Kommentar
kontertext: Bohnenquark oder Ode an meine Offline-Tante
Mitte Oktober 2023, ich besuche meine Tante Else im Birkenhof, wo sie seit vier Jahren wohnt. Manchenorts, nicht aber in dieser Einrichtung wird demnächst etwas gefeiert, das omnipräsent und doch nicht zu greifen ist. Gemeinsam mit so folgenreichen Dingen wie Psychedelic Rock oder der Lava-Lampe geht es auf den Summer of Love zurück. Allerdings erinnert der 29. Oktober an ein Woodstock-Ereignis der kühleren Art: die erste Nachricht, die 1969 zwischen zwei Rechnern übermittelt wurde. Dieser Vorgang gilt als Stunde Null des Internets.
Auf das Wort Internet reagiert meine Tante wie auf Tofu oder Wasserbett: «Gibt es den Mist tatsächlich noch? Und wird es auch benutzt?» – «Durchaus», sage ich, «das weisst du genau. Spiel nicht die Dumme. Aber man muss dafür einen Computer haben.» – «Lass uns von anderem reden», sagt sie unwillig. Sie lässt ihren Blick durch die schwach besetzte Cafeteria schweifen und rückt zu mir heran, um weiter von ihrer Polyarthritis zu berichten. Ihr Orthopäde sehe zwar blendend aus, sagt sie, aber von ihren Lendenwirbeln verstehe er nichts. Am Ende des Tages helfe nur Melissengeist, das Erbe der alten Klosterfrauen.
Ich lächle wissend. – Wasserbetten jedenfalls seien Gift für die Bandscheiben, fährt Else fort. Sie schwört auf ihre alte Rosshaarmatratze, obwohl sowas bei den Pflegenden für Unmut sorgt. Während meine Tante farbenfroh vom Heimalltag erzählt, wird mir bewusst, wie gern ich in ihrer netzlosen Welt leben würde, zu der es nicht gekommen ist, weil ein paar Nerds im Golden State von ihrer Parallelwelt derart fasziniert waren, dass sie eine Mehrheit aus Wissenschaft, Medien und Business dafür gewinnen konnten.
Der Weg dahin war dornenreich. Doch am 29. Oktober 1969 spielte sich in einem Seminarraum der University of California Los Angeles eine Urszene ab: Nach langer Bastelei wurde über eine Datenleitung die erste Textnachricht der Geschichte an das Stanford Research Institute gesandt. Zuerst zögerlich, dann mit erheblichem Drall verbreitete sich die Kunde: Das Reich der Bits und Pixel sei das neue, grosse Wir, die Zukunft der Kommunikation.
Ist deshalb die Cafeteria des Birkenhofs die Vergangenheit der Kommunikation? Immerhin eine Vergangenheit mit Kaffee und Kuchen. Derweil ist das Netz zur Krake geworden, alternativlos und allgegenwärtig. Nun aber zu behaupten, der Melissengeist bilde dazu eine Gegenwelt, wäre verfehlt, das weiss meine Tante genau. Auch zu diesem Hausmittel gibt es weitläufige Websites, an denen kein Schmerzgeplagter vorbeikommt. Unter anderem ist da von jener segensreichen Maria Clementine Martin zu lesen, die ab 1825 mit dem Verkauf von Duftwassern ihren serbelnden Annuntiatinnenorden sanierte.
Eine langsam rotierende Plattform
Auch ich fühle die Saugnäpfe der Krake täglich auf mir – wenn ich einen Adapter finden, eine Reise buchen oder einen Termin vereinbaren will. Beschwere ich mich, kommt aus einer anonymen Community die Gegenfrage: Siehst du etwa deinen Haushalt, dieses Tohuwabohu aus Rispentomaten, Adiletten, flämischer Literatur, Feinstaub und Kakteen, als valable Alternative zum Cyberspace? Zugegeben, auch Tofu ist nur dann ein Argument für die analoge Welt, wenn man ihn herzhaft würzt. Davon kann Else ein Lied singen. Lange genug hat sie eine Schar hungriger Mäuler versorgt – sie weiss, wovon sie spricht: Nature genossen, sagt sie, schmecke Tofu wie Presskarton.
Nicht wir greifen nach der Krake, die Krake greift nach uns. Meine Mutter zum Beispiel ist eine regelrechte Online-Athletin. Als es längst wieder aus der Mode war, ein Facebook-Konto zu haben, hat sie mit Trara eines eröffnet, und sie hält es bis heute für schick, ein Profil zu besitzen. So bleibt kein Urlaub undokumentiert. Die Cinque Terre, Andalusien und die Camargue, nichts entgeht ihrer Linse, und nichts entgeht später, wenn sie in Uitikon zwischengelandet ist, der Einspeisung ins Netz: ein Karbonbike und eine gertenschlanke Amazone der Trekkingwelt, mal am Fjord, mal an der Lagune, doch immer hart am Schärfepunkt. Wer eine neue Diät mit ihr bewerben wollte, hätte Bildmaterial für Jahre.
Ich selber bleibe gern profillos und nutze das Netz vor allem als Drehscheibe für Schriftliches. Private Fotos zu teilen, fiele mir nicht ein. Das Internet ist mein Vehikel für den Austausch von Gedanken. Ich sehe es als langsam rotierende Plattform: Du springst auf, hinterlässt Kassiber und springst wieder ab. Andere tun dasselbe. Mitunter trifft man sich und legt Tangenten an eine gleichermassen verschriftete Existenz.
Dass in meinem Leben die Mailserver Orte gegenseitiger Anregung sind, bleibt den Ursprüngen des Internets seltsam treu: Die Nachricht vom 29. Oktober 1969 bestand aus zwei Buchstaben und lautete lo. Danach stürzte der UCLA-Rechner ab. Doch das Experiment wurde wiederholt, und die gesamte Nachricht wurde übermittelt. Sie lautete log. Auf der Basis dieses Erfolgs schloss man etwas später auch die Universitäten von Santa Barbara und Utah an das Netzwerk an.
Die Göttin der Fürsorge
Während Tante Else an ihrem Kaffee nippt, fällt es mir leicht, zu erklären, weshalb das Internet selbst für mich, den Foto- und Tofu-Abstinenten, von Interesse ist. Es ist praktisch, billig und schnell. Es spart Kraft. Und warum man Kraft sparen will, weiss Tante Else so gut wie ich: Auch ihr geht sie aus.
Neulich schrieb ich meinem Freund Urs eine tröstende Mail. Er hatte geklagt, sein Account neige dazu, aus Gründen, die nur Maschinenhirne verstünden, gewisse Mails abzuweisen und andere entgegenzunehmen. Hinter seinem Satz reihten sich die Fragezeichen der Entgeisterung wie galoppierende Camargue-Pferdchen.
«Ich kann dir nicht raten, mit deinem Provider zu reden», schrieb ich zurück, «die Providentia unserer Tage ist ja stumm und knausrig mit ihrer Zeit. Time is money – die Göttin der Fürsorge und des vorausschauenden Blicks verschanzt sich hinter Eingabemasken. Ihre Domäne ist die Tiefsee des Kleingedruckten, zu der kein Mensch je runterscrollt. Und die Geheimnisse der Server sind unerforschlich – lassen wir sie ihr geheimes Werk tun und begnügen wir uns mit dem, was die Fachwelt herablassend ›Benutzeroberfläche‹ nennt. Übrigens: Die Providentia meiner Wahl nennt ihre Seite ›Portal‹ (ein Begriff, der mehr an Tempel als an eine Ramschbude oder einen Sexshop denken lässt).»
Urs ist ein ziemlicher Surf head. Bevor ich die Mail versandte, befragte ich deshalb das Netz, um mich mit meiner abseitigen Gottheit nicht als Orkus-Banause zu blamieren. «Dieser Artikel», hieß es da in gewohnt trockener Wikipedia-Diktion, «behandelt die römische Göttin. Für die einstige Feuerversicherung siehe Providentia (Feuerversicherung).»
Auch zu Tofu, altdeutsch Bohnenquark, ist die Informationsfülle berückend. Das Netz bietet historische Exkurse, Gourmetkritiken, Podcasts und Rezepte ohne Ende. Wer sich durchklickt, erlebt die Weltgeschichte als fortgesetztes Bankett.
Osteoporose, Anämie und Sprachzerfall
Die Ursprünge des Bohnenquarks reichen bis ins Alte China zurück, wie diejenige des Käses auch. Auch wenn der Kurzname Tofu nicht sehr verlockend klingt, eher wie die Bezeichnung eines Judo-Griffs, war seine Einführung in Europa ein Siegeszug an den Kühltheken der Bio-Szene. Obwohl über den Sojaanbau mehr und mehr unschöne Details ruchbar werden, soll bis heute die Nachfrage steigen. Ähnlich erging es dem Internet: Professor Leonard Kleinrock und sein Assistent Charley Kline waren sich über die Tragweite ihres Versuchs keineswegs im Klaren – sie strebten nur eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Forschenden an. Wie sehr ihre Neuheit das künftige Leben prägen sollte, stand noch in den Sternen über Kalifornien.
Nicht nur Tante Else, die sich trotz mangelndem Appetit jetzt zu einem Stück Apfelkuchen durchgerungen hat, auch mein Freund Urs mag akkurat gewürzten Tofu gern. Das weiss ich, weil wir lange Küchengenossen waren. Doch ob es noch immer Menschen gibt, die auf Wasserbetten stehen, könnte einzig ein Blick ins Internet zeigen.
Das Internet? Solange dieser Mist noch nicht abgeschaltet ist, muss ich mich kundig machen, und sei es nur, um meiner Tante Bericht zu erstatten. Bis dahin ist mir das bisschen Rosshaar recht, das Nacht für Nacht auch meine Bandscheiben stützt. Rosshaar helfe bei Haltungsschäden, meint Tante Else, aber auch bei Osteoporose, Anämie und Sprachzerfall. Sie muss es wissen. Viel zu oft hat sie sich schon über die rückenfeindliche Bestuhlung des Speisesaals im Birkenhof beschwert – niemand fühlte sich angesprochen. Vielleicht müsste sie auf der Homepage des Heims ein Kontaktformular ausfüllen, um Gehör zu finden. Aber das wird sie kaum tun. Sie schwört nicht nur auf altertümliche Matratzenpolsterungen, sondern auf vieles, was ihr zufolge zu Unrecht verschwunden ist: die Postkarte, Wäscheklammern aus Holz, den Milchmann… Keine Ahnung, woher sie ihr Wissen um die Vorzüge des Rosshaars hat, sie, die mir womöglich die Osteoporose mitvererbte und nach wie vor keine Anstalten macht, ihr bröckelndes Leben auf einen Server in Cupertino zu migrieren, so wie ihre bikende Schwester. HTML: Auch wenn ihr das Kürzel geläufig wäre, würde sie’s wohl einen ausgemachten Bohnenquark nennen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Wunderbar – ihre Tante Else.
Habe mir selbst überlegt den PC abzuschaffen, da nicht einmal mehr der Fahrplan für die öffentlichen Verkehrsmittel verwendbar ist.
Weil ich über kein Handy verfüge und auf den Stationen und Haltestellen keine Fahrpläne mehr aufliegen, bleibt mir nichts anderes übrig, als daheim zu bleiben.
Zum Glück gibt es Bücher und Fernsehen, welche mir die Welt in die Stube bringen.
Wunderschön gesagt.
Ich surfe ständig in der Hoffnung, das Ende des Internets zu erreichen; gefunden habe ich es noch nicht.