Kommentar
kontertext: Das gescheckte Einhorn vor dem Weissen Haus
In diesen Spalten hat neulich Helmut Scheben dargelegt, dass statt einzelner Gestalten heute Konzepte, Systeme und Kontexte den Verlauf der Geschichte prägten. Deshalb sei die Maxime ‹Grosse Männer machen Geschichte› überholt. Wäre demzufolge auch der Begriff ‹Putins Krieg› zu revidieren, entgegen der breit verwendeten Sprachfigur?
Dieser Text versucht stattdessen zu zeigen, dass es selbst in Teamsportarten wie Währungsmanagement oder Social Engineering nach wie vor Individuen sind, die mit ihren Entscheidungen den Gang der Dinge bestimmen und den Stil der Auseinandersetzung prägen. Wahlen sind von Köpfen bestimmt – die Fruchtfolge der Legislatur will eine Handschrift auf die andere folgen lassen im Aspirantenstadel der politischen Programme. Gerade wenn in Demokratien die Schwarmintelligenz sich in Polls verewigt, Gremien die demokratische Beschlussfindung tragen und eine ökonomisch fixierte Statistik viele Bedingungen des Handelns bestimmt, ist das Individuum gefragt, jenen Ausschlag zu geben, der mehr ist als das Zünglein an der Waage.
Der Schreibende sieht allerdings anstelle der ‹umsichtigen Entscheidungsträger:innen› von einst, die Hegelschen Synthesen zum Durchbruch verhalfen, wieder vermehrt die Hooligans, Hobby-Mythologen und Narzissten der Macht in Erscheinung treten (die männliche Form ist beabsichtigt). Gewiss gibt es für diesen Typus Vorläufer, allen voran Nero, das melodramatische Ausnahmetalent; dann George III. oder der somnambule Ludwig II. von Bayern, der als ‹Mondkönig› die Nacht zum Tag machte und derart viel Süsses ass, dass der Zahnschmerz oft Mittelpunkt seines Lebens war.
Mit Hitler betrat der kulturgeschichtlich ambitionierte Sarkasmus die Politbühne. Zur selben Zeit starb unter Stalin in Sibirien selbst das sardonische Lachen den Erfrierungstod. Dann wurde es für einen Augenblick dunkel um das Parodierbare in der Politik. Aus Pietät für die Opfer? Wohl eher, weil man mit Wiederaufbau beschäftigt war.
Auf die Atempause folgten nachkoloniale Schlächtereien: Idi Amin jagte Weggefährten, ‹Papa Doc› Duvalier rüstete seine Schwadronen mit Macheten aus. Kaiser Bokassa I. liess Feinde häuten und hielt sich für den 13. Apostel Jesu. Mobutu Sese Seku heuerte amerikanische Box-Asse an, um mit Leopardenfellmütze und Mercedes Afro Centrism zu zelebrieren. Und die Bilder von Imelda Marcos’ Schuhgebirgen gingen um die Welt.
Neben passionierten Folterern wie Pinochet oder Pol Pot waren die Bodenschatz-Mogule Mobutu und Mugabe reine Diebe. Sie gingen mit System zu Werke, scheffelten bis zum letzten Atemzug. Andere wirken aus heutiger Sicht wirr und rhapsodisch in ihrer Gewalt. Sie rangen blutvergiessend um inneres Gleichgewicht. Idi Amin etwa, beliebtes Sujet von Nacherzählungen, schien zu schwanken zwischen Verfolgungs- und Grössenwahn, wogegen der schwer durchschaubare Sexualanarchist Bokassa in der Herrschaft so etwas sah wie den artaudschen Rausch: Grand guignol am Rande des Massengrabs.
Der Kalte Krieg wiederum brachte kalt verbissene Funktionäre mit Parteibuch hervor: den farblosen Erich Honecker, das eiserne Ceausescu-Paar; den abgehalfterten Rodeoreiter Reagan; den Bunkerfetischisten Enver Hoxha; die Iron Lady mit ihrer Vorliebe für den Brutalismus des Marktes; dann die senilen Apparatschiks der sowjetischen Nomenklatur, von denen die Welt rätselte, ob es Mumien oder sprechende Wachsfiguren seien. So entstand die Metapher des Betons für die Mentalität der Herrschenden. Es fiel schwer, hinter diesen grauen Stirnen etwas anderes zu sehen als russischen Mörtel.
Die Stunde des unfreiwilligen Polit-Humors schlug erst wieder im Juli 2002, als George W. Bush gegenüber Tony Blair geäussert haben soll, das Problem der Franzosen sei, dass sie kein Wort für Entrepreneur hätten. Das Bonmot ist nicht belegt, da Blairs Kommunikationsstab es nachträglich zurückzog. Doch selbst als Fiktion steht es für eine Herangehensweise des 43. Präsidenten: Sitzt du hoch genug, kommst du mit markigen Worten durch. Für fundiertere Kenntnis gibt es Beraterinnen und Analysten. Seither gehört Bullshitting auf höchster Ebene zum Repertoire.
Es folgten einige Jahre des Übergangs, bis Kim Jong-un 2010 seinen Vater beerbte und einen Vorgeschmack auf das Kommende gab. Bevor es richtig losging mit der grossen Gaudi in den Regierungssitzen der Welt, brillierte er bereits als diabolischer Alleinunterhalter. Von der westlichen Welt mit dem Fernglas bestaunt, wurde Nordkorea zur Operettendiktatur – nicht ohne Hunger im Orchestergraben. Was würden wohl Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara und Hans Arp sagen, wenn sie sähen, wie ihre Ästhetik viele Wolfsschanzen des digitalen Zeitalters erobert hat? Und wir? Wann dürfen wir wieder auf Politik hoffen, die faktenbasierte Handlungsanreize sucht?
*
Nero mag ein kunstsinniger Kaiser mit Hang zur Extravaganz gewesen sein, sensibel und von einer Einbildungskraft, die auch ausgefallene Mordmethoden umfasste. Für den Untergang seiner Mutter liess er eigens ein Schiff konstruieren. Es sank wie geplant, doch Agrippina schwamm an Land. Dort besorgte Gift das Unerlässliche. Caligula plante, sein Lieblingspferd Incitatus zum Konsul zu ernennen und beleidigte damit den Senat. George III. war schlicht das Opfer einer noch unbekannten Krankheit, die ihn manchmal während vierzig Stunden ohne Pause sprechen liess, bis der sprichwörtliche Schaum vor seinen Mund trat. Der soziophobe Ludwig II. trieb mit seiner Bausucht seine Kabinettskasse in den Ruin und flüchtete sich am Ende in die Hütteneinsamkeit der Bayerischen Alpen. Donald Trump aber wurde zum ersten Zar des digitalen Regierungs-Dadaismus: Vor laufender Kamera schlug er vor, gegen Corona Desinfektionsmittel zu trinken. Mit der Behauptung, er könnte auf dem Times Square jemanden erschiessen und damit durchkommen, punktete er bei den Waffennarren, die Selbstjustiz für das Mittel der Stunde hielten. Beim Besuch eines medizinischen Fachlabors fantasierte er in kokettem Konjunktiv von sich als Weltklasse-Arzt. Den Klimawandel kommentierte er mit der Bemerkung, übers Wochenende fahre er so gern nach Florida, weil es dort wärmer sei als in Washington – Konfabulation als rhetorisches Prinzip. Doch spätestens als er bei einer Rede auf dem Parteikonvent von Du zu Du mit einer herumschwirrenden Mücke sprach, war der Slapstick zum Element eines neuen Politstils erkoren.
Macchiavelli’s nightmare oder Mad man-Strategie? Boris Johnson eiferte Trump nach, wenn er die EU unter Gelächter zum Bündnis erklärte, das gegen den Wuchs der Banane angehe – ein Begradigungsverein. Mit der Absicht, aus der Politik eine Jahrmarktattraktion zu machen, indem er Machtfülle mit Fluxus verband, war der Prime Minister eine walking pain für alle Stäbe, die hinter seiner verbalen Abrissbirne die Trümmer sortieren mussten. Österreichs Colonel Kurtz schliesslich, mehr eine Fussnote in diesem Kontext, präsidierte die erste Regierung, die auf SMS-Nepotismus fusste.
So ging es unaufhaltsam weiter: Der Allotria-Quotient der Weltpolitik stieg umgekehrt proportional zum IQ ihrer meist männlichen Exponenten. Das Erfinden von Geschichten, die den politischen Gegner diffamieren, wurde zum politischen Instrument. Dabei half das kurze Gedächtnis der sozialen Medien, allfällige Querschläger abzufedern.
Wer das Versailler Treiben um Louis XIV. kennt, weiss, das Spinnen von Intrigen ist so alt wie die Menschheit selbst. Doch der aggressive Nonsense hat daraus etwas Neues gemacht: die offene Verhöhnung jeder Evidenz, in letzter Konsequenz die Verhöhnung derer, die zur Urne gehen. Dieser Trend gipfelt nun im mörderischen Dadaismus des Kreml. Von Fahnentüchern flankiert, gibt der Diktator aberwitzige Legenden zum Besten: Er kündigt die Entnazifizierung eines einigermassen pluralistischen Landes an und spricht von Anschlägen des ukrainischen ‹Regimes› auf die eigene Bevölkerung. Ausserdem vermutet er Atomwaffen in einem Land, dessen Sprengköpfe offiziell abgebaut wurden. Dies alles vorgebracht von einem tief versauerten Mann, der wohl nur mit seiner Zimmerpflanze wirklich offen über Politik reden kann.
Regierungsdadaismus heute, das heisst für alle, die Verantwortung tragen oder danach streben: Fälsche deine Doktorarbeit, und wenn man dich Plagiator nennt, dann berufe dich darauf, dass nicht du, sondern die, die für dich geschrieben haben, geistigen Diebstahl begangen hätten. Wer die Parteispende verweigert, dem häng eine Klage wegen Steuervergehen an. Willst du etwas vor der Nachwelt verbergen, dann erklär, Papiere seien beim Umzug verschwunden, verbrannt, verschimmelt, entwendet worden… Lerne mit inneren Widersprüchen froh zu koexistieren. Trete als Mann des Fussvolks auf, auch wenn Eliten dich unterstützen. Operiere mit Begriffen, zu denen du ein Verhältnis profunder Unkenntnis pflegst. Sei unterhaltsam, turbulent und unvorhersehbar. Alle Macht der Fantasie! Möge die Realität in ihrer Sturheit besiegt werden! Denn wahr ist, was die Mehrheit für wahr nimmt. Wahr ist das gescheckte Einhorn, das gestern an deiner Residenz vorbeitrabte, als du kurz vor Mitternacht die letzte Fritte verzehrtest. Wenn du fest daran glaubst und die Geschichte oft genug erzählst, wird auch die Mehrheit sie glauben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Lieber Michel Mettler ~
ich kann Ihre ‚Zuweisungen’ bezüglich dessen was verstorbene und noch lebende Menschen gesagt und getan haben sollen fast hundertprozentig teilen, ohne dass in mir Gefühl entsteht, dass Sie damit keine grobe ‚Geschichtsklitterung‘ bzw. ‚Fakten-Leugnung‘ begehen …
Aber in einem Fall – insbesondere den „Anschlägen des ukrainischen ‹Regimes› auf die eigene Bevölkerung“ – frage ich mich, was sie da ‚geritten‘ hat (?!?) …
Angesichts der mindestens 10.000 Ukrainer, die im sogenannten ‚Donbass‘ zwischen 2014 und Januar 2022 durch Ukrainer zu Tode gekommen sind, erscheinen mir diese Aussage als eine Verhöhnung dieser Menschen (!!!) …
Und inwieweit solche ‚Praktiken‘, denen „eines einigermaßen pluralistischen Landes“ entsprechen, erschließt sich mir leider auch nicht (!) …
Daher möchte ich Sie bitten noch einmal in sich zu gehen und sich ggf. dafür zu entschuldigen und entsprechende Korrekturen zu tätigen – danke (!) …
Mit herzlich-lieben Grüßen aus Ostfriesland ~
@Warntjen: wieso sollte die Ukraine 10’000 eigene Ukrainer umbringen? Warum sollten die das machen. Bis 2014 war ja alles in Ordnung. Wieso sollten dann die sogenannten Nazis auf die eigene Bevölkerung losgehen? Woher nehmen sie ihre Informationen mit den 10’000 ermordeten Ukrainern? Wie erklären sie sich den Abschuss eines zivilen Flugzeuges mit einem Raketenabwehrsystem wo glaube ich jede Recherche nach Russland geführt hat?
Woher kommen denn ihrer Meinung nach die russischen Separatisten? und woher haben die ihre Waffen? Überlegen sie sich mal, in der Ukraine haben 8 Jahre lang Ukrainer gegen diese Separatisten gekämpft auf ukrainischem Territorium. Sie informieren sich sicher auf Russia Today.
Was genau will uns der Autor sagen? Dank so oder so vorab dafür, dass ich nun Helmut Schebens verlinkten, hervorragenden Artikel über die Ukraine und die Medien gelesen habe. Und Herr Warntjen: Bevor Sie «Entschuldigungen» von Leuten verlangen, die einfach nur Fakten auf den Tisch legen, sollten Sie eventuell mal die «völkerrechtlich-geopolitischen Fälle» Ukraine/östliche, russische Sprachminderheit im Donbass und Serbien/südliche, albanische Sprachminderheit im Kosovo vergleichen. Dabei wäre insbesondere das jeweilige Verhalten des «Werte-Westens» (und seines bewaffneten Arms namens Nato) unter besonderer Berücksichtigung der Militärbasis Bondsteel zu berücksichtigen. Oder würden Sie auch «sogenannter Kosovo» sagen und schreiben?