicher gern an einem Ort mit gemässigtem Klima» sagte ich. «Das, was ich sein werde, mag keine Extreme.»

«Klug für dein Alter. Es deutet alles auf die Alte Welt hin. Da wollen aber viele hin – vielleicht musst du dich gedulden. Und denk daran: Dort regnet es manchmal etwas länger, und im Winter gibt’s Bodennebel. Dafür bist du sicher vor den ärgsten Plagen: Dürren und Steinschlag, der Amöbenruhr, Mangelernährung …»

«Wie, sicher?» sagte ich. «Was kann denn einen Steinschlag aufhalten?»

«Du kennst es noch nicht, aber du wirst es kennenlernen: Kapital. Es sei denn, du ziehst Armut vor.»

«Richtige Armut mit Illetrismus, Skorbut und häuslicher Gewalt wohl kaum» sagte ich, «oder bin ich blöd? Aber vielleicht Askese? Ja, ich sähe gern etwas von der Schlichtheit um mich herum, die man aus Bibelfilmen und von Beduinen kennt: diese ungefärbten Rupfenstoffe, rustikalen Möbel und einfachen Speisen. Aber schon gepaart mit dem, was du vorher erwähnt hast.»

«Du meinst Kapital?»

Ich merkte, dass ich das Wort ungern in den Mund nahm; es klang so hässlich. «Ja, davon ein Polster; aber auch nicht so viel, dass es unappetitlich wirkt und den Neid anderer auf mich zieht; so wie dort unten am Prenzlauer Berg, siehst du, bei diesen einstigen Werkstudenten.»

Die Kapuze nickte: «Da lässt sich was machen. Jemand aus der Vergangenheit hat eine nette Kaution für dich hinterlegt. Nur eine Bitte hätte ich noch: Erzähl es nicht weiter, sonst wird mein Job hier ungemütlich.»

«Ich schweige wie ein Grab» sagte ich – und prustete los. Denn tatsächlich sollten wir ja auch über Feuer- oder Erdbestattung noch sprechen, Bibelverse oder Koransuren, das Gedenken der Nachwelt. Aber das schien mir weit weg, darauf hatte ich keine Lust. Erst mal schauen, was das Leben Schönes bereithält.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Beat Sterchi und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

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