Kommentar

kontertext: Am Beispiel der Baumnuss

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Eine wertvolle Ölsaat, einst allgegenwärtig in der Schweiz, wird jetzt aus Chile eingeführt. (Dorf-)Geschichten eines Niedergangs.

Gestern habe ich als Fährtensucher die Sortimente eines Grosshändlers durchstreift. Obwohl ich eine lange Einkaufsliste bei mir hatte, lagen am Ende nur Baumnüsse in meinem Korb. Schon seit Jahren geht das so: Gegen Ende Februar bekomme ich Lust auf diese wundersame Spende der Natur, auf ihren Geschmack und das Geräusch, das sie beim Aufknacken macht, auf die Hälften, in die sie sich teilen lässt, und auf das unregelmässig symmetrische Bild, wenn die embryonischen Hirne vor mir in ihren Schalenhälften liegen.

Vielleicht enthält die Baumnuss Substanzen, die mein Körper nach Wochen des Lichtmangels braucht. Ebenso denkbar, dass die Gründe für diese plötzlich aufflackernde Zuneigung in der Vergangenheit liegen. Die Bäume, von denen die Ölsaat fällt, waren damals dicht gestreut. Vor fast jedem Bauernhaus breitete einer seine Schwingen aus, die Blätter spendeten grosszügig Schatten, und ab Oktober fielen die ersten Früchte an – buchstäblich, denn auch ohne dass man etwas tat, kamen sie herab: geschenktes Ernteglück, die Windsbraut half mit. Nur auflesen musste man sie, und zur Stelle sein vor dem nächsten Regenguss, damit sie keine Feuchteschäden erlitten. Durch den Winter waren sie dann auf allen Wochenmärkten präsent.

Erzeugerstolz

Ich betrachte die Nüsse vom Grossverteiler. Auf dem kotzgelben Beutel ist als Herkunft Chile vermerkt. Ich habe nichts gegen dieses Land, könnte sogar sagen, ich liebte es, ohne es genau zu kennen, seine langgezogene Silhouette am äussersten Westrand des Kontinents, Bilder und Berichte aus der Atacamawüste… Aber warum Nüsse aus Chile, wenn es hierzulande so viele gibt? Sicher, aus Südamerika kommt die Chandler-Varietät, beliebt als ergiebige und milde Sorte. Doch die Ursachen für den Import sind ökonomisch, nicht kulinarisch bedingt. Chilenische Hände knacken, sortieren und verpacken günstiger als ihr Schweizer Pendant. Aus logistischen Gründen kommt die Ernte geschält nach Europa. Somit fehlt das Knackgeräusch und, vertraut von früher, das Zischeln der Schalen, wenn ich sie ins Feuer des Kanonenofens warf, wo sie rasch verglühten.

Baumnuss war nicht gleich Baumnuss auf jenen Wochenmärkten. Wer sie durchstreifte, sah eine grosse Variationsbreite: Kleine gab es, deren Aromatik intensiver, manchmal auch säuerlich war. Die schmeckten angeröstet am besten. Dann gab es die Edelsorten, deren Königsexemplare fast den Umfang einer Babyfaust erreichten. Sie machten auch als Dekor auf Gebäcken eine gute Figur. Grenobler nannten die Bauern sie, und in diesem Wort lag ein stiller Erzeugerstolz.

Ob gross oder klein, hell oder dunkel, alle lagerten sie in grossen Säcken neben Kartoffeln, Karotten und Kürbissen. Beim Kauf tauchte die Marktfrau eine Schaufel in das Nüssemeer, um die begehrte Zutat in die Tüte zu schöpfen – war das Soll erreicht, gab’s noch eine halbe Schippe drauf.

Lange nachdenken muss ich nicht: Ich bin fast sicher, dass meine Baumnussliebe nicht im Stoffwechsel, sondern in der Kindheit wurzelt. Erinnerungen sorgen dafür, dass in meinem Körper gegen Ende des Winters die Baumnusszeit anbricht. Ohne diesen Geschmack und die braunen Schalenhälften auf dem Tisch ist diese Jahreszeit noch immer ungeniessbar für mich. Und unweigerlich kommen Erinnerungen auf: vom Geruch des grünen Fruchtfleischs über der Schale, vom Duft im ganzen Haus, wenn die Kerne zum Trocknen auf der Ofenkunst lagen, und vom nächtlichen Rollgeräusch in den Schlackenböden, wenn einmal trotz aller Vorkehrungen eine Maus an die Nusskiste gekommen war.

Bald ist Mitte März. Vor zwei Wochen habe ich einen Wochenmarkt besucht. Nur an einem Stand gab es sie noch. Sie sahen ungesund aus, doch ich habe ein Kilo gekauft und mir vorgenommen, wiederzukommen, sollten sie schmecken. Zuhause erhärtete sich der Verdacht: Viele Schalen gaben den Blick auf einen schrumpligen Nusskadaver frei. Andere Kerne sahen senfgelb aus, waren angeschimmelt oder schmeckten bitter.

Wahrscheinlich leiden die Bäume unter den steigenden Temperaturen und am Trockenstress. Auch das menschliche Bauen und Siedeln setzt ihnen zu. Allein in meinem Herkunftsdorf könnte ich zwanzig Standorte nennen, wo einst ihre Saat reichlich herabkam. Mit dieser Fülle ist es vorbei. Wo die alten Gemäuer noch stehen, sind die Bäume Parkplätzen gewichen; wo Überbauungen die historische Bausubstanz verdrängten, hält Wohnraum ihre Standorte besetzt. Darüber hinaus fordern Strassen und Erschliessungen ihren Tribut, und wohl auch die Billigimporte aus Südamerika. Globalisierung sei Dank.

«Zu Beginn der 1950er-Jahre», hält das Organ des Schweizer Forstwirtschaftsschutzes fest, «verzeichnete die Schweiz einen Bestand von 500’000 Bäumen. Bis 2008 verringerte sich dieser kontinuierlich auf 130’000.» Zwanzig Jahre soll es von der Pflanzung bis zur ersten Vollernte dauern – fraglich, ob solche Fristen noch in eine heutige Middle-Ager-Biografie passen.

Duftnoten

Am Beispiel der Nuss – ihres schleichenden Rückzugs – wäre eine Siedlungsgeschichte meines Herkunftsdorfs nachzuzeichnen. Sie würde von Bodenversiegelung und eingedolten Bächen handeln, von Erbengemeinschaften, Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft, Fertigfabrikaten der Lebensmittelindustrie und neuen Ernährungsgewohnheiten. Man könnte sagen, der Nussbaum störe, obwohl sein Holz noch immer beliebt ist für Tische und Kredenzen – man könnte sagen, er sei heutigen Prosperitätskonzepten im Weg. Auf den Grundstücken der Immobilienspekulanten bedroht er die Ausnutzungsziffern, auf dem Feld behindert er das Zirkulieren der Mäh- und Erntemaschinen.

Ich hatte Gelegenheit, mit einer entfernten Nachbarin zu sprechen. Nach der Fällung ihres Exemplars sieht ihr Grundstück wie ein zersäbelter Körper aus. Ja, sie habe diesen Baum gemocht, sagte sie, aber mit den Jahren sei es ihr einfach zu viel geworden. Man werde nicht jünger. Das Laub habe sie gestört und der Blütenstaub. Dieser verklebe die Kittfugen ihrer neuen, dreifachverglasten Fenster, besonders bei feuchter Witterung. Doch einen Laubbläser wolle sie nicht anschaffen, der Lärm dieser Geräte sei entsetzlich. Viel Aufwand also für eine Nuss, mit der sie in der Küche nichts anzufangen wisse – sie backe ja nicht mehr, wegen des Klimas.

Ich habe wissend genickt und bemerkt, dass hinter dem Baumstumpf noch ein paar Haselnussstauden standen. Die Haselnuss hätte allen Grund, sich über ihre Abwesenheit in diesem Text zu beschweren, denn auch sie könnte für namhafte Verlustgeschichten herangezogen werden. Dreiunddreissig Säugetiere ernährt sie, und man weiss von zehn Vogelarten, die sich nur im Umkreis ihrer Standorte ansiedeln. Über solchen Bilanzen muss man erst gar nicht dem Tante-Emma-Laden, den Sechstagerennen von Oerlikon oder der Prüderie der 1950er Jahre nachtrauern, um in Nostalgie zu verfallen. Eine einfache altbäuerliche Baumfrucht genügt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).