Kommentar
Ist Betteln ein Beruf?
Betroffen sind in jüngster Zeit einige Schweizer Städte – vorab Basel und Genf. In Basel wurde Mitte Sommer das bestehende Bettelverbot im Rahmen einer Gesetzesrevision aufgehoben. Diese Massnahme wird jetzt für den massiven Anstieg von bettelnden Menschen aus Osteuropa, vorwiegend Roma aus Rumänien, verantwortlich gemacht. Der Zusammenhang ist zwar nicht von der Hand zu weisen, schuld daran könnten aber auch die europaweiten Beschränkungen gegen die Corona-Pandemie sein, die überall die Ärmsten am stärksten trifft. Wie weit jedoch Leute aus Rumänien besonders darunter leiden, ist schwer abschätzbar.
Tatsache ist, dass viele der Bettelnden per Auto, per Autocar oder gar mit dem Flugzeug hier anreisen, um Geld zu erbetteln. Sie nehmen dabei wenig Rücksicht auf die ansässige Bevölkerung, setzen sich vor Läden in der Fussgängerzone oder in Zentrumsnähe, übernachten in Parks oder in Hauseingängen von nachts unbelebten Geschäftsliegenschaften. Bei strenger Kälte liegen sie eingewickelt in Schlafsäcken auf Trottoirs und betteln auch auf diese Weise. Andere gehen in belebten Strassen oder auf Plätzen hin und her, halten die ausgestreckte Hand vor und insistieren oft hartnäckig und manchmal aggressiv. Dieser Zustand dauerte über den ganzen Winter an und führte – wenig verwunderlich – zu Protesten und heftigen Diskussionen. Ende Dezember beschloss der Basler Grosse Rat mit einer knappen Mehrheit, das Bettelverbot wieder einzuführen. Doch kurz danach beschied ein Urteil des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, dass ein generelles Bettelverbot für einzelne Individuen nicht rechtens sei, nach wie vor darf aber bandenmässiges Betteln verboten werden, was in Basel übrigens formal trotz der Aufhebung des Verbotes der Fall war. Weil aber eine neue gesetzliche Anpassung noch nicht in Sicht ist, blieb der Entscheid des Grossen Rates zur Wiedereinführung des Bettelverbotes bis jetzt wirkungslos.
Wie weit ist Betteln akzeptiert?
So weit die nüchternen Fakten. Es gibt allerdings einige grundsätzliche Fragen. Was heisst «Betteln»? Ist Betteln ein Menschenrecht? Völlig unbestritten dürfte sein, dass jemand, der in Not ist, andere um Hilfe bitten darf. Und diese Hilfe soll geleistet werden, wenn die Not besteht und Hilfe möglich ist; es gilt unabdingbar, wenn es um Bedrohung an Leib und Leben geht. Aber muss Betteln in jeder Form geduldet werden? Gibt es Sonderrechte für Bettlerinnen und Bettler? Diese Fragen machen deutlich, wie weit das Feld und wie vielschichtig das Dilemma der hier ansässigen Bevölkerung ist. Im normalen Alltag haben sich die Menschen bisher von ihrer Intuition leiten lassen. Wenn jemand um eine kurzfristige Hilfe zum Beispiel für eine Übernachtung in der Notschlafstelle bat, reagierten viele spontan und reichten ein kleineres oder grösseres Geldstück. Das war in Basel durchaus üblich, war auch nie verpönt oder gar Anlass zu polizeilichem Eingreifen – ganz egal ob ein Bettelverbot existierte oder nicht.
Mit der rasanten Zunahme von bettelnden Menschen hat sich das verändert. Man geht den Bettelnden demonstrativ aus dem Weg, geht scheinbar unberührt seines Wegs, beklagt sich abwertend und heftig, manchmal direkt, aber vor allem in den sozialen Medien. Ist die ansässige Bevölkerung plötzlich ohne Mitgefühl?
Irritation und Unbehagen
Viel eher ist sie irritiert und nimmt an, dass hier ein organisierter Missbrauch im Gang ist.
Dabei stellt sich eine andere Frage: Ist Betteln ein Beruf? Natürlich ist Betteln kein Beruf, sondern bleibt immer eine Notlösung, die Unbehagen erzeugt – ein allseitiges Dilemma. Es nimmt aber groteske Formen an, wenn sich Bettlerinnen oder Bettler selbst inszenieren, um Mitleid zu erregen zum Beispiel stundenlang in der Kälte auf den Knien liegen, das Gesicht verbergen oder die Hände ringen. Und es wird unerträglich, wenn man befürchten muss, dass das auf Anweisung von Gruppen, Clans oder auch nur Familienmitgliedern zum Zweck des Gelderwerbs erfolgt. Es ist besonders beunruhigend, wenn es sich dabei um verletzliche, alte Menschen oder gar Kinder und Jugendliche handelt. Man trifft dabei vorwiegend auf Frauen, wie zum Beispiel auf jene ganz junge Frau – noch beinahe ein Kind – die seit Wochen vor einem gut besuchten Tankstellenshop mit viel Publikumsverkehr in einen Schlafsack gehüllt vor dem Eingang des Ladens am Boden sitzt oder liegt; ihr umfangreiches Gepäck hat sie hinter den Auslagen vor dem Geschäft deponiert oder neben sich aufgeschichtet. Sie hat neugierige, freundliche Augen, manchmal aber verbirgt sie das Gesicht in den Händen oder schaut auf ihr Handy. Stundenlang bewegt sie sich kaum vom Fleck; manchmal bringt ihr eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter des Ladens einen heissen Tee, zwei bis drei Mal am Tag kommt jemand und sammelt des Geld in ihrer Bettelbüchse ein. Diese junge Frau ist gesundheitlich hoch gefährdet. Passanten bleiben oft entsetzt stehen, machen eine freundliche Geste oder stecken ihr eine Süssigkeit zu. Wirkliche Hilfe kann ihr niemand bieten.
Erschwerter sprachlicher Austausch
Warum ist das in einer Stadt wie Basel nicht möglich, müsste man sich fragen. Denn schliesslich gibt es ein gutes Netz von sozialen Diensten. Zum Beispiel die KESB, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, die für den Schutz von vulnerablen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen zuständig ist. Ihr Präsident, Patrick Fassbind, erklärt, dass diese Situationen ausserordentlich schwierig und komplex sind. Einerseits ist die Kommunikation mit den Bettelnden erschwert. Diese verstehen unsere Sprache nicht oder wollen sie nicht verstehen. Wenn man Rat und Hilfe anbieten will, muss man einen Dolmetscher mitbringen. Und auch in diesem Fall kommt man selten weiter. Die Bettler wollen keine Hilfe annehmen und damit ihre Identität preisgeben. Sie können auch nicht verstehen, weshalb vulnerable Menschen wie Kinder oder Jugendliche aus kindesschutzrechtlichen Gründen in Basel nicht betteln dürfen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Mittel der KESB sehr begrenzt sind. Konventionelle Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen können auf diese Gruppe von Bettlern nicht so einfach angewandt werden, selbst wenn die KESB bei bettelnden Minderjährigen einschreitet und bei der Polizei Unterstützung bekommt. Wirkliche Hilfe ist daher oft nicht möglich. Übrig bleibt der KESB in solchen Fällen, auf Information und Prävention zu setzen.
Das gilt auch für die Polizei, wie ihr Mediensprecher Martin Schütz erläutert: Die Polizei versucht ihre Aufgabe umsichtig wahrzunehmen, obwohl sie in dieser Corona-Zeit ohnehin stark belastet ist. Polizisten sprechen die Bettlerinnen und Bettler immer wieder an, weisen darauf hin, was hier nicht geduldet werden kann und hoffen, dass sich die Botschaft unter den Bettelnden verbreitet. Es ist allerdings schwierig festzustellen, ob es sich um organisiertes Betteln handelt. Es gibt weder im schweizerischen noch im kantonalen Strafrecht eine genaue Definition, was «bandenmässig» ist. Jedenfalls muss das für eine rechtlich gültige polizeiliche Massnahme immer individuell nachgewiesen werden.
Bahnt sich eine Lösung an?
Inzwischen scheint aber klar zu werden, dass sich auf politischer Ebene etwas bewegen muss.
Die SP, die seinerzeit – allerdings bereits vor der Corona-Krise – die Aufhebung des Bettelverbots angeregt und durchgesetzt hat, machte im Grossen Rat kürzlich einen zaghaften Vorstoss zur Schaffung von neuen gesetzlichen Regelungen. Allerdings sind diese Vorschläge mangelhaft. Es würde zentral darum gehen, den Umgang mit dem öffentlichen Raum im Interesse der Allgemeinheit klar zu definieren. Nutzungsrecht und Sorgfaltspflicht müssen für alle gleichermassen gelten. Es kann nicht sein, dass der Kanton den Läden und Restaurants für die Nutzung des Aussenbereichs eine Bewilligung erteilt und Auflagen macht oder den Verkauf von Waren oder Dienstleistungen im öffentlichen Raum an Bewilligungen und Gebühren knüpft und sogar den seit geraumer Zeit tolerierten Strassenmusikanten klare zeitliche Begrenzungen auferlegt, aber eingewanderte Bettlerinnen und Bettler von allen Regeln befreit. Es ist klar, dass das zu heftiger Empörung führt, nicht zuletzt unter jenen Migrantinnen und Migranten, die hier oft sehr unbeliebte Arbeit verrichten, und ihren Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft nachkommen. Das gilt nicht zuletzt auch für Sozialhilfeempfänger – darunter viele Asylbewerber, die in Strassen und Anlagen die immensen Abfallberge, die durch die Corona-Situation entstanden, entsorgen. Sie alle fühlen sich durch diese Ungleichbehandlung missachtet.
Da klingen wohlmeinende Aufrufe nach Mitleid und Toleranz eher hohl und realitätsfern. Es braucht klare gesetzliche Regeln, die auch Wegweisungen und Einreisesperren nicht ausschliessen. Und dazu gehören Interventionen von Bundesbern, die von den Heimatländern der Bettelnden die nötige Hilfe für ihre notleidenden Landsleute im eigenen Land einfordern. Zentral aber bleibt die Verteidigung des öffentlichen Raumes, der allen hier lebenden Menschen gehört und von allen denselben Respekt abverlangt. Sonst droht einer Stadt auf lange Sicht die «Verslumung» mit allen unerfreulichen Begleiterscheinungen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Ein langer Text, der aber am Schluss doch noch das Wesentliche erwähnt, Zitat « Es braucht klare gesetzliche Regeln, die auch Wegweisungen und Einreisesperren nicht ausschliessen.»
Ein erfreulich differenzierter Artikel zum Thema. Als Mit-Verfasser des Blogbeitrags (nicht Vorstoss!) muss ich aber widersprechen. Unsere Vorschläge sind die konkretesten bezüglich «Umgang mit dem öffentlichen Raum im Interesse der Allgemeinheit». Wir haben dazu sogar eine relativ umfangreiche rechtliche Expertise vor dem Hintergrund des EGMR-Urteils verlinkt. Ich bin überzeugt, dass unsere Vorschläge ein Teil der Lösung sein werden. Gute Ideen sind aber nach wie vor gefragt. Wir freuen uns über jeden konstruktiven Beitrag.
Ziemlich schwach, nur in diese Richtung zu schauen. Wie wäre es zB. wenn auch ohne Great Reset endlich das Bedingungslose Grundeinkommen eingeführt würde – weltweit. Und ein Bonus-System entwickelt würde für alle jene die sich verpflichten in relativ entvölkerten Landstrichen Selbstversorgung betreiben. Wir werden sowieso aufhören müssen die industrielle Landwirtschaft als ökotötend auslaufen zu lassen und vermehrt wieder persönlich für die Nahrung sorgen. Dazu braucht es Gesetzes-Anpassung. Ihr könnt ruhig schon mal anfangen. Wenn zB die Pestizid-Initiative angenommen wird, sollen die Grossbauern ihr Land Schrittweise abgeben und ihre Produktionsweise mit weniger Gewicht und weniger Petro-Energie betreiben lernen. Wenn die Lieferketten international zusammenbrechen, wird uns wenig anderes übrig bleiben, als im eigenen Garten, oder auf dem Balkon Gemüse zu ziehen – oder auch auswandern auf die Sinai-Halbinsel wo ein Begrünungsprojekt angedacht ist. Die Autarkie-Hauser in der Wüste von Texas, können auch multipliziert werden. Wer ein garantiertes Einkommen hat, mag sich sicher gerne in diese Richtung fortbilden ausserdem wäre dies auch ein Abenteuer mit der Natur. Ein Bettler könnte öfter auf seinem Instrument spielen und die Leute erfreuen, anstatt wehleidig Münzen zu erheischen. Man müsste niemandem mehr ein Bein amputieren, nur damit er als Bettler gelten darf.
In der Schweiz kriegt der Hinterste und Letzte das Nötigste zum Überleben. Hinter den Bettler*innen an der Front steht oft eine Abzocker-Organisation, welche die Bettler*innen chauffiert und abzockt. Je erfolgreicher die Bettelei ist, desto mehr werden neue Bettler*innen angezogen.
Also ich erkenne Bettler schon als Beruf an. Fundraiser oder Crowdfunding nennt sich das heute. Jede Sammelaktion ob Privat oder von NGO’s, US-Wahlkampf und auch die restlichen politischen Aktionen, die Geld einspielen sollen, zähle ich dazu. Da sind einige ganz gut dabei rausgekommen.
Ich finde, man sollte an Fokus auf die Nutzung des öffentlichen Raums richten. Dieser muss für alle nutzbar sein und darf nicht von Sondergruppen (neben Betteleinheiten z. B. der Drogenhandel) unter Beschlag genommen werden. Dies führt zu Verdrängungsprozessen und manchmal zu hygienischen Problemen, was zu unterbinden ist. Das Zürich der späten 1980er und frühen 1990er-Jahren zeigte, wohin das führt (unter anderem auch zu Schadenersatzklagen). Falls Kirchen, Synagogen, Tempel oder Moscheen auf ihren Grundstücken das Betteln erlauben wollen, dann sollen ihnen das gewährt sein. Man kann die betreffenden Gemeinschaften dann für mögliche Haftungsfälle zur Verantwortung ziehen.
Es gibt zwei Arten von Betteln: Leute aus Osteuropa die hier betteln. Daneben gab es die Feldschützen die für das jährliche Sauschiessen bei Firmen betteln gingen, damit sie ihnen für das Sauschiessen Geld geben. Täglich bekommen wir Bettelbriefe . Auch die Stiftung Pfarrer Sieber muss Bettelbriefe verschicken, damit sie den Pfusbus im Albisgütli im Winter finanzieren kann.
Nicht nur in Basel wird gebettelt, auch in Zürich, weil es auch hier arme Leute gibt. Niemand musste im Winter unfreiwillig draussen schlafen, sagt die Stadt Zürich. Doch kürzlich traf ich vor der Sihlpost in Zürich einen Mann der obdachlos ist. Damit er in der Notschlafstelle Rosengartenstrasse schlafen kann muss er fünf Franken zahlen. Tagsüber kann er an der Rosengartenstrasse nicht wohnen, wie wir in unserer Wohnung. Wie dieser Mann sagte, hat er auch schon unter der Brücke bei der Sihlpost geschlafen. Diese Notschlafstelle der «Sozialen Einrichtungen und Betriebe Geschäftsbereich Wohnen und Obdach» der Stadt Zürich an der Rosengartenstrasse ist vom März bis im November von 21 Uhr bis morgens um 10 geöffnet, vom Dezember bis zum Februar von 20 Uhr bis um 10 Uhr. Einlass in diese Notunterkunft bekommt man bis 0.30.
Wie wäre es, wenn eine der reichsten Städte der Welt, Zürich dem Beispiel Finnlands folgen würde und für jeden Obdachlosen ein Zimmer beschaffen würde? Das würde sicher weniger kosten als der Umbau des Kongresshauses, das Hardturm Fussballstadion, das Eishockeystadion in Zürich-Altstetten
Man kann sich bei diesem Problem natürlich auf einen legalistisch-erbsenzählerischen Standpunkt berufen und :
– Roma die betteln, gegen andere Gruppen denen es beschissen geht ausspielen.
– An ein gesundes «Pfui-aber-auch» Gefühl appellieren.
– Bandenmässiges Vorgehen unterstellen.
– Mitleid und Toleranz als hohl und realitätsfern verrufen.
– Bettelnde Roma mit verkniffenem Gesicht krampfhaft ignorieren.
Es geht doch auch anders.
– Verstehen, dass Roma die betteln in ihrer Heimat einem gnadenlosen Rassismus ausgesetzt sind. Ohne Chance auf Bildung, Ausbildung oder gar regelmässiger Arbeit.
– Niemand freiwillig (oder aus purer Faulheit) einer solch demütigenden Beschäftigung nachgeht. Monatelang fern der Familie und den eigenen Kinder. Nächtelang weinend.
– Dass jeder Bettler Ihnen (ja Ihnen lieber Leser!) eine Möglichkeit schenkt, direktes Mitgefühl von Mensch zu Mensch auszudrücken.
Schauen Sie diesen Leuten in die Augen , geben Sie einen grosszügigen Obolus und bedanken Sie sich bei ihnen.
«Tatsache ist, dass viele der Bettelnden per Auto, per Autocar oder gar mit dem Flugzeug hier anreisen, um Geld zu erbetteln.»
Dies ist wahrscheinlich keine Tatsache, oder zumindest eine irreführend formulierte. Die Bettlerinnen und Bettler reisen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht selbständig an, sondern werden von Hintermännern hierhergebracht.
Und wenn zwei bis dreimal täglich jemand vorbeikommt, um das Geld einzusammeln, dann zeigt das ja auch offensichtlich, dass hier kein selbständiges Betteln stattfindet, sondern bandenmässig organisiertes. Warum setzt die Polizei nicht bei diesen Geldkurieren an? Das sind sicher nicht die Chefs der Banden, aber schon einmal eine Hierarchiestufe höher als die Bettler selbst. Wenn man dann noch herausfindet, wo sie das Geld hinbringen, ist man ein weiteres Schrittchen näher am Problem dran.