Kommentar
Unterdrücken der russischen Sprache heisst neu «Bildungsreform»
In Estland gab es seit 30 Jahren getrennte Schulen und Kitas für Angehörige der estnischen und der russischen Sprache. Rund 13 Prozent der Schüler und Schülerinnen in Estland besuchen eine russischsprachige Schule. Ab dem Schuljahr 2024/2025 ist Schluss damit. Die russischsprachigen Schulen werden abgeschafft, so hat es das Parlament beschlossen. Es soll nur noch estnisch gesprochen werden. Die Universitäten nehmen auch keine Russinnen und Russen mehr auf. Ein Viertel der estnischen Bevölkerung gehört zur russischen Minderheit.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verschärfen sich die Spannungen zwischen der russischsprachigen Bevölkerung und der Regierung. Der Ukraine-Krieg wirkt als Brandbeschleuniger, der einen Konflikt anfacht, der seit vielen Jahren schwelte. Dabei ging es oft um den Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. So kam es immer wieder zu heftigen Protesten, wenn die Regierung sowjetische Denkmäler abbaute oder an unbelebten Orten entsorgen wollte.
Der estnische Aussenminister Margus Tsahkna sagte am 24. Mai in einem Interview des Zürcher Tages-Anzeigers: «Nun stehen wir vor der grössten Bildungsreform. Bis jetzt wurde in den Schulen Estnisch und Russisch gesprochen. Ab September ist Estnisch die alleinige Unterrichtssprache.»
«Russisch ist die Sprache der ehemaligen Besatzer»
Der Tages-Anzeiger-Journalist gibt daraufhin zu bedenken, die Schweiz habe vier Sprachregionen, die friedlich zusammenleben, und fragt, ob dieser Umgang mit einem Viertel der estnischen Bevölkerung nicht «Spannungen» hervorrufen könne. Der Aussenminister sieht es anders:
«Der Integrationsprozess hat sich beschleunigt wegen der russischen Aggression gegen die Ukraine (…) Wir leben alle zusammen, wir sind ein Volk. Russisch ist die Sprache der ehemaligen Besatzer.»
Mehr als 20’000 Esten marschierten in der Waffen-SS
Lapidare Sätze, denen es aber in dreierlei Hinsicht an einer differenzierten Erfassung der Wirklichkeit mangelt. Zum einen ist, wer einem Viertel der Bürgerinnen und Bürger den Gebrauch ihrer Sprache vom Kindergarten bis zur Universität verbietet und diese Repression als «Integration» oder «Bildungsreform» bezeichnet, ein Sprach-Jongleur, der die Realität auf den Kopf stellt. Die russischsprachige Bevölkerung Estlands wird bestraft für einen Krieg in der Ukraine, den sie nicht verschuldet hat.
Zum andern ist es zwar zutreffend, dass Russisch die Sprache ehemaliger Besatzungsmächte ist, aber in der Geschichte Estlands wechselten sich seit der Kolonialherrschaft des deutschen Ritterordens (etwa 13. bis 15. Jahrhundert) viele «Besatzungsmächte» ab, darunter Dänen, Schweden, Polen und Russen. Estland wurde unter Zar Peter dem Grossen zu Beginn des 18. Jahrhunderts russisches Herrschaftsgebiet und ist es zwei Jahrhunderte lang geblieben, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, wiewohl viele Deutsch-Balten ihren Grossgrundbesitz in Estland auch in dieser Zeit behielten.
Folglich war nicht nur Russisch, sondern auch Deutsch in Estland eine «Sprache der Besatzer». Doch dies lässt der Aussenminister unerwähnt, wohl wissend, dass es eine Zeit gab, in der viele Esten die Deutschen nicht als Besatzer, sondern als Befreier begrüssten. Mehr als zwanzigtausend Esten marschierten ab 1941 in den Reihen der Waffen-SS und waren folglich nicht unbeteiligt an dem Projekt, Estland «judenfrei» zu machen. Der Umgang mit den Widersprüchen der jüngeren Vergangenheit oder vielmehr der Versuch, historische Fakten zu tabuisieren, ist sicher eine der Wurzeln des Konfliktes zwischen dem offiziellen Estland und seiner russischsprachigen Minderheit.
«Wir sind ein Volk» ist ein Mythos
Drittens mag die Versicherung «Wir sind ein Volk» zwar stark tönen, ist aber fragwürdig in der Bedeutung, die der estnische Aussenminister ihr gibt. In Wirklichkeit hat es in den letzten zwei oder drei Jahrhunderten wohl nie so etwas gegeben wie «ein Volk» und «eine Nation», wenn man darunter eine kulturell homogene Gemeinschaft versteht, die von einer einzigen Ethnie abstammt und eine einzige Sprache spricht.
Die kollektive Identität, die da vorausgesetzt wird, ist Ergebnis einer Mythenbildung, auf welche die im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalstaaten rekurrierten, um ihren Zusammenhalt zu festigen und den Machtanspruch über ihre Territorien zu begründen. Territorien, deren Grenzen oft als Folge von Kriegen und politischen Deals entstanden waren und die verschiedensten ethnischen Gruppen willkürlich trennten oder zu einer «Nation» zusammenfügten. Wenn die Macht nicht mehr «von Gottes Gnade», sondern «vom Willen des Volkes» ausgehen sollte, musste man schon genauer abgrenzen, wer alles zum Volk dazugehörte und wer nicht. Der Nationalstaat und seine territoriale und demographische Erfassung entstanden somit aus einer administrativen Notwendigkeit.
Die Konstruktion einer gemeinsamen Herkunft und Nationalsprache sollte der Nation Legitimität verleihen, war aber in den meisten Fällen eine problematische Fiktion. Denn in ihren extremen Auswüchsen landete diese Ideologie am Ende in der Wahnvorstellung, es gebe «Blutsbande», die «das Volk» von anderen «Rassen» abgrenzten, welche aus dem «Volkskörper» zu entfernen seien.
Wer unbeholfen spricht, wird weniger anerkannt
Der Journalist Stefano di Lorenzo, der in Mailand aufwuchs, dann Deutsch und andere Sprachen lernte, beschreibt eindrücklich seine eigene Erfahrung mit der Bedeutung der Sprache im sozialen Leben: «Wenn man Fehler beim Sprechen macht, wird man nicht wirklich ernst genommen (…) Leider ist es so, dass die Art und Weise, wie wir sprechen, zu den ersten Dingen gehört, die eine Person von uns wahrnimmt. Aus diesem Grund steigt das Risiko, als «dumm» eingestuft zu werden, wenn wir uns nicht wirklich ganz korrekt ausdrücken. Für Muttersprachler wirken Nicht-Muttersprachler oft wie Menschen mit intellektuellen Schwierigkeiten.»
Man darf annehmen, dass die Sprache, die ein Mensch seit seiner Kindheit gelernt hat, der wichtigste Faktor für seine Identität, kulturelle Geborgenheit und soziale Anerkennung ist. Deshalb begeht ein Staat, der seinen grossen ethnischen Minderheiten verbietet, sich im sozialen und politischen Leben ihrer Muttersprache zu bedienen, einen Akt der schwersten Unterdrückung. Er beraubt sie weitgehend der Möglichkeit einer effizienten demokratischen Partizipation, denn wer sich nicht korrekt ausdrücken kann, wird, wie di Lorenzo schreibt, nicht ernst genommen. Die Schweiz ist ein Beispiel dafür, dass nicht das Verbot der Minderheitensprachen, sondern eine gelebte Vielfalt der Landessprachen der richtige Weg ist. Es bereichert die Demokratie, wenn die verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen ihre Weltsicht in den Prozess der politischen Willensbildung einbringen.
Unterdrückung von Sprache hat schon Länder zerrissen
Der Regierung in Tallin scheint entgangen zu sein, welchen Sprengstoff ihre «Bildungsreform» enthält. Die Unterdrückung der Sprache einer starken ethnischen Minderheit hat im Lauf der Geschichte zahlreiche Länder innerlich zerrissen und zu Bürgerkriegen und Abspaltungen geführt.
1947 spaltete sich Pakistan von Indien ab, weil die muslimische Minderheit die Hindi-Sprache und Hindu-Kultur nicht akzeptierte. Und in Pakistan selbst endete der Versuch, Urdu als einzige Nationalsprache durchzusetzen, 1971 mit der Abspaltung von Bangladesh. Man frage Basken und Katalanen, wie sie die Zeit der Franco-Diktatur (1939 – 1975) erlebten, als ihre Sprachen im gesamten öffentlichen Bereich verboten waren. Die Demütigungen jener Zeit verursachen politische Folgeschäden bis heute.
Das Beispiel der Ukraine
In der Ukraine beschloss das Parlament in Kiew einen Tag nach dem Maidan-Umsturz, das Gesetz über Regionalsprachen ausser Kraft zu setzen. Dieses Gesetz räumte dem Russischen in den Gebieten, in denen mehr als zehn Prozent der Einwohner Russisch als Muttersprache angaben, den Status einer zweiten Amtssprache ein. Der Rada-Beschluss wurde zwar zunächst vom Verfassungsgericht gestoppt, aber er war für den russischsprachigen Osten des Landes das Alarmsignal, das zeigte, wohin die Reise ging. Die Unterdrückung der russischen Sprache war einer der Faktoren, die zur Sezession der Krim und dem Aufstand im Donbass führten.
Die Regierung in Kiew hat am Ende Nägel mit Köpfen gemacht. Im Mai 2019 wurde das Gesetz «über die Gewährleistung der Funktion der ukrainischen Sprache als Staatssprache» verabschiedet. Mit dem Gesetz werden die Bürger gezwungen, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nur noch die ukrainische Sprache zu verwenden, also auf allen Ämtern der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, in den Medien, in Freizeit- und Unterhaltungsveranstaltungen, im Internet und so weiter.
Sprache als Waffe
Stefano di Lorenzo schliesst seinen oben zitierten Artikel mit der Bemerkung, er habe in der Ukraine der Selensky-Regierung oft gehört, dass die Sprache eine Waffe sei. Das Ukrainische also eine Waffe gegen eine vermeintliche Jahrhunderte lange russische «Okkupation». Di Lorenzo fügt hinzu, selbstverständlich könne Sprache eine Waffe sein, aber auch eine Waffe, um einen Teil von sich selbst zu amputieren oder Suizid zu begehen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Viele Esten marschierten für Nazi-Deutschland. Ihre Nachkommen vergessen heute, dass es unter einem siegreichen Hitler kein Estland, ja nicht einmal ein abhängiges Protektorat gegeben hätte. Die Esten wären später, wie vorher die Slawen, genauso dem Rassenwahn und dem Landhunger der Nazis zum Opfer gefallen. Der einseitige Hass auf Russen negiert einen Teil der Geschichte und ist eine Folge der erfolgreichen US-Propaganda. Esten kämpften auch in der Roten Armee und als Partisanen. Esten waren auch Kommunisten. Estland blieb zwar unterdrückt, wenigstens aber sprachlich und territorial als Estnische SSR in der UdSSR erhalten und bekam gemeinsam mit Litauen und Lettland überproportional viele Ressourcen aus der Zentralverwaltungswirtschaft. Das gleiche gilt für die Ukraine, die am meisten von der Sowjet-Industrialisierung profitierte. Auch hier waren weder die ukrainische Kultur noch die Sprache verboten und unterdrückt.
Helmut Scheben’s Optik ist nachvollziehbar und es zeigt sich einmal mehr, dass der homo sapiens unfähig ist zu einem 360-Grad-Denken.
Estland hat offenbar nichts aus dem russischen Einmarsch im Donbass gelernt, sondern begeht genau dieselben Fehler wie das ukrainische Regime. Das kann als Provokation aufgefasst werden, denn die Russophonen werden sich die neuen Bestimmungen bestimmt nicht gefallen lassen.
Shlomo Sand beschreibt in seinem Buch «Wie das jüdische Volk erfunden wurde» anschaulich am Beispiel des Zionismus diese Erschaffung einer «nationalen Identität» im 19. Jahrhundert.
Die Esten und Westukrainer sind da etwas später dran.