Kommentar

kontertext: Angenommen, Sie fühlen sich unschuldig

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Die Sensibilität für übergriffiges Verhalten wächst. Mit ihr die Unsicherheit, Zeichen zu deuten. Exkurs auf ein terrain vague.

Erlauben Sie mir, Licht in ein mögliches Szenario zu werfen, das auch Sie be­treffen könnte, in der einen oder anderen Rolle. Das Mittel hierzu ist die Fan­tasie des Schreibenden, eines biologischen Mannes. Angenommen also, Sie sind männlich, weiss, akademisch gebildet und durch Herkunft gesellschaft­lich privilegiert. Angenommen, Sie werden durch eigene Verdienste sosehr wie durch Protektion an eine nordamerikanische Universität eingeladen. Mit einem Gefühl der Freude treten Sie Ihr Gastsemester an. Zunächst fühlen Sie sich nicht ganz sicher im Umgang mit den Gepflogenheiten, auch wenn sie denen Ihrer Heimat gleichen. Mit der Zeit fassen Sie Fuss.

Angenommen nun, eine Studentin interessiere sich besonders für Ihr Fachge­biet. In Seminaren stellt sie interessante Fragen; sie bemüht sich um Ihre Be­gleitung beim Verfassen einer Arbeit. Auch per Mail wendet sie sich mehr­mals an Sie. Die Gepflogenheiten dieses Mediums bringen es mit sich, dass Sie sie Cathy nennen, nicht Miss Hansen. Cathy redet Sie mit Markus an, in einem Fall mit Mark. Das kann ein Verschreiber sein oder ein Zeichen von Vertraulichkeit.

Sie kommen in der Mensa mit Cathy ins Gespräch. Sie teilen viele Interessen. Im Gespräch erwähnen Sie auch Ihre Frau, die beiden Kinder und dass Sie schon in drei Monaten wieder zu ihnen zurückkehren werden.

Angenommen, an einem der folgenden Tage warte Cathy nach der Vorlesung in den hinteren Reihen auf Sie. Wie es Ihrer Erziehung entspricht, halten Sie ihr beim Verlassen des Saals die Türe auf und geleiten sie hinaus, eine Hand berührungslos, doch gleichsam schützend über ihrer Schulter.

Angenommen, Sie bemerken Cathys irritierten Blick, messen ihm aber keine weitere Bedeutung zu. Einige Tage später werden Sie vom Dekanat zu einer Unterredung geladen. Man eröffnet Ihnen, es sei eine Klage wegen unange­messenen Verhaltens eingegangen. Die Beschwerdeführerin lege Ihnen gön­nerhaftes Verhalten mit einer sexualisierten Komponente zur Last, geschehen beim Verlassen des Vorlesungssaals. Es werde vermutet, Sie hätten gewartet, bis der Saal leer gewesen sei, um der Beobachtung durch andere Studierende zu entgehen.

Sie geben sich ahnungslos und verweisen auf Traditionen einer Zuvorkommenheit, die Sie als unverfänglich empfänden, nämlich, anderen den Vortritt nicht nur zu lassen, sondern aktiv zu gewähren.

Man fragt, ob Sie mit ›anderen‹ Frauen oder Personen jeden Geschlechts mein­ten.

Nun könnte es sein, dass man Ihnen nahelegt, sich nicht weiter zu dem Fall zu äussern, niemandem gegenüber, da dies zum Nachteil Ihrer Person wie der Institution sein könnte – es wäre im Interesse aller, wenn Sie sich in der Ange­legenheit um Rechtsbeistand bemühten, möglichst von unabhängiger, mit der Universität in keiner Weise verbundener Seite. Hierzu und über den Fall selbst wird bis auf weiteres Stillschweigen vereinbart.

Welche freie Hand?

Angenommen, Ihr erster Impuls wäre, die Sache mit Cathy im persönlichen Gespräch zu klären: Nun wären Ihnen die Hände gebunden, da die Studentin Ihren Kursen fernbleibt und krankgeschrieben ist. Also kontaktieren Sie einen Anwalt, den Freunde Ihnen empfohlen haben. Dieser rät dringend davon ab, den Mailkontakt mit Cathy zu nutzen, um ihr eine Aussprache anzubieten. Dies könnte wiederum als unangebracht empfunden werden. Im Gegenteil, erklärt Dr. Brubacker: Weder sollten Sie versuchen, mit der Betroffenen Kontakt auf­zunehmen, noch auch, bestehende Konversationen auf Ihren elektronischen Geräten zu löschen. Dies alles könne von aussen betrachtet verfänglich wirken.

Nun könnte es sein, dass Sie sich entrüsten und sagen: Na hören Sie, ich habe dieser Person beim Verlassen des Auditoriums die Tür aufgehalten!

Dr. Brubacker versteht Ihre Erregung, kann aber fachlich nicht darauf einge­hen. Er meint, entscheidend sei, wie Sie dieser Person die Tür aufgehalten hät­ten.

Mit der Hand, sagen Sie, mit meiner freien Hand.

Wo war in diesem Moment die andere?, fragt Dr. Brubacker.

Ich denke, sie hielt meine Mappe. Und was denken Sie, wie viele Arten es gibt, einer Person die Tür aufzuhalten?

Haben Sie nicht anfangs gesagt, Sie hätten Ihre Mappe beim Pult gelassen, da Sie auch die Folgelektion gehalten hätten?

Richtig, das habe ich vergessen. Sogar mein Memory-Stick steckte ja noch im Saal-Laptop.

Sehen Sie, sagt Dr. Brubacker. Warum sprechen Sie von Ihrer ›freien Hand‹?

Ich weiss es nicht. Habe ich von meiner freien Hand gesprochen?

Dr. Brubacker zeigt auf das digitale Aufnahmegerät.

Sie ahnen, dass Ihr Nordamerikaaufenthalt weniger smooth verlaufen könnte als geplant. Und Sie fragen sich, wie Ihre Frau die Geschichte interpretieren wird, 6000 Kilometer entfernt, verbunden nur über Videocall. Wird sie an jene Bibliothekarin denken, die Ihnen etwas anhängen wollte und keine Skrupel hatte, Ihre Frau in eine Sache hineinzuziehen, an der nichts war?

War an dieser Sache nichts? Für Sie ja, aber haben Sie Signale ausgesandt, die etwas anderes vermuten liessen, oder auf solche Signale der Bibliothekarin un­angemessen reagiert?

Das ist möglich, aber nicht mehr zu klären.

Trauen Sie sich selbst über den Weg?

Angenommen, Sie halten sich für keines Vergehens schuldig, nachdem vor Ih­nen schon tausende Männer tausenden von Frauen die Tür aufgehalten haben, so wie Sie es Cathy gegenüber taten – ohne Hintergedanken und ohne sich als väterlicher Beschützer mit Sonderrechten zu fühlen: Könnte es trotzdem sein, dass mit Ihrem Blick auf junge Studentinnen etwas nicht stimmt, etwas Unter­bewusstes, das sich Ihrer Kenntnis entzieht, das Cathy aber sofort wahrgenom­men hat, weil es sie an ähnliche Vorfälle erinnerte?

Das ist möglich, aber schwer zu benennen.

Denken Sie, Ihr bisheriges Verhalten Studentinnen gegenüber halte einer ein­gehenden Prüfung stand? Gab es Momente, die Sie bereuen, weil Machtver­hältnisse unerwähnt blieben, als man sich privat näherkam? Oder denken Sie, die penible Prüfung von Machtbalancen sei etwas, das die Vertraulichkeit zwi­schen ungebundenen Menschen unnötig erschwert?

Angenommen, diese Unwägbarkeiten verunsichern Sie erheblich, dann geht Ihnen nun auch noch dies durch den Kopf: Könnte es sein, dass Cathy Ihnen Avancen gemacht hat, auf die Sie nicht eingetreten, ja die Sie kaum bemerkt haben, so subtil waren sie, weshalb diese Klage einer Retourkutsche gleich­kommt?

Das ist möglich, aber nicht zu beweisen. Es entzieht sich dem, was man in Er­fahrung bringen kann. Es ist Auffassungssache und sehr privat. Eigentlich entspricht es nicht Ihrem Selbstbild, solche Unterstellungen zu denken. Dr. Brubacker ist da ganz einig mit Ihnen: Ihre Hypothese findet er derart unange­bracht, dass er die betreffende Passage seiner Gesprächsaufzeichnung sofort löscht. Er rät Ihnen, nichts dergleichen jemals zu äussern, nicht einmal Ihrer Frau gegenüber – es könnte gegen Sie verwendet werden.

Trauen Sie Cathy über den Weg? Sich selbst? Der Universität? Ihrem Anwalt? Könnte es sein, dass die Studentin Ihre zuvorkommende Gebärde – zuvorkom­mend gemeint, hat Dr. Brubacker präzisiert – zu Recht als gönnerhaft empfand?

Das ist möglich. Sie können ihr nicht vorschreiben, wie sie Gebärden interpre­tiert, doch der Gerichtssaal wird kein geeigneter Ort sein, um darüber Klarheit zu schaffen – zumindest darüber herrscht Klarheit. Sogar der Anwalt pflichtet Ihnen da bei. Allerdings, er ist ein Mann, heterosexuell, privilegiert; so wie Sie.

Könnten Sie sich vielleicht neutral geben?

Um Klarheit geht es nicht, hat Dr. Brubacker als letztes gesagt. Es geht jetzt um eine Strategie. Denn vom Layout her sind Sie, als der Privilegierte, als der strukturell Bevorteilte, im Nachteil. Das ist gesetzt, damit müssen wir klarkom­men.

Angenommen, Sie geben ihm recht, und angenommen, Sie kommen heil aus dieser Sache heraus, so wie hoffentlich Cathy auch: Wie werden Sie künftig mit Zeichen der Galanterie umgehen? Werden Sie noch einmal so wagemutig sein, einer Dame den Vortritt nicht nur zu überlassen, sondern zu gewähren?

Sie wissen es nicht. Erst mal möchten Sie nur, dass diese Sache sich klärt. Doch von selber wird das nicht geschehen. Für die erste Unterredung hat Dr. Brubacker Ihnen geraten, sich möglichst neutral zu geben. Ihre Körpersprache soll neutral sein, Ihre Gebärden, Ihre Mimik, neutral auch Ihr Wording und der Tonfall, in dem Sie sprechen. Nicht aufgebracht, nicht resigniert, nicht verbit­tert, nicht sarkastisch. Auch nicht allzu freundlich oder engagiert. Neutral.

Doch wie sieht ein neutraler Blick aus? Desinteressiert? Besser nicht! Abwe­send, in sich gekehrt? Das könnte blasiert wirken.

Wenn Sie souverän wirken, kann das zu Ihrem Nachteil sein, sagt der Anwalt. Je uninterpretierbarer Ihre Aussagen sind, desto besser. Am schwersten inter­pretierbar war schon immer das Neutrale. Werden Sie wenigstens für die Dau­er der Unterredung zum Neutrum, dann kommen wir vielleicht ungeschoren davon.

Angenommen, Sie glauben ihm: Was glauben Sie dann? Und trauen Sie sich, es auszusprechen?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).

Eine Meinung zu

  • am 13.10.2024 um 14:17 Uhr
    Permalink

    Wunderbar beschrieben, besten Dank für diesen Kontertext. Gottlob bin ich nicht (mehr) Universitätsdozent, und schon gar nicht an einer amerikanischen Universität. Schlimm genug, dass ich «männlich, weiss, akademisch gebildet und durch Herkunft gesellschaftlich privilegiert» bin. Das bring ich nicht mehr weg.

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